Die Migration neu denken lernen (Teil 2) 

Die heutige Migrationspolitik führt uns direkt in eine Sackgasse. Wie wir im ersten Teil unserer Ausführungen gezeigt haben, brauchen wir – gerade auch aus christlicher Sicht – Ansätze, welche die Migration umfassend angehen: systemische Lösungswege, die mittelfristig zu einem Kreislauf der Entwicklung führen.

(Lesezeit: 27 Minuten)

Statt die einzelnen Aspekte der Migration gegeneinander auszuspielen, sollten wir lernen, sie zueinander in Beziehung zu bringen. Erst dann können wir erkennen, wo und wie wir Hand anlegen sollten. Zu dieser vernetzten Auffassung von Migration gehört die Bereitschaft, einseitige Vorstellungen aufzugeben und statt auf rasche Ergebnisse auf mittelfristige Entwicklungen zu setzen.

Im ersten Teil unserer Ausführungen1 haben wir die ersten drei Eckpunkte beleuchtet, die mit einbezogen werden müssen:

1) Wir sind alle Migranten

2) Wir sind Teil der kolonialistischen Ausbeutung

3) Wir brauchen Migration

Im vorliegenden zweiten Teil sollen nun die vier ergänzenden Eckpunkte dieses Migrations-Entwicklungsprozesses angesprochen werden. Dies vor allem aus Sicht der «entwickelten» Welt, besonders auch im Blick auf die Schweiz – und mit den folgenden Thesen:

4) Migration muss gesteuert werden

5) Migration braucht Integration

6) Unsere Welt braucht werteorientierte Entwicklungen

7) Wir müssen lernen, die Welt als Dorf zu sehen.

Der erwünschte Migrations-Entwicklungsprozess kann nur dann in Gang kommen, wenn diese sieben Aspekte zusammenspielen können.

(Bild: Okan Caliskan auf Pixabay)

These 4: Migration muss gesteuert werden

In einer idealen Welt könnten wir alle Migranten dieser Welt zu uns nach Hause einladen. In Wirklichkeit ist dies nicht möglich und auch nicht sinnvoll. Deshalb ist es berechtigt, dass wir versuchen, «Migrationsströme» zu steuern und zu kontrollieren. Dies im Bewusstsein, dass wir bei diesen Steuerprozessen nicht von Naturereignissen sprechen, sondern von Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – auf der Flucht sind.

Unsere Debatte über die Steuerung der Migration wird leider von vielen Mythen geprägt. Dazu gehört der Mythos, dass «Flüchtlinge immer einen Weg finden» und Flüchtlingsströme somit gar nicht steuerbar sind. Dies sieht der Migrationsforscher Gerald Kraus in seinem Buch «Welche Grenzen brauchen wir» anders. So seien Millionen syrischer Flüchtlinge vor dem Bürgerkrieg in die Türkei oder nach Jordanien geflohen, aber so gut wie keine nach Israel, erwähnt er als Beispiel  Dies aus dem einzigen Grund, weil Israel Soldaten an die Grenzen geschickt habe. Geschlossene oder überwachte Grenzen haben also durchaus eine Wirkung. Die Frage laute also nicht, ob wir Migration stoppen können, sondern: «Wie viel Härte setzen wir ein, um eine abschreckende Wirkung zu erzielen? Schaffen wir es, die illegale Migration zu kontrollieren, ohne die Genfer Flüchtlingskonvention zu verletzen? Oder nehmen wir deren faktische Abschaffung in Kauf2

2018 prophezeite der ungarische Regierungschef Viktor Orban, dass bis 2020 jährlich 30 Millionen Menschen aus Afrika nach Europa fliehen werden, also 41'000 pro Tag. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte und der jüngsten Wochen3 haben gezeigt, dass je nach Weltlage die Flüchtlingsströme durchaus schwanken können, solche Befürchtungen aber massiv übertrieben sind. «Zwischen 1999 und 2019 kamen zwar in vier Ausnahmejahren, nämlich von 2014 bis 2017, im Durchschnitt etwa 150'000 Menschen aus Afrika über das Mittelmeer nach Europa. In allen anderen Jahren seit 1999 lag die Zahl durchschnittlich nur bei rund 40'000.» Laut Kraus ist dieses Ausmass der irregulären Migration aus Afrika angesichts von rund 450 Millionen EU-Einwohnern «gering». In Gallup-Umfragen hätten zwar bis zu 30% aller Afrikanerinnen und Afrikaner den Wunsch geäussert, in ein anderes Land zu ziehen. «Tatsächlich wanderten im jeweiligen Zeitraum nur 0,12 Prozent der afrikanischen Gesamtbevölkerung pro Jahr aus – und nur die allerwenigsten davon gelangten nach Europa».

Der Migrationsexperte Maximilian Pichl weist darauf hin, dass der grösste Teil der weltweit über 100 Millionen Menschen auf der Flucht in der Nähe ihrer Heimatländer bleiben oder als Binnenflüchtlinge in andere Landesteile vertrieben werden. Viele hoffen auf eine Rückkehr. «Es ist ein Irrtum zu glauben, Europa sei für alle der gelobte Kontinent4

Ein weiterer Mythos ist, dass es den afrikanischen Migranten zu Hause eigentlich gar nicht so schlecht gehe. Sie gehörten zur Mittelschicht und seien deshalb nicht wirklich arm. Knaus verweist auf den Fehler dieser Argumentation: «Weil zur Bestimmung, ob jemand zur Mittelschicht zählt, der Medianwert des jeweiligen Landes oder ein globaler Medianwert herangezogen wird, reicht in Entwicklungs- und Schwellenländern schon ein äusserst geringes Einkommen, um statistisch zur Mittelschicht zu gehören. An der Armut der jeweiligen Migranten ändert dies nichts.»

Auch die Diskussion, ob Länder bei der Zuteilung von Migranten systematisch benachteiligt würden – etwa Italien –, hat mythische Züge. Im Mai 2015 hat die Europäische Kommission errechnet, welches Land zu diesem Zeitpunkt wie viele Neuankömmlinge aufnehmen müsste – gestützt auf die Bevölkerungszahl und die Wirtschaftskraft. Demnach «müsste Italien 12 Prozent aller Asylanträge bearbeiten, die in der EU gestellt werden, während etwa auf Schweden 3 Prozent entfielen». Im Zeitraum zwischen 2009 und 2018 lag Italien aber in acht von zehn Jahren unter der Quote von 12 Prozent. «Hätte es einen 'gerechten Verteilschlüssel' gegeben, wäre Italien also verpflichtet gewesen, nicht weniger, sondern mehr Flüchtlinge aufzunehmen.» Die aktuelle Krise auf Lampedusa zeigt, dass Italien die kurzfristigen Herausforderungen nicht alleine bewältigen kann. Da braucht es europäische Hilfe. Trotzdem: «Es kann doch nicht sein, dass dieses grosse und reiche Land, die drittstärkste Wirtschaftsnation der EU, ... nicht in der Lage sein soll, einige Hunderttausend Migranten im Jahr aufzunehmen, menschenwürdig zu behandeln und im Land zu integrieren. Ein Land wohlgemerkt, das wie kein anderes in Europa in einer demografischen Krise ist und in wenigen Jahren um Millionen Einwohner und Arbeitskräfte ärmer sein wird»5, kommentiert der Bund-Journalist Marc Beise.

Wie sieht es bei uns in der Schweiz aus? Die Zahl der Asylgesuche ist im Halbjahr 2023 angestiegen. «Bis Ende Juni waren es mit gut 12'188 Gesuchen 43 Prozent mehr als im ersten Halbjahr 2022. Dazu kommen fast 21'500 Personen, die im ersten Halbjahr illegal in die Schweiz kamen. Die meisten reisen von Italien via Südgrenze in den Kanton Tessin ein6. Wieviele Menschen die Schweiz aufnehmen müsste, ist eine offene Frage.

Statt einem geordneten Vorgehen gibt es im Bereich der EU ein grosses Durcheinander. Dabei werden die Grundwerte und das Völkerrecht, zu denen sich die einzelnen Staaten im Prinzip bekennen, immer wieder verletzt. «Flüchtlinge werden an den Grenzen zurückgestossen, ohne dass sie ein Asylgesuch stellen können, überfüllte Boote zurück auf hohe See gedrängt», beklagt die deutsche Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan7. Dabei führe der Wille, als EU gemeinsame Beschlüsse zu fassen, dazu, dass man den kleinsten gemeinsamen Nenner – etwa mit Polen und Ungarn – suche. «Die Gemeinsamkeit erschöpft sich im teuren Schutz der Aussengrenzen und der Abwehr von Flüchtlingen.» Schwan plädiert dafür, dass ähnlich wie beim Euro oder beim Schengen-Abkommen die Willigen vorangehen und zeigen, «dass Einwanderung nicht nur gelingen kann, sondern auch im Interesse vieler Gemeinden liegt». Schwan möchte, dass die Gemeinden bei der Migration eine Schlüsselrolle spielen, weil sie viel näher an den Integrationsfragen als die nationalen Regierungen seien, während es in der Politik oft um reinen Machterhalt gehe. Ein europäischer Fonds könnte Gemeinden, die Flüchtlinge aufnehmen und integrieren wollen, direkt finanzieren – im Einverständnis mit den betroffenen Staaten. Besonders in ländlichen Gebieten würden die Einwohnerzahlen so stark sinken, dass letztlich die Versorgung und die Infrastruktur gefährdet seien. Trotzdem: Rückführungen seien nicht ganz zu vermeiden. Dabei dürfe man nicht vergessen, dass Rückführungen für die betroffenen Menschen oft mit einer Demütigung verbunden seien. «Sie wurden von ihrer Familie, manchmal vom ganzen Dorf nach Europa geschickt und kommen dann mit leeren Händen zurück.» Deshalb brauche es Rückkehrhilfen, vielleicht auch finanzielle Anreize, damit Menschen zurückkehren.

Mit Aufnahmezentren an den EU-Aussengrenzen und Asylschnellverfahren, wie sie im EU-Migrationspakt vorgesehen sind, lassen sich laut dem Migrationsexperten Maximilian Pichl die Herausforderungen aber nicht lösen. An den Aussengrenzen würden dadurch die Rechte und Pflichten, auf die sich die EU im Umgang mit Flüchtlingen eigentlich geeinigt hat, «systematisch missachtet». Es komme zu völkerrechtswidrigen Pushbacks, «bei denen Menschen in Staaten zurückgedrängt werden, die nicht sicher sind». Und die Menschen würden «keinen Zugang zu einem richtigen Asylverfahren» bekommen. Zudem hätten diese Massnahmen kaum eine abschreckende Wirkung. «Die Menschen, die sich heutzutage auf den Weg über das Mittelmeer machen, nehmen es in Kauf, dabei möglicherweise zu ertrinken. Warum sollte sie ein mehrmonatiger Aufenthalt in Haftanstalten abhalten?»

Seit Kurzem gilt die Schweiz – zumindest in Deutschland – als gutes Beispiel. Sie setzt seit dem vergangenen Herbst gemeinsame deutsch-schweizerische Patrouillen ein. Im ersten Halbjahr 2023 kam es laut Bundespolizei an der Grenze zwischen der Schweiz und Deutschland zu 4800 Zurückweisungen von illegal Eingereisten, was wirkungsvoller sei als Grenzkontrollen an den offiziellen Grenzübergängen8. Letzteres kann zu langen Stauphasen führen.

Bei der Aufnahme von Flüchtlingen stellt sich so oder so die Frage, wer genau denn welchen Status erhalten solle. Als Beispiel: Im Blick auf ihre prekäre Situation zuhause werden Afghaninnen in der Schweiz in der Regel nicht nur vorläufig aufgenommen, sondern als Flüchtlinge anerkannt. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat im vergangenen Sommer die Praxis angepasst, weil es zum Schluss gekommen ist, «dass Frauen aus Afghanistan die Asylkriterien erfüllen»9. Ist das nun eine Ungleichbehandlung mit Frauen aus anderen Staaten – etwa aus dem Iran? Die Mitte-Nationalrätin Marianne Binder gibt dazu auf der Plattform X Folgendes zu bedenken: «Die Situation der Frauen in Afghanistan ist euch aber schon bewusst, oder? Es kämen 'zu viele und die Falschen', sagt ihr immer. Welche sind denn eigentlich noch die Richtigen?»

Die Schweiz kennt derzeit folgende Varianten im Aufenthaltsstatus: Asylsuchende (Ausweis N), vorläufig aufgenommene Ausländer (Ausweis F), anerkannter Flüchtling ohne Asylgewährung (Ausweis F), anerkannter Flüchtling mit Asylgewährung (Ausweis B bzw. C), Schutzbedürftige (Ausweis S)10 und – Sans-Papiers.

Wer nach der Kontrolle wie eingestuft wird, bleibt im Detail eine schwierige Frage. Und die mit der Beantwortung dieser Frage Betreuten sind nicht zu beneiden. Die Kontrolle an sich aber ist wichtig. Illegal Eingereiste stehen in Gefahr, dass sie missbraucht werden – als billige Arbeitskräfte oder für Schlimmeres. Deshalb sind Steuerung und Kontrolle gut, solange sie verbunden sind mit der humanitären Tradition der Schweiz. 

 

These 5: Migration braucht Integration

Kürzlich haben wir rasch und unkompliziert Flüchtlinge aus der Ukraine in die Schweiz aufgenommen. In der Schweiz können wir also Migration!

Der Historiker und Philosoph Filippo Grandi ist Chef der UNO-Flüchtlingshilfe. Auch er bringt unsere Reaktion auf den Ukraine-Krieg als gutes Beispiel. Sie beweise, «wie effizient es sein kann, wenn Flüchtlinge sich frei bewegen können». Das sei viel effizienter, als wenn die einzelnen Länder sie von Grenze zu Grenze schicken würden. Man könne nicht die Ukrainer als Flüchtlinge bezeichnen «und die anderen nicht».

Walter Leimgruber, Chef der Schweizer Migrationskommission, fordert insbesondere Lösungen für minderjährige Flüchtlinge (UMAs). Sonst würden wir uns – wie heute bei den Verdingkindern – später für unsern Umgang mit Kindern im Asylbereich entschuldigen. Er schlägt vor, dass wir verletzliche Menschen direkt aus den Flüchtlingscamps aufnehmen, mit sogenannten Resettlements. Es gelte zudem, das humanitäre Visum stärker zu nutzen und das Botschaftsasyl wieder einzuführen. So könnten Menschen im Ursprungsland oder einem Nachbarland einen Visumsantrag stellen, ohne eine gefährliche Reise machen zu müssen. Wir sollten betroffenen Ländern Angebote machen, um Arbeitskräfte und Auszubildende aufzunehmen, «die wir ja dringend benötigen»11. Insbesondere für UMAs brauche es eine klare Ausbildungs- und Beschäftigungsstruktur. Sie seien in der Regel wissbegierig und lernten sehr schnell. «Während die Asylverfahren noch laufen, braucht es Schule, Beschäftigungsprogramme, aber auch vielfältige Kontakte mit der Gesellschaft, in Vereinen etwa. Danach müssen sie ohne lange Unterbrüche in die Ausbildung.»

Die vorläufige Aufnahme ist laut Leimgruber ein überholtes Konzept. Sie verlangt, dass jemand beweisen muss, dass er oder sie persönlich gefährdet ist. «Wenn in Syrien den Leuten die Bomben auf den Kopf fallen, können sie kaum beweisen, dass die Bombe genau ihnen gegolten hat. Sie sind aber dennoch gefährdet.» Leimgruber plädiert für einen Schutzstatus, wie er mit den Ukrainern erprobt wird. Er ist zeitlich begrenzt, sorgt aber dafür, «dass die Regeln definiert sind und die Menschen möglichst schnell auf eigenen Beinen stehen können – auch wenn sie nach einigen Jahren wieder zurückkehren. Dann haben sie hier etwas gelernt, das sie anderswo brauchen können.»

Ein weiteres Kapitel einer verfehlten Asylpolitik hat kürzlich der Ständerat geschrieben. Unser Kolumnist Daniel Winkler beschreibt es in einem Gastbeitrag für die Zeitung «Der Bund»12. Er fragt gleich zu Beginn seines Beitrages: «Können Sie sich vorstellen, dass in der Schweiz Menschen unter widrigsten Bedingungen leben müssen – behördlich verordnet? Dass ihnen für die Lebenskosten zu wenig Geld für ein menschenwürdiges Dasein zur Verfügung gestellt wird – gleichzeitig dürfen sie aber nicht arbeiten?» Gemeint sind Menschen, die seit Jahren in Rückkehrzentren leben. Mit einer einmaligen Regularisierung wäre jenen, die ihre Asylanträge vor Februar 2019 eingereicht haben, eine Erwerbstätigkeit erlaubt worden. Die entsprechende Motion der EVP wurde vom Nationalrat noch angenommen, der Ständerat lehnte dieses humanitäre und auch praktisch sinnvolle Vorgehen Mitte September ab! Die grösste Gruppe dieser 2500 abgewiesenen Asylsuchenden stammt aus Eritrea. Dazu kommen Menschen aus Äthiopien, dem Irak, dem Iran und Tibet (China). Sie beziehen Langzeit-Nothilfe, weil sie nach altem Asylrecht seit Jahren auf einen Asylentscheid warten müssen.

Warum wir bei der Integration noch viel Potenzial haben, zeigt auch eine kürzliche SRF-Dokumentarsendung. Sie illustriert, wie trotz Fachkräftemangel hochqualifizierte Migrantinnen und Migranten in der Schweiz enorme Hürden zu überwinden haben, um in ihren angestammten Berufen arbeiten zu können. Diplome und Berufserfahrung werden nicht anerkannt, das Potenzial bleibt ungenutzt. In der Sendung erzählen eine Ärztin und zwei Mediziner vom langen Weg zum Berufseinstieg in der Schweiz und den Schwierigkeiten, mit denen sie sich auf diesem Weg konfrontiert sahen. Es ist aber auch ein Dokument über Einheimische, die sich dafür eingesetzt haben, diese verhinderte Integration zu bekämpfen13.

Als Begründung gegen die Integration wird oft das Argument der «kriminellen Ausländer» ins Feld geführt. Die Fakten zeigen etwas Anderes: Nur 2 von 100 Ausländerinnen und Ausländern – also 2 Prozent – wurden 2022 einer Straftat beschuldigt, obwohl sie sich oft in einer ausserordentlichen Situation befinden. Als Vergleich: bei «allen Schweizern» waren es 0,7%. Allerdings sind Personen, die sich im Asylprozess befinden, «krimineller als Ausländerinnen und Ausländer der ständigen Wohnbevölkerung»14. Zu den Gründen gehören unzumutbare, enge Gemeinschaftsunterkünfte, das Zusammenleben in unterschiedlichen ethnischen Gruppen, die fehlende Tagesstruktur und die fehlende Arbeitserlaubnis. Das spricht für eine rasche Integration – auch als Vorbeugung gegen Kriminalität.

Statt Ausgrenzung muss unser Motto in der Asylpolitik laut dem Publizisten Rudolf Strahm «Fördern und Fordern» heissen. Er sagt dazu: «Integration heisst in einem Land, in dem gesellschaftliche Wertschätzung stark über die Arbeit definiert ist, vor allem Arbeitsintegration. Es braucht gewiss keine Zwangsarbeit, aber bei Arbeitsverweigerung braucht es Sanktionen oder eine Arbeitspflicht ... in Beschäftigungsprogrammen mit Tagesentgelt von Gemeinden, Kantonen und Hilfswerken15.» Strahm denkt dabei auch an die Pflicht zum Spracherwerb, die Zuteilung in Arbeitsmarktmassnahmen mit Case-Management oder Coaching durch kompetente Fachpersonen und Kulturvermittler. Er verweist auf den Kanton Graubünden: «Asylpersonen, die dort arbeiten wollen, zum Beispiel in Hotelbetrieben oder Gemeindediensten, erhalten eine Wohnung oder ein Zimmer, die anderen bleiben in der Kollektivunterkunft.» Dabei hätten auch die Arbeitgeber eine Verantwortung. Als das Staatssekretariat für Migration eine Kampagne gestartet habe, um Asylbewerber als Erntehelfer und Hilfskräfte in der Landwirtschaft einzusetzen, hätten weniger als ein Dutzend Bauern mitgemacht. Andrerseits hätten Agrarbetriebe im selben Zeitraum über die Personenfreizügigkeit rund 30'000 billige, meist wenig qualifizierte ausländische Hilfskräfte in die Schweiz geholt. Auch hier gilt: Wir sollten unsere geflüchteten Gäste mit ihren Fähigkeiten nicht sinnlos einsperren.

Bei der Integration kommen auch die Kirchen mit ihren Fähigkeiten ins Spiel. Sie könnten ein vielfältiges Kontaktangebot machen – als rein humanitäre Hilfe, aber auch als – entsprechend deklarierte – Einladung zum Glauben. Und dies ganz unabhängig von der aktuellen Migrationspolitik unseres Landes16.

Besonders hilfreich sind Menschen, die selber eine Migration hinter sich haben. Menschen wie Yassir Eric. Als Moslem konvertierte er zum Christentum, wurde deswegen von seiner Familie für tot erklärt und musste in der Folge aus Nordsudan fliehen. In Deutschland konnte er ein neues Leben beginnen und bringt nun seine Kompetenzen ein. Er sagt dazu: «Wer den islamischen Terrorismus bekämpfen will, muss herausfinden, wer oder was die Terroristen prägt. In der Koranschule, der Moschee und zu Hause wurde ich dazu erzogen, zu hassen. Ich schaute auf Andersgläubige herab und war bereit, sie zu töten. Als ich viel zu spät merkte, dass ich mir dabei selbst schadete, wurde mein Leben auf den Kopf gestellt17.» Er lernte Jesus Christus kennen und musste fliehen. Und hat nun einen besonderen Zugang zu seinen Mitmenschen mit einem islamischen Hintergrund.  

Jede Person, die durch unsere Integrationshilfe in unserm Land Tritt fassen kann, ist nicht nur für die Schweiz ein Gewinn, sondern auch für das Herkunftsland. Es kann von den Fähigkeiten ehemaliger Migranten profitieren, sei es vorübergehend oder dauernd bei einer Rückkehr in das ursprüngliche Heimatland.

 

These 6: Unsere Welt braucht werteorientierte Entwicklungen

Als ich kürzlich mein Buch über die werteorientierte Ortsentwicklung präsentierte, erinnerte ich mich an ein Referat, das ich vor einigen Jahren in der damaligen Weltanschauungsschule von Jugend mit einer Mission in Wiler bei Biel halten konnte. Thema waren die im Buch vorgestellten sieben Strategien für eine werteorientierte Ortsentwicklung, verbunden mit den sieben Grundwerten Gemeinschaft, Liebe und Wahrheit, Gleichheit und Gerechtigkeit sowie Leben und Freiheit. Im Publikum sassen Menschen mit unterschiedlichsten Hautfarben – vermutlich war die ganze Welt vertreten. Bei der Diskussion merkte ich, dass alle Anwesenden verstanden hatten, was ich sagen wollte, egal ob sie in der westlichen Welt, in Afrika oder in Asien zuhause waren. Ich war fasziniert zu sehen, wie die Friedens-Theologie bzw. das integrierte Christsein weltweit als Ansatz für eine Transformation unserer Dörfer, Regionen und Städte verstanden worden war18.

Diese Veränderungen brauchen wir bei uns in der westlichen Welt, weil uns die christlichen Grundlagen dafür zunehmend wegbrechen. Dieselbe Transformation benötigen aber auch die Herkunftsländer unserer Migrantinnen und Migranten. Das heisst auf Länderebene: demokratische statt Sippen- oder Oligarchenstrukturen, Föderalismus statt Zentralismus und ein am christlichen Weltbild orientiertes Menschenbild, das auch in andere religiöse Situationen übersetzt werden kann.

Die Bewegung dazu sollte von innen kommen – fern von modernen kolonialistischen Hintergedanken. Getragen von werteorientierten Menschen, die zum eigenen Volk gehören oder von Ausländern, die bereit sind, sich für längere Zeit in die fremde örtliche Kultur hinein zu begeben. Berufskräfte können zudem vorübergehend und auf die lokale Situation abgestimmt Unterstützung geben. Gefragt sind aber auch Migranten, die nach Hause zurückkehren.

Dies lässt sich nicht mit Krieg oder wirtschaftlichem Druck erzwingen, sondern nur durch Überzeugung fördern. So auch beim Weitergeben der heilsamen Botschaft des Friedensfürsten Jesus Christus. In der Shalomtheologie wird Frieden bekanntlich ganzheitlich verstanden – als Friede zwischen Mensch und Gott, zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Natur. Da sind wir alle gefordert: bei uns vor Ort, in unseren Handelsbeziehungen und unserem Konsum, bei unserm Wirken in weniger entwickelten Ländern und in den Beziehungen zu unseren Gästen, die als Flüchtlinge bei uns angekommen sind.

 

These 7: Wir müssen lernen, die Welt als Dorf zu sehen

Wir vergessen manchmal, dass wir unseren Geburtsort nicht selber ausgewählt haben. Einige wenige Menschen wurden in der Schweiz geboren, viel mehr Menschen aber in Asien oder in Afrika. Alle aber sind Geschöpfe des einen Gottes und gehören damit zur selben Familie, ganz unabhängig von ihrer Hautfarbe oder ihrer Kultur. Dieses Wissen ist zumindest als Ahnung in allen Kulturen vorhanden. Christinnen und Christen sollte man davon nicht überzeugen müssen.

Ein Bild, um dieses Wissen konkreter zu machen, ergibt sich aus dem Vergleich der Welt mit einem Dorf. Durch die neue Mobilität sind wir ja tatsächlich zusammengerückt: Wir können innert eines Tages irgendwo auf dieser Welt landen und einen Teil dieses Dorfes näher kennenlernen.

Leider gibt es in diesem Dorf aber grosse Unterschiede. Sie zeigen sich auch in der westlichen Welt. In Amerika hat die durchschnittliche Mittelstandsfamilie seit 1980 so gut wie nichts dazugewonnen: Mehr als verhundertfacht haben sich in dieser Zeit nur Zahl und Vermögen der Superreichen. Die Unterschiede nehmen laufend zu: Seit Jahren sinken im weltweiten Wettbewerb die Steuern für Ultrareiche und Grosskonzerne. In der Schweiz sollten wir an diesem Punkt besonders aufmerksam sein. Ein ähnliches Bild zeigt sich übrigens auch innerhalb unseres Landes. Im Kanton Zürich besitzt das oberste Promille der Leute so viel wie 82 Prozent des Restes19. Die erwähnten Zahlen stammen aus einer Kolumne aus dem Jahr 2010! Leider hat sich seither wenig gebessert. Vielleicht sollten wir, wenn wir unsern Zeigefinger nur auf das Problem der Korruption in «Entwicklungsländern» richten, gleichzeitig merken, dass dabei alle übrigen Finger auf uns selber zeigen. Mit anderen Worten: Werteorientierte Entwicklungen brauchen wir im ganzen Dorf – bei uns vor Ort und bei all unseren übrigen «Verwandten».

Wir sollten dabei eine demütige Haltung einnehmen. Laut dem Kolumnisten Arne Perras20 hat ein westlicher Diplomat dies undiplomatisch so auf den Punkt gebracht: «Ständig ist man damit beschäftigt, westliche Werte zu predigen, anstatt auch mal pragmatisch zu fragen: Wo können wir unterstützen? Zu selten werden ernsthafte Versuche unternommen, Empfindlichkeiten und Zwänge in einem anderen Land zu verstehen. Dem Westen fehlt die Fähigkeit zuzuhören.» Ignoranz und Doppelmoral würden aber in Afrika, Asien und Lateinamerika nur Misstrauen schüren. Kleinbauern in Westafrika mit Entwicklungshilfe zu fördern, aber zugleich lokale Märkte mit subventioniertem Geflügel zu überschwemmen, das passe nicht zusammen. «Die grösste Hypothek für den Westen ergibt sich daraus, dass er massgeblich den Klimawandel verantwortet, unter dem ärmere Länder besonders leiden.» Der indische Aussenminister meinte dazu nach Beginn des Ukraine-Krieges, «dass Europa seine eigenen Probleme stets als Weltprobleme betrachte; aber wenn die Welt Probleme habe, sähen die Europäer diese nicht als die ihren an.»

Höchste Zeit also, unsere ganze Welt als Dorf zu sehen, über das wir miteinander ins Gespräch kommen sollten.

 

1 https://www.insist-consulting.ch/forum-integriertes-christsein/23-9-1-die-migration-neu-denken-lernen-teil-1.html

2 Mythen zur Migration, Der Bund, 14.9.21

3 Im ersten Quartal 2023 kamen 32'000 Migranten und Migrantinnen über das Mittelmeer an Europas Südgrenze, Tendenz steigend (Der Bund, 14.4.23)

4 Dieser Kompromiss wird zu mehr Gewalt führen, Reformiert, 8/23

5 Der Ansturm ist so epochal, dass Europa jetzt helfen muss, Der Bund, 16.9.23

6 Die Balkanroute verliert an Bedeutung, Der Bund, 21.8.23

7 Europa bricht mit seinen Werten, Reformiert, 1/22

8 Auf einmal gilt die Schweiz als Vorbild, Der Bund, 26.9.23

9 FDP- und Mitte-Frauen widersprechen den Männern, Der Bund, 23.9.23

10 Für die Flüchtenden aus der Ukraine wurde erstmals der «Schutzstatus S» angewendet, dessen gesetzliche Grundlage seit 1998 existiert. Damit erhalten die Geflüchteten rasch ein Aufenthaltsrecht, ohne ein ordentliches Asylverfahren durchlaufen zu müssen. Zudem haben sie – wie vorläufig Aufgenommene – Anrecht auf Unterbringung und medizinische Versorgung.

11 Wir werden uns für den Umgang mit Kindern im Asylbereich entschuldigen, Der Bund, 19.9.23

12 Der Ständerat verhindert eine Lösung für die Schwächsten, Der Bund, 23.9.23

13 https://www.srf.ch/play/tv/dok/video/das-ungenutzte-potenzial?urn=urn:srf:video:82b8755e-fc18-47ef-ab06-0d0ededbfd0f&showUrn=urn%3Asrf%3Ashow%3Atv%3A82b8755e-fc18-47ef-ab06-0d0ededbfd0f

14 So kriminell sind Ausländer wirklich, Der Bund, 16.9.23

15 Fördern und Fordern in der Asylpolitik, Der Bund, 11.8.15

16 Federführend in der Schweiz sind hier u.a. die in der Arbeitsgemeinschaft «Interkulturell» zusammengefassten evangelischen christlichen Organisationen: https://www.each.ch/arbeitsgemeinschaft/arbeitsgemeinschaft-interkulturell/

17 Eric Yassir: «Hass gelernt – Liebe erfahren. Vom Islamisten zum Brückenbauer.» Asslar, 2023, Adeo-Verlag. ISBN 978-3-86334-378-1

18 siehe unsere Beiträge zum Buch «Wenn die Bevölkerung das Dorf entdeckt», zum Beispiel hier: https://insist.preview.jumpbox.ch/forum-integriertes-christsein/23-10-4-dorfentwicklung-das-eigene-dorf-neu-entdecken-livenet-talk-mit-hanspeter-schmutz.html

19 Kleinkind und Macht, Der Bund, 6.12.10

20 Der Westen ist nicht fähig zuzuhören, Der Bund, 14.8.23

Schreiben Sie einen Kommentar

Kommentare

Daniel Winkler schreibt
am 8. Oktober 2023
In allen Medien wird im Moment das Schreckensgespenst der «illegalen Migration» wie ein Menetekel an die Wand gemalt. Das Interview mit Ruud Koopmans in der NZZ am Sonntag vom 30. Juli 2023 oder der schlecht recherchierte Meinungsbeitrag auf der NZZ-Frontseite von Benedict Neff vom 29. Juli 2023 legen davon Zeugnis ab. Der Begriff «illegale Migration» wird inflationär verwendet. Es erweckt den Eindruck, Europa und die Schweiz würden von «Illegalen» geflutet. Dieses Narrativ aber ist falsch. Gehören syrische, afghanische, iranische oder eritreische Flüchtlinge, die aus Griechenland, Italien oder Kroatien in die Schweiz weiterflüchten und als Dublin-Fälle zurückgewiesen werden, zur «illegalen Migration»? Nein, sie werden aber vermutlich zu dieser Gruppe dazugerechnet. Und aus Nord- oder Zentralafrika kommen im Moment verhältnismässig wenig Flüchtlinge in die Schweiz, die zur «illegalen Migration» gerechnet werden könnten.

Alles hängt an der Frage der Beurteilung und Qualifizierung von Geflüchteten. Kann aber tatsächlich jemand ernsthaft in Frage stellen, dass Menschen, die vor Kriegen, Bürgerkriegen und repressiven Regimes Schutz suchen – auch wenn sie nicht unmittelbar und persönlich gefährdet, direkt politisch oder religiös verfolgt sind –, Flüchtlinge sind? Das neue Narrativ ist: Afghaninnen, Iraner, Syrerinnen und Eritreer, die aus Flüchtlingslagern der völlig überforderten Nachbarländer weiterflüchten, sind keine echten Flüchtlinge, sondern Teil illegaler Migration.

Die Welt als Dorf zu sehen – dieser Ansatz des Autors gefällt mir sehr. Wir sind eine grosse Schicksalsgemeinschaft. Ausserdem zeigen uns Geflüchtete, wie gefährdet und zerbrechlich unser Leben ist. Jeder Tag, den wir in Würde leben können, ist ein Geschenk Gottes. Deshalb sollten wir auch anderen ein würdevolles Leben ermöglichen.