Die Migration neu denken lernen (Teil 1)

Mit der Flüchtlingsproblematik wird heute weltweit Politik gemacht. Das gilt auch für die kommenden Schweizer Parlamentswahlen. Dabei werden die Schwerpunkte jeweils so gesetzt, dass sie zum eigenen politischen Programm passen. Gerade auch aus christlicher Sicht brauchen wir heute aber Prozessmodelle, welche die Migration umfassend angehen. Gefragt sind systemische Lösungsansätze, die mittelfristig zu einem Kreislauf der Entwicklung führen.

(Lesezeit: 19 Minuten)

Statt die einzelnen Aspekte der Migration gegeneinander auszuspielen, sollten wir lernen, sie zueinander in Beziehung zu bringen und so besser zu merken, wo und wie wir Hand anlegen können. Zu dieser vernetzten Auffassung von Migration gehört auch die Bereitschaft, einseitige Vorstellungen aufzugeben und statt auf rasche Ergebnisse auf mittelfristige Entwicklungen zu setzen.

Die wichtigsten Eckpunkte dieses Migrations-Entwicklungsprozesses sollen im Folgenden aus Sicht der «entwickelten» Welt und besonders auch im Blick auf die Schweiz anhand der folgenden sieben Thesen angesprochen werden:

1) Wir sind alle Migranten

2) Wir sind Akteure der kolonialistischen Ausbeutung

3) Wir brauchen Migration

4) Migration muss gesteuert werden

5) Migration braucht Integration

6) Unsere Welt braucht werteorientierte Entwicklungen

7) Wir müssen lernen, die Welt als Dorf zu sehen.

In diesem Editorial werden aus Platzgründen nur die ersten drei Aspekte beleuchtet; im nächsten Editorial folgen dann die Eckpunkte 4 bis 7. Wichtig: Der Migrations-Entwicklungsprozess kann erst in Gang kommen, wenn alle sieben Aspekte zusammenspielen.

(Bild: Gerd Altmann auf Pixabay)

These 1: Wir sind alle Migranten

Niemand war schon immer da. Menschen waren immer wieder unterwegs, seit es sie gibt. Und sie haben damit unsere Zivilisation geschaffen.

Fast die Hälfte der Weltbevölkerung spricht heute indoeuropäische Sprachen. Das gilt auch für uns in der Schweiz. Zur Herkunft dieser Sprachfamilie gibt es heute neue Erklärungen1. Die ältesten überlieferten schriftlichen Quellen sind 5000-jährige Tafeln, auf denen Texte in Keilschrift aufgeschrieben sind. Die Keilschrift stammt aus dem Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris. Nach biblischer Überlieferung wäre dort im Übrigen auch die Erzählung vom Paradies anzusiedeln.

Wie genau diese Menschen südlich des Kaukasus gesprochen haben, weiss man nicht. Neue Forschungen aus dem Bereich der Linguistik und Genetik lassen aber vermuten, dass die ersten Menschen, die Indoeuropäisch sprachen, vor 8100 Jahren tatsächlich südlich des Kaukasus gelebt haben. Menschen siedelten immer wieder dort, wo sie Nahrung fanden oder verschoben sich aufgrund von kriegerischen Entwicklungen in eine sicherere Gegend. Dabei differenzierten sich auch ihre Sprachen auseinander.

In unserer Gegend wurde vor der Zeitenwende keltisch gesprochen. Die Eroberungszüge der Römer führten bei uns zu einer teilweisen Romanisierung der Sprache. Dies ist in Spuren noch im Rätoromanischen fassbar. Mit dem Rückzug der Römer und der darauf folgenden Völkerwanderung kam in unserer Gegend das Germanische auf – in der Deutschschweiz das Alemannische. Es wird in unseren Mundarten bis heute gesprochen. Wer seinen Stammbaum nicht auf die Pfahlbauer zurückführen kann (und auch die waren nicht schon immer da), der muss in der Zwischenzeit einmal bei uns eingewandert sein, oder er hat sich zumindest mit andern Völkern vermischt.

Die Schweiz kannte aber nicht nur Einwanderer, sondern auch Auswanderer. Zur Zeit der Eidgenossen machte die fehlende Arbeit oder die Aussicht auf rasches Geld viele junge Schweizer zu Söldnern in «fremden» Diensten: Später, zwischen 1815 und 1915, wanderten laut dem Historiker André Holenstein «eine halbe Million Schweizer in die USA aus»2. «Zahlreiche Schweizer, die in der Ferne reüssierten, konnten Lehrlinge aus der Schweiz nachziehen. So wurde aus der Armuts- eine Arbeitsmigration.» Dazu kam eine Bildungsmigration. «So zählte die Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg im 18. Jahrhundert zeitweise bis zu einem Drittel Schweizer Gelehrte.»

Mit dem Wechsel vom Agrar- zum Industriestaat wurde die Schweiz vom Auswanderungs- zu einem Einwanderungsland. Schon in Zeiten der französischen Religionskriege waren Flüchtlinge wie die Hugenotten in die Schweiz geströmt. Sie brachten ihr Wissen und Können über Uhren mit – und damit einen entscheidenden Impuls für die Schweizer Uhrenindustrie. Weiter: «Die dem Liberalismus verpflichteten neuen Universitäten zogen Studentinnen und Studenten aus ganz Europa an.» Aber auch Arbeiter kamen zu uns. Die Folge: «Heutzutage hat jede dritte hier niedergelassene Person ausländische Wurzeln.» Und auch alle andern waren, wie wir gesehen haben, nicht immer da.

Deshalb sollten wir dankbar werden, dass wir hier eine Heimat gefunden haben. Im Wissen, dass Christen «Fremde und Gäste auf Erden»3 oder «Fremde und Gäste in dieser Welt»4 sind. Aus neutestamentlicher Sicht ist jeder Nationalismus fehl am Platz: Wir alle sind von Gott geschaffene Menschen, die sich vorübergehend heimatlich einrichten dürfen. Ethnischer Nationalismus kann aus biblischer Sicht – übrigens einem Buch voller Migrationsgeschichten – am ehesten noch den Juden zugestanden werden, dem einzigen von Gott erwählten Volk. Wer aber sieht, mit welch unterschiedlichen Hautfarben und Sprachen die Menschen ausgestattet sind, die sich Juden nennen, wird über diese Vielfalt in Gottes Volk zum Staunen kommen und offener werden für ethnische Unterschiede vor Ort5.

 

These 2: Wir sind Akteure der kolonialistischen Ausbeutung

Laut dem Publizisten Howard French haben «erst Millionen versklavte Afrikanerinnen und Afrikaner Europa zur Supermacht gemacht6.» Das Selbstbild des Westens, dass es eine direkte Linie vom klassischen Griechenland mit seiner Demokratie, Philosophie und Wissenschaft zum modernen Europa gebe, sei eine Fantasievorstellung, sagt French. Griechenland habe nichts mit dem heutigen Europa zu tun gehabt, wohl aber mit Asien und Afrika. Europa sei bis zum Beginn der Neuzeit «alles andere als führend» gewesen. Die Araber, Inder und Chinesen seien viel weiter gewesen. «Um sich nicht schuldig zu fühlen», hätten die Europäer nicht nur die Tatsache aus der Geschichte gelöscht, «dass sie verantwortlich für Tod und Versklavung von Millionen von Menschen sind». Sie hätten auch an der Vorstellung festgehalten, dass all das in einer wertlosen Weltgegend passiert sei, in der «nur Wilde herumliefen mit Knochen in der Nase und Speeren in der Hand, ohne jede Organisation, ohne jede Struktur». Sklaverei habe zwar bereits in Afrika eine lange Tradition gehabt. Sie habe vor allem dazu gedient, «die Population der eigenen Gruppe zu vergrössern». Die Sklaverei als Stigma sei in Afrika oft rasch in den Hintergrund getreten. Es habe Könige gegeben, deren Mütter Sklavinnen gewesen seien.

Die Europäer praktizierten laut French eine ganz andere Art von Sklaverei. Sie habe darauf basiert, dass «eine gesamte Gruppe von Menschen ausgehend von ihrer Hautfarbe als für die Sklaverei bestimmt» definiert worden sei. Der schwarze Sklave sei das Eigentum seines Halters gewesen und habe alle natürlichen Rechte verloren. Dasselbe Prinzip sei auf seine Kinder und Kindeskinder übertragen worden. «Die Plantagen und die Besitzsklaverei sind ökonomisch gesehen die wichtigsten Erfindungen der Neuzeit. Ohne sie gäbe es den Westen nicht», betont French. Viele Techniken der Industrialisierung seien mit schwarzen Sklaven auf den Zuckerplantagen in Brasilien und in der Karibik entwickelt und dann in die Spinnereien des Westens übertragen worden. Zudem hätten die Europäer dank der Zuckerproduktion leichten Zugang zu billigen Kalorien gehabt. Ausserdem seien so Stimulanzien wie Kakao, Tee, Kaffee, Tabak günstig verfügbar gewesen. Das habe geholfen, die Produktion der europäischen Arbeiter enorm zu steigern. «Es war der Treibstoff für die Entwicklung des Westens.»

Längst vergangene Zeiten? Leider nein. Die Demokratische Republik Kongo, eines der ärmsten Länder der Welt, verfügt über Unmengen von Kobalt – des Metalls also, ohne das weder Handyakkus noch Elektroautos funktionieren. Über diesen Rohstoff bestimmt aber nicht der Kongo, sondern China – und Schweizer Firmen. 73 % des globalen Kobalts stammen aus der Demokratischen Republik Kongo. Zu Batterien verarbeitet wird der Rohstoff aber vor allem in China. Seit einem Jahr sind die Autobauer die wichtigsten Abnehmer dieses Metalls. Tesla, VW, Volvo oder Renault sind quasi süchtig nach diesem Stoff. Ebenso Apple, Samsung oder Google für die Herstellung von Handys. Zur Förderung gibt es behelfsmässig organisierte kleine Minen, in denen viele Menschen etwas Geld verdienen, oft unter zweifelhaften Bedingungen. Zwei grosse Minen werden vom Schweizer Rohstoffkonzern Glencore und mit einer Ausnahme alle andern von chinesischen Firmen betrieben. «Hier wird mit dem Einsatz von milliardenschwerem Kapital, gigantischen Trucks, Baggern und gut geschulten Mitarbeitenden geschürft»7.

Glencore zahlte im letzten Jahr über 1,1 Milliarden Doller Steuern an den kongolesischen Staat – und damit 10 % des nationalen Haushalts. In den Glencore-Betrieben im Kongo arbeiten über 15'000 Menschen, fast ausschliesslich Einheimische, mehr als 40% in Subunternehmen. Glencore betont die guten und sicheren Arbeitsbedingungen. Die umliegenden Dörfer sollen in Zukunft stärker von den reichen Minenbetreibern profitieren, wird gesagt. «Aufgrund eines neuen Gesetzes müssen die Bergbaubetriebe in Projekte in den Gemeinden rund um das Konzessionsgebiet investieren.» Dabei wird von etwa 0,3 Prozent des Umsatzes gesprochen (!).

Einige Schweizer Banken spielen auch hier eine ihrer Lieblingsrollen. Die chinesischen Rohstoffkonzerne nutzen sie nämlich gerne für ihre Geschäfte. Sei es, «weil sie ihr im Kongo geschürftes Kobalt über Genf verkaufen oder weil sie am Finanzplatz Kapital für den Ausbau ihres globalen Geschäfts aufnehmen»8.

Von der Struktur her sind wir in diesem modernen Beispiel von den früheren Sklaven-Herren-Strukturen nicht weit entfernt. Hier wird ein wertvoller Rohstoff in einem afrikanischen Land abgebaut, immerhin mit Angestellten statt mit Sklaven; die Wertschöpfung geschieht aber im Westen bzw. Osten. Wie weit dieses Geschäftsmodell von den alten Strukturen der Sklavenhalter entfernt ist, entscheidet sich an den Bedingungen der Arbeiter vor Ort, der tatsächlichen Wertschöpfung für die einheimische Bevölkerung, dem Verhindern von Umweltschäden und den Details der Lieferkette. Wenn all diese Elemente heutigen menschenrechtlichen Standards genügen, ist zwar der Gewinn der «Herren» am Schluss der Lieferkette kleiner, dafür wäre ein wichtiger Schritt zur Überwindung kolonialistischer Strukturen getan. Das ist leider noch nicht selbstverständlich. Siehe die zähen Diskussionen rund um die eigentlich selbstverständliche Konzernverantwortungsinitiative. Zugespitzt gesagt: Wenn wir als Konsumenten am Schluss einer Lieferkette von sklavenähnlichen Bedingungen an ihrem Beginn oder irgendwo dazwischen profitieren, sind wir Teil eines modernen kolonialistischen Systems.

Aus biblischer Sicht liegt Sklaverei in jeder Form so oder so nicht drin. In der Bibel treffen wir auf einen Gott, der aus der Sklaverei herausführt, sei es bei seinem Volk Israel bis hin zu allen andern, die ihn bis heute als einzigen Herrn ihres Lebens anerkennen. Sie können damit keinen anderen Herren dienen. Dass es der bekennende Christ William Wilberforce war, der 1833 im englischen Parlament die Abschaffung der Sklaverei durchgesetzt hat, ist von daher kein Zufall. Erstaunlich ist höchstens, dass seine amerikanischen Brüder in den US-Südstaaten so lange brauchten, bis sie ihren biblischen Glauben auch auf diese Frage bezogen. Auch wir sind heute gefragt, keine sklavenähnlichen Strukturen zuzulassen, sei es in unserm Verhältnis zum Weltsüden oder innerhalb unserer Schweizer Gesellschaft.

 

These 3: Wir brauchen Migration

Die bereits erwähnte Fluchtbewegung der Hugenotten aus dem katholischen Frankreich via Genf in den Jurabogen war kein bewusstes Wirtschaftsförderungsprojekt, sondern eine humanitäre Massnahme, gefördert vom Genfer Reformator Johannes Calvin. Die Hugenotten brachten neben ihren Begabungen im Bereich der Uhrenmanufaktur auch ihr zupackendes wirtschaftliches Denken mit. Mit ihrer Ansiedlung im Jurabogen wurde eine Randregion entwickelt und ein typisches Schweizer Kulturgut gefördert.

Heute werden für unser Land erwünschte Migrationsbewegungen vor allem durch den Fachkräftemangel ausgelöst. Eine originelle Lösung im Kleinen bieten der Ökonom Christian Hirsig und der ehemalige syrische Flüchtling Hussam Allaham mit ihrem Start-up Remotecoders im Bereich der Informatik an. Die Grundidee skizziert Allaham so: «In Ägypten finden die talentiertesten Programmierer und Software-Entwicklerinnen keinen Job, während die Schweizer Informatikbranche unter einem Fachkräftemangel ächzt9.» Tatsächlich reicht der Schweizer Nachwuchs nirgends hin. Bis 2030 rechnet die Branche in der Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT) mit 40'000 unbesetzten Stellen. Allaham und Hirsig betreuen mit ihrer Firma nach zwei Jahren Aufbauarbeit neun Schweizer Unternehmen, darunter den WWF und Brack.ch. Remotecoders ist nicht gewinnorientiert und zählt unterdessen 35 ICT-Spezialisten in Ägypten. «Jeder Kunde wird von einem Teamleader betreut, der zwei bis drei Praktikanten führt.» Das Unternehmen wird in der Startphase zur Hälfte von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit getragen. Nach 2024 «müssen wir auf eigenen Beinen stehen», sagt Hirsig. Im Gegensatz zu Hirsig, der im unternehmerischen und wirtschaftlichen Bereich stark ist, kennt Allaham die Situation im Nahen Osten. Er war zu Beginn des Syrienkrieges mit seiner jungen Familie in den Libanon geflüchtet, in der Erwartung, bald wieder zurückkehren zu können. Nach fast vier Jahren war seine Geduld erschöpft. Er wollte mit seiner Familie in den Sudan und von dort regulär nach Ägypten migrieren. Alles war bereit für die Flucht. Da kam ein Anruf aus der Schweizer Botschaft. Er war ausgewählt worden, um im Zuge eines Resettlement-Programms in die Schweiz zu kommen. Seine Familie war Teil einer Gruppe von 502 Personen, die zwischen November 2013 und Dezember 2015 in die Schweiz einreisen konnten, wo händeringend Berufstätige in verschiedenen Bereichen gesucht wurden. Allahm sagt dazu heute: «Beide Seiten haben jeweils das, was die andere sucht – sie müssen einander nur finden.» Eines Tages möchte er nach Syrien zurückkehren und beim Wiederaufbau des Landes mithelfen. Von dort aus würde er für sein Schweizer Unternehmen arbeiten.

Der Basler Wissenschaftler Manuel Baumann fordert, dass die Schweiz umdenkt und zum Beispiel Fachkräfte aus Afrika rekrutiert und ausbildet. Denn fast das gesamte Wachstum der Weltbevölkerung in den kommenden Jahrzehnten werde in Afrika erwartet. Eine Möglichkeit könnte es sein, Ausbildungsstätten in afrikanischen Ländern einzurichten und dort auch wichtige Aspekte der Schweizer Kultur und Sprache zu vermitteln. Die besten Absolventen würden dann eine Stelle in der Schweiz bekommen. Davon würde auch das Gastgeberland profitieren, weil alle übrigen Absolventen eine hochklassige Ausbildung bekommen würden, die sie sonst nicht erhalten hätten. Die Zukunft der Entwicklungszusammenarbeit sieht der Demographieexperte in Programmen, «die beiden Seiten etwas bringen»10. Er fordert ein Umdenken: «Zuwanderer aus Afrika waren für uns früher vor allem Flüchtlinge. Jetzt sind sie Arbeitskräfte und bald womöglich Fachkräfte.»

Wenn wir den Fachkräftemangel nicht beheben können, ergibt das für die Schweiz gemäss Buchmann – auch angesichts einer immer älter werdenden Bevölkerung – «weniger Wachstum und Wohlstand». Aus demografischer und arbeitstechnischer Sicht brauchen wir in der Schweiz also nicht weniger, sondern mehr Migration.

Doch: Wieviel Menschen haben in der Schweiz überhaupt Platz? «Technisch gesehen, wären 15 bis 20 Millionen Einwohner in der Schweiz kein Problem», sagt der Ökonom Aymo Brunetti dazu. Auch für ihn ist der zukünftige Fachkräftepool, ergänzt durch Menschen aus dem Ausland, von entscheidender Bedeutung. Dies zeige sich auch im Rückblick: «Die Personenfreizügigkeit ist getrieben von wirtschaftlicher Nachfrage und hat dazu geführt, dass das Pro-Kopf-Einkommen gestiegen, aber der Arbeitsaufwand abgenommen hat11.» Die Vorteile der Zuwanderung würden allerdings in den Köpfen der Menschen oft von Ängsten überschattet. Zu Unrecht, meint Brunetti: «In New York leben auch 8 Millionen Menschen, und die Stadt funktioniert.»

Dass diese neue Schweiz mit einer genügend durchmischten Bevölkerung und ausreichenden Fach- und Hilfskräften aber nicht aus Einfamilien-Häuschen gebaut sein wird (ich wohne selber in einem), liegt auf der Hand. Auch landschaftlich gilt es, die richtige Durchmischung von bebautem und unbebautem Land zu finden. Auf die damit verbundenen städtebaulichen Herausforderungen freuen sich werteorientierte Architektinnen und Raumplaner sowie Bauherren, die bereit sind, Wohnungen auch für weniger Bemittelte anzubieten. Ein spannender Lösungsansatz ist die 10-Minuten-Stadt, in der Tausende von Menschen leben können, die alle Grundbedürfnisse in einer Distanz von zehn Minuten erledigen können, quasi also Stadtquartiere mit dörflichen Strukturen. Wenn dann auch noch der Arbeitsplatz zumindest in ÖV-Distanz angesiedelt ist, lässt sich in einer solchen Schweiz auch mit ein paar Millionen Menschen mehr als heute gut leben.

Was kann aus biblischer Sicht dazu gesagt werden? «Dem Herrn gehört die ganze Erde mit allem, was darauf lebt», wird in Psalm 24,1 schon mal klargestellt. Von daher sind wir – umgangssprachlich formuliert – nicht Eigentümer, sondern nur vorübergehende Besitzer der paar Quadratmeter Land, die wir für uns beanspruchen. Wir sitzen für eine gewisse Zeit auf unserm Boden oder in unserm Haus. Dies erfordert von uns Respekt gegenüber dem wirklichen Eigentümer, der uns dies alles nur ausgeliehen hat, verbunden mit einer Haltung der Grosszügigkeit gegenüber allen seinen Geschöpfen, woher sie auch kommen mögen. Anders gesagt: Bei einer wachsenden Wohnbevölkerung müssen wir das Teilen unseres Besitzes mit andern neu einüben.

 

1 Wo unsere Sprache herkommt, Der Bund, 19.8.23

2 Niemand war schon immer da, Der Bund, 31.3.18

3 Hebräer 11,13

4 1. Petrus 2,11

5 siehe auch: https://www.insist-consulting.ch/forum-integriertes-christsein/22-5-1-wieviel-nationalismus-ertraegt-das-evangelium.html

6 Ohne Sklaverei keinen Westen, Der Bund, 21.4.23

7 Der Stoff, der vieles angenehmer macht, Der Bund, 15.7.23

8 Kommentar: Der Schweiz kommt eine besondere Rolle zu, Der Bund, 15.7.23

9 Sie haben eine Lösung für den Fachkräftemangel, Der Bund, 12.5.23

10 «Die Pflege ist der heikelsten Bereich», Der Bund, 27.6.23

11 Ein Plädoyer gegen Zuwanderer-Kontingente, Der Bund, 26.4.23

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