Wenn evangelikal geprägte Christen das «Evangelium predigen», bedeutet das heute, dass «Jesus für uns gestorben und wieder auferstanden ist», dass wir durch das Kreuz Vergebung empfangen haben und durch den Geist erneuert werden zu einem Leben in Hingabe.
Nun gibt es eine wachsende Gruppe von Christen, die laut eigener Aussage eine «Befreiung aus diesem engen Glauben» erleben. Sie orientieren sich an Jesus, der vergeben konnte ohne das Kreuz. Sie machen überzeugt Propaganda dafür, den engen Kreuzesglauben abzulegen. Hat Gott nicht schon immer vergeben und wird er das nicht auch weiterhin tun? Dazu braucht es das Kreuz gar nicht. Der Tod von Jesus war ein Märtyrertod. Fertig. Gott braucht kein «blutiges Opfer», um zu vergeben – und wir keine «Arme-Sünder-Theologie».
Das heisst, dass der stellvertretende Charakter von Jesu Tod Jesu am Kreuz sowie Jesu Auferstehung – alles also, was vor allem Paulus bis ins Detail deutet –, völlig an Bedeutung verliert. Diese reformatorische Rechtfertigungslehre wird aufgegeben zugunsten der Lehre des «Originals» Jesus.
Was meinte Jesus denn nun mit «Evangelium»?
In den Evangelien steht an manchen Orten: Sie predigten das Evangelium vom Reich Gottes. Das heisst, Jesus und seine Jünger müssen unter «Evangelium» etwas Umfassenderes verstanden haben als «nur» die persönliche Vergebung und Errettung. Jesus lehrte das Reich Gottes: Gott selber ist in die Welt gekommen, er ist mit mir mitten unter euch. Etwas völlig Neues hat angefangen. Jesu ganzes Leben, Reden und Handeln, zeugten davon, dass Gott zu den Menschen gekommen war.
Richtig: In den Evangelien steht kaum etwas über das Kreuz. Im Laufe der drei Jahre seiner Verkündigung bereitete er seine Jünger aber dreimal darauf vor, dass er getötet und am dritten Tag auferstehen würde. Einmal sagte er, er sei nicht gekommen, um zu herrschen, sondern sein Leben zu geben als Lösegeld. Bereits Johannes der Täufer hatte erklärt, als er Jesus sah: «Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt.» Beim letzten Abendmahl schliesslich sagte Jesus die bedeutungsvollen Worte: Das ist mein Leib, mein Blut, zur Vergebung vieler Sünden. Das bedeutet: Das stellvertretende Opfer gehört zum Evangelium von Jesus – allerdings nur angedeutet und in den Briefen weiter erklärt.
Es ist also nicht berechtigt, zu sagen: «Jesus predigte das Reich Gottes als Befreiung, Heilung, Liebe, Annahme – und erst später kam Paulus mit seiner Predigt über die Sünde, das Kreuz und all das Einengende. Gott nimmt doch alle Menschen einfach so an, wie sie sind.»
Wir erinnern uns: Jesus begann seine Predigt mit dem Ruf: Das Reich Gottes ist gekommen, kehrt um und glaubt an das Evangelium.
Umkehr, Vergebung – das ist eine fremde Botschaft in unsere Zeit hinein, die den Menschen lieber «bestätigt» in dem, was er ist. Aber: Bei Jesus steht diese Botschaft ganz am Anfang. Viele Zeitgenossen kommen gar nicht mehr auf die Idee, dass Gott vielleicht etwas gegen sie haben könnte, weil sie Sünder sind. Gott ist doch Liebe, darum muss er uns bedingungslos annehmen.
Die «Blut- und Kreuzestheologie», wie die Rechtfertigungslehre von Paulus oft genannt wird, ist heute für Viele anstössig, inakzeptabel. Die bedeutungsvollen Worte Jesu beim Abendmahl: «Dies ist mein Leib, für euch gebrochen, dies ist mein Blut, zur Vergebung vieler Sünden» seien Jesus wahrscheinlich später in den Mund gelegt worden, sagt man. Ohne diese «vertikale» Dimension wird das Abendmahl konsequenterweise einfach als Gemeinschaftsmahl, rein horizontal, gefeiert.
Allerdings: Ist es wirklich so, dass die Inhalte der Evangelien viel einfacher zu verstehen und auch viel positiver sind als die komplizierten Aussagen von Paulus über Sünde, Vergebung und Erlösung? Tatsache ist doch: Wer zum Beispiel die Bergpredigt auch nur annähernd wörtlich und ernst nimmt, wie Jesus sie verkündigt hat, der muss zum Ergebnis kommen: So lebe ich nicht. Ich schaffe diesen Massstab Gottes unmöglich! Was uns von selbst zur Frage bringt: Was mache ich, was macht Gott mit den «Defiziten» meines Lebens? Was geschieht mit der Restschuld? Ist das «Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt» nicht auch schon in den Evangelien eine wunderbare Realität?
Paulus deutet die Evangelien
Im Galaterbrief 1,12 erklärt Paulus, dass er direkt vom Auferstandenen gelehrt worden sei: Er habe sein Evangelium «nicht von Menschen empfangen, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi gelernt». Offenbar erhielt Paulus über längere Zeit – man denke an die drei Jahre in der Wüste1 – eine Art «Privatunterricht» von Jesus: Er betont ja, dass er sich nicht mit Menschen besprochen hat. Jesus bzw. der Heilige Geist muss ihm im Detail anhand der Heiligen Schriften des Alten Testamentes die Zusammenhänge des Heilsplans Gottes erklärt haben.
Es ist also nicht zulässig, das «Evangelium von Jesus» und das «Evangelium des Paulus», dessen er sich nicht schämte, auseinander zu reissen. Und hatte Jesus nicht auch selbst gesagt: «Ich hätte euch noch viel zu sagen. Wenn der Heilige Geist kommt, wird er euch in alle Wahrheit leiten.» Das bedeutet: So wie das Alte Testament erst durch das Neue Testament vollständig Gottes Heilsplan aufzeigt, so wie vieles erst im Rückblick verständlich wird, so brauchen auch die vier Evangelien und damit die Biographien Jesu eine Ergänzung, Vertiefung und Deutung durch das, was folgt: die Briefe des Paulus, der Apostel und die Offenbarung.
Mit anderen Worten: Es gibt kein «Evangelium vom Reich Gottes» ohne Kreuz, Auferstehung, Vergebung und Neues Leben.
1 Galater 1,18
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