Bildende Kunst: Wenn das Bild die Vorstellungskraft übersteigt 

Bilder haben die Fähigkeit, die objektive Realität zu vermitteln und zu transzendieren. Sie sind Träger von Botschaften, die es zu entschlüsseln gilt. Heute nehmen die Bilder, die wir konsumieren, mehr denn je den Status einer Wahrheit ein. Warum ist das so? Was Bilder ohne Worte erzählen.

(Lesezeit: 6 Minuten)

Seit den alten Zivilisationen besteht beim Menschen das Bedürfnis, die Naturphänomene zu erklären, die das Leben prägen, um all dem, was die Wahrnehmung der Welt zum Guten oder zum Schlechten geprägt hat, eine Bedeutung zu geben.

(Bild: Rembrandt-autoritratto-al-cavalletto-1660-Musée-du-Louvre)

Die Darstellung führt zur Vorstellung

In jeder Kultur finden wir mit der mündlichen Überlieferung die erste Methode, um das durch Erfahrung erworbene Wissen weiterzugeben. So wurden beispielsweise die ersten Bücher der Bibel – der Pentateuch – lange Zeit nur mündlich überliefert.

Im visuellen Bereich sehen wir mit den Höhlenmalereien die Darstellung einer prähistorischen Welt in direktem Kontakt mit der Natur. Die Beschreibung wird zur Erzählung eines Alltagslebens voller Faszination für die Natur und Hingabe an das Göttliche.

Mit dem Aufkommen der Schrift sehen wir Ähnlichkeiten in den epischen Erzählungen der mythologischen oder märchenhaften Geschichten: Das Ziel ist immer dasselbe, nämlich das Wissen über die Welt so weiterzugeben, dass man es sich vorstellen kann.

 

Kunst: Täuschung oder Realität?

In einer Anekdote aus dem antiken Griechenland wird erzählt, wie der Maler Xeusi aus der hellenistischen Zeit in einem Wettbewerb mit einem anderen Künstler, Parrasio, seine Fähigkeiten unter Beweis stellte, indem er Trauben malte, die Spatzen täuschen konnten. Als diese die auf der Oberfläche des Steins dargestellten Trauben sahen, wollten sie sie essen, konnten dies jedoch nicht.

Diese Darstellungsfähigkeit wurde von Platon gefürchtet, wenn nicht sogar mit Misstrauen betrachtet. Er sah in dieser Kunst nur eine Kopie der Kopie: Der Maler ahmt die Realität nach und entfernt uns mit seiner unvollkommenen Kopie der Realität vom edlen Prinzip, wahres Wissen zu erlangen.

 

Trotzdem: Diese Mimesis, also die Fähigkeit zur Nachahmung, wurde über viele Jahrhunderte hinweg in den bildenden Künsten von der Mehrheit bewundert. Natürlich hat jede Epoche neue Ideen eingebracht oder die ästhetischen Massstäbe der Vergangenheit in einem neuen Licht erscheinen lassen. All dies mit dem Ziel, den Begriff der Realität (neu) zu definieren und den Schwerpunkt auf die für die jeweilige Epoche relevanten kulturellen Werte zu legen. Dabei stand immer die letztendliche Funktion, Emotionen zu vermitteln und über die Wahrheit zu sprechen, im Vordergrund. Gefühle und Wahrheit waren immer untrennbar miteinander verbunden.

 

Das Bild im Bild

Einer der faszinierendsten und weltweit am meisten bewunderten Künstler ist zweifellos Rembrandt (1606-1669). Seine Kunst ist ebenso stark und einzigartig wie seine Biografie. Der niederländische Künstler, ein glühender Christ, hatte ein turbulentes Leben: Er wurde sehr früh berühmt, verlor jedoch aufgrund seines ausschweifenden Lebensstils seinen Reichtum. Der Tod seiner ersten Frau und seiner drei Kinder sowie später seiner zweiten Lebensgefährtin und seines vierten Kindes im Erwachsenenalter prägten die Sensibilität des Künstlers, der, obwohl er den Tiefpunkt erreicht hatte, bankrott und in Armut lebte, nie aufhörte zu malen.

In einem seiner unzähligen Selbstporträts aus später Zeit, «Selbstbildnis vor Staffelei» (1660), stellt er sich mit der Würde eines alten Mannes dar, der von den Widrigkeiten des Lebens gezeichnet ist, aber noch immer das heilige Feuer der Hoffnung in sich trägt. Dieses Gemälde hat eine doppelte Funktion: Die erste besteht darin, die äussere Person mit ihren symbolischen Merkmalen darzustellen – zu zeigen. Die zweite Funktion ist hingegen erkenntnistheoretisch aufschlussreich: Mit scharfem Verstand nutzt er den Spiegel, um den Prozess des Selbstlernens fortzusetzen. In dieser doppelten Sichtweise versetzt uns der Künstler, der sich im Spiegel betrachtet, in die Lage von indiskreten Beobachtern (Voyeuren) und besonders Beobachteten.

 

Gnōthi Seautón

Rembrandt zeigt uns eine grundlegende Wahrheit: Je genauer wir ein Bild betrachten, desto mehr kommen wir mit der inneren Welt unserer eigenen Wahrnehmung in Kontakt. Die Realität ist per Definition nicht das, was wir sehen, sondern das, was wir quasi wahrnehmen und für uns selbst als relevant erkennen. In diesem Sinne übernimmt die Kunst eine transzendentale Rolle des Wissens, einen metaphysischen Akt, der uns nicht mit dem konfrontiert, was wir sehen, sondern vielmehr mit dem, was wir verstehen können oder wollen.

Wie die Inschrift auf dem Tempel von Delphi, Gnōthi Seautón, griechisch für «erkenne dich selbst», findet diese Analyse im Lichte der tiefsten Realität der menschlichen Identität statt, nämlich eines Wesens, das nach dem Bild und Gleichnis seines Schöpfers geschaffen wurde, jenes göttlichen «Markenzeichens», das der Psalmist im geschriebenen (und musikalischen) Text von Psalm 8,4-5 so formuliert: «Wenn ich anschaue deine Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: Was ist der Mensch, dass du sein gedenkst, und des Menschen Sohn, dass du dich um ihn kümmerst?»

 

Sehen oder glauben?

Heute leben wir in einem hypermedialen Zeitalter: Aus jedem Bild wird eine Geschichte gemacht, diese wird als Wahrheit verkauft, und wenn man keinen kritischen Geist hat, kann man leicht auf einen Spiegelfang hereinfallen. Bilder werden zu Botschaftern, verwandeln sich in ein Medium zur Unterweisung der Massen, nehmen den Status einer unbestreitbaren Wahrheit ein und ersetzen die volkstümliche Praxis des mündlichen Erzählens. In diesem Sinne laufen wir Gefahr, das zu bekräftigen, was der ungläubige Jesus-Jünger Thomas sagen wollte: «Ich glaube nur, was ich sehe».

Rembrandt zeigt uns, dass wir umso mehr beobachtet werden, je mehr wir beobachten, und dass unsere Wahrnehmung der Realität vielleicht nichts anderes ist als ein Bild im Bild, das den Kern der Frage zwischen Realität und Wahrheit aufzeigt und unsere Vorstellungskraft hervorhebt.

 

Schreiben Sie einen Kommentar