Das westliche Christentum befindet sich in seiner grössten Krise seit der Reformation. Das Christen-tum erscheint vielen als alt gewordene Religion, die nicht mehr in unsere säkularisierte Zeit passt. In Deutschland und in der Schweiz sind fast die Hälfte der Bevölkerung konfessionslos. Wenn es um das öffentliche Leben geht, muss die Religion draussen bleiben wie der Hund vor dem Supermarkt.
Die Ausläufer der Säkularisierung haben längt die konservativen Gebiete der religiösen Landschaft erreicht. Viele fragen: Wie gehen Glaube und Postmoderne zusammen? Wie vertragen sich Wahrheit und Toleranz? Fragen wie diese hat es in der Geschichte schon immer gegeben. Das aktuelle Fragen aber geht tiefer. Es rührt an die Grundpfeiler des Glaubens.
Der Pluralismus wird obligatorisch
Der Pluralismus der Postmoderne ist kein völlig neues Phänomen. Er hat seine antiken, mittelalterli-chen und neuzeitlichen Vorformen. Neu ist, dass er dominant auftritt, so dass er nicht mehr durch Gegenmotive aufgefangen werden kann und zur gesellschaftlichen Grundverfassung wird. Für kon-servative Einstellungen ist immer weniger Platz. Christen, die liberalen Lebensentwürfen distanziert gegenüberstehen, wird vorgeworfen, voller Hass und Vorurteile zu sein. Manche Christen fühlen sich mit ihren traditionellen Glaubensvorstellungen wie der Eisbär auf der schmelzenden Scholle und fra-gen sich: Kann man auch anders glauben? Die Bibel anders interpretieren?
Alles wird relativ
Der Pluralismus der Postmoderne unterscheidet sich in seinem Wirklichkeitsverständnis stark von demjenigen im Zeitalter der Moderne. Bis in vormoderne Zeit lasen die Menschen die Bibel mit Ver-trauen. Man war überzeugt: Die fünf Bücher Mose stammten von Mose, die Evangelien geben ver-lässlich Auskunft über Jesus, die Zehn Gebote sind ein sinnstiftender gesellschaftlicher Rahmen. Die moderne Vernunft, die von der Aufklärung befeuert wurde, erschütterte dieses Vertrauen. Der wis-senschaftliche Fortschritt förderte zur selben Zeit das Zutrauen in die menschliche Vernunft und Machbarkeit. Die Verhältnisse im Universum des menschlichen Denkens verschoben sich merklich. Je mehr der Mensch wusste, desto verzichtbarer wurde der Glaube an einen Schöpfer. Doch dann wurde auch die Vernunft selbst erschüttert. Je mehr man wusste, desto stärker trat ins Bewusstsein, was man noch nicht wusste und wir möglicherweise nie wissen können. Die Vernunft beantwortete viele Fragen, aber die letzten Fragen blieben unbeantwortet.
Im Grunde genommen ist die Postmoderne die Identitätskrise der modernen Weltanschauung. Denn: Wenn wir nichts sicher wissen können und nicht in der Lage sind, eine bessere Welt zu schaf-fen, ist alles relativ. In der Postmoderne sind sämtliche Gewissheiten und Autoritäten vom Papst über die Bibel bis zur eigenen Wahrnehmung erschüttert. Wer sind wir? Wissen wir überhaupt noch etwas? Können wir Gott erkennen? Oder sind wir wie die Blinden in der berühmten Karikatur, die den Elefanten berühren, der eine den Schwanz, der andere den Rüssel und alle meinen, sie würden die Wirklichkeit kennen?
Was ist wahr?
In der radikal pluralistischen Weltsicht der Postmoderne werden die Parameter menschlichen Den-kens noch einmal verschoben. Herkömmliche Vorstellungen von Wahrheit und Moral, die in der Moderne noch eine gewisse Plausibilität aufwiesen, kommen in der Postmoderne wie Dominosteine zu Fall:
1) Der an der Vernunft orientierte Wahrheitsbegriff der Moderne gilt in der Postmoderne als über-holt. In der Moderne galt als wahr, was durch die Vernunft erschlossen werden konnte. In der Postmoderne wird «Wahrheit» stets neu konstruiert. Was wahr ist, entscheiden Menschen indivi-duell. Es hat mehr mit ihrem persönlichen Empfinden und wechselhaften gesellschaftlichen Bedin-gungen zu tun als mit einer objektiven Wirklichkeit.
2) Der Auflösung des modernen Wahrheitsbegriffs folgt die Relativierung von Wahrheitsansprüchen. Transzendenten Ansprüchen, wie die Bibel sie vorträgt, wird mit besonderer Skepsis begegnet. Rela-tivistische Ansichten kommen in der Postmoderne als Selbstverständlichkeit daher.
3) Der Relativierung der Bibel folgt ein Vertrauensverlust in ihre Autorität und Wirksamkeit. Wenn «Wahrheit» stets neu konstruiert werden muss, können die Ansichten der biblischen Verfasser keine Gültigkeit besitzen, die Zeiten und Kulturen überschreitet. Sie reden nicht durch den Heiligen Geist als Apostel oder Propheten, sondern als Kinder ihrer Zeit.
4) Dem Vertrauensverlust gegenüber der Bibel folgt ein Glaubensverlust, denn der Glaube kommt aus dem Wort Gottes (Römer 10,17). Wenn die Bibel nicht die massgebende Urkunde des Glaubens ist, lassen sich aus ihr weder feste Wahrheiten noch eine verbindliche Moral ableiten. Moral gibt es noch, aber sie ist jetzt im Rahmen der gesellschaftlichen Verhältnisse veränderbar. Der Zeitgeist spricht stärker als der Heilige Geist.
Wo die Dekonstruktion aufhören muss
Zentrale Glaubensbestände werden bis tief in die evangelische Theologie und Kirche hinein in Zweifel gezogen oder systematisch dekonstruiert: Die sexualethischen Weisungen der Bibel sind unzeitge-mäss, das Sühneopfer Jesu am Kreuz unnötig, die Lehre vom Jüngsten Gericht unmenschlich, der Gedanke der Inspiration der Bibel unhaltbar.
Christen stehen vor der Gretchenfrage, wie sie es mit der Bibel halten: Können sie der Bibel als inspi-riertes Gotteswort vertrauen oder müssen sie die Bibel im Licht der postmodernen Toleranz neu interpretieren? Antwort: Was Christen glauben, muss biblisch verankert sein oder es ist kein Chris-tentum. Christen können in manchen Fragen uneins sein: Das hat es noch nie anders gegeben in einer Kultur der Vielfalt. Eines können sich Christen jedoch nicht leisten: dass sie sich unter dem Druck der postmodernen Mehrheitskultur die Bibel als Norma Normans, die sie mit dem Willen Got-tes bekanntmacht, relativieren.
In der Glaubensbasis der Europäischen Evangelischen Allianz wird ein klares Bekenntnis zur Inspirati-on und Autorität der Heiligen Schrift abgelegt:
«Evangelische Christen bekennen sich zu der in den Schriften des Alten und Neuen Testaments gege-benen Offenbarung des dreieinigen Gottes und zu dem im Evangelium niedergelegten geschichtlichen Glauben ... (Wir bekennen) die göttliche Inspiration der Heiligen Schrift, ihre völlige Zuverlässigkeit und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.»
Wenn Christen dieses Bekenntnis nicht bejahen können, ist ihr Glaube in Gefahr. Es geht in der ge-genwärtigen Krise um viel. Nur diejenigen Formen christlichen Glaubens haben Zukunft, die sich der postmodernen Mehrheitskultur mit ihrer relativistischen Weltanschauung widersetzen und bereit sind, ihren Glauben in Rückbindung an die Heilige Schrift zu gestalten. Man kann vielfältig glauben, aber man kann nicht gegen die Bibel glauben. Man kann biblische Texte unterschiedlich interpretie-ren, aber man kann nicht gegen das Selbstzeugnis der Heiligen Schrift die Glaubensbestände, die sie uns bietet, uminterpretieren, ohne schliesslich den Glauben selbst zu verlieren. Am Schluss hat man noch Jesus ohne Christus oder die Bergpredigt ohne den Bergprediger. Das ist wie Fussball spielen ohne Tore schiessen: das Entscheidende fehlt. Wenn Christen nicht mit Verweis auf Gottes Wort an den zentralen Glaubensbeständen festhalten, die durch die Jahrhunderte unaufhebbar zum christli-chen Glauben gehört haben, wird ihnen der Restglaube, der in der westlichen Kultur geblieben ist, unter den Füssen wegschmelzen wie die Scholle dem Eisbären. Und dann haben sie nichts mehr als sich selbst und ihr von der postmodernen Toleranz verdünntes Evangelium: eine frohe Botschaft für das Streben nach Selbstverwirklichung, aber kein wirkliches Evangelium mehr.
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