Mobilität: Warum wandern?

Dieses Jahr feiere ich ohne viel Brimborium das 10-jährige Jubiläum meines öffentlichen Nachtwanderangebots. Seit 2015 organisiere ich kleinere und mittlere Wanderungen für Gruppen am Abend und in der Nacht. Damit lade ich andere Menschen zu etwas ein, was ich selber schon mein ganzes Leben tue: Wandern gehen, zu jeder Tages- und Jahreszeit.

(Lesezeit: 7 Minuten)

Beim Organisieren und Wandern stelle ich mir die Warum-Frage eher selten. Als ich aber neulich für ein Buchprojekt über Naturerlebnisse, Glaube und Wissenschaft damit begann, meine eindrücklichsten Nachtwanderungen nachzuerzählen, stellte ich mir die Warum-Frage: Warum ausgerechnet Nachtwanderungen? In der Nacht sieht man ja weniger als am Tag, weshalb sollte man da rausgehen? Liegt mein Interesse an der Nacht nur an meinem Beruf als Weltraumphysiker?

(Bild: André Galli)

Warum Wandern?

Zuvor müssen wir aber die allgemeine Frage beantworten, die sich manche der Teilnehmenden diesen Sommer auf dem Weg zum Gipfel, zum See oder dem Strand entlang – hoffentlich in einer besseren Laune als Endo Anaconda in seinem Lied «Stundelang däm Strand entlang» – gestellt haben: Weshalb wandern wir überhaupt zu irgendeiner Tageszeit? Ist das nicht Zeitverschwendung? Vor allem dann, wenn wir die Wanderstrecke schon kennen oder sie wesentlich bequemer per Fahrrad, Auto, Zug, Gleitschirm, E-Scooter oder dergleichen hinter uns bringen könnten.

Fürs Wandern gibt es natürlich gesundheitlich-sportliche Gründe und das Bedürfnis, die Welt zwischen Start und Ziel intensiver wahrzunehmen. Daneben gibt es für mich aber zwei weniger offensichtliche Gründe: die Auszeit vom Alltag und das Erleben einer Geschichte. Die Auszeit lässt sich so erklären: Solange wir im Zug von A nach B mit Buch oder Laptop fahren oder im Büro, im Labor, in der Schule oder zuhause arbeiten, stecken wir immer im unmittelbar zu Erfüllenden fest. Es bleibt kein Raum für elementare Fragen oder nachhaltige Ruhe, da nach jeder Aktion immer schon die nächste Handlung auf uns wartet. Eine Wanderung holt uns aus diesem Endlosrhythmus heraus. Sie zwingt uns zumindest für die Dauer der Wanderung zu einer Auszeit.

Ein weiterer Grund ist schwieriger zu beschreiben. Er ist aber zentral dafür, weshalb ich und viele andere von ihren Wandererlebnissen erzählen und schreiben, so etwa Laurence Sterne, Hape Kerkeling und Francesco Petrarca: Wir Menschen lieben Geschichten. Wir brauchen Geschichten, um uns und die Welt zu begreifen und sie einander vermitteln zu können. Das Leben ist oft zu komplex, zu langfädig, zu strukturlos, um als Ganzes begriffen zu werden. 

Die Wanderung aber, als winziger Ausschnitt unseres Lebens, genügt viel eher den Anforderungen einer Geschichte: Sie hat einen klaren Anfang und ein Ende, oft einen eindeutigen Höhepunkt, und hin und wieder sogar einen Cliffhanger – einen Schlusspunkt, der Neugier für das Kommende weckt. Jede Wanderung bringt uns beim Erleben selber und später beim Erinnern dazu, uns bewusst zu machen: So fühlt sich und so hat sich die Welt angefühlt, die äussere und die innere, während wir durch diese Welt schreiten, mit all den Erinnerungen und Hoffnungen, die wir an diesem ganz bestimmten Ort und zu dieser ganz bestimmten Zeit mit uns getragen haben.

 

Was die Nacht zusätzlich bringen kann

All diese Gründe gelten auch für Nachtwanderungen, doch scheint mir abends und nachts das Erleben unmittelbarer, das aus dem Alltag Heraustreten radikaler. Durch die Nacht wandern kann erhebend oder niederschmetternd, beruhigend oder aufrüttelnd, schön oder hässlich sein. Nur eines ist es für mich nicht: belanglos. Bei mir persönlich gibt es drei Umstände, die mich dazu gebracht haben, nachts hinauszugehen – alleine oder in einer Gruppe, direkt vor der Haustüre oder in einem fremden Land.

Der erste Umstand ist banal-praktisch: Weil es sich so ergeben hat. Ich war aufgrund unseres Wohnorts am Rande eines Dorfs und als Kind einer alleinerziehenden Mutter und mit einem wesentlich älteren Bruder, der nie im selben Schulhaus wie ich zur Schule ging, in der Situation, dass ich oft alleine zu Fuss oder auf dem Fahrrad zwischen Zuhause und Schule oder Turnhalle unterwegs war, zu jeder Tages- und Jahreszeit. Dabei musste ich oft alleine nachts raus. Andererseits durfte und konnte ich auch alleine nachts raus, weil meine Mutter und mein Bruder mich das tun liessen: Unser Ort in den Hügeln über dem Dorf bei den Wäldern machte das möglich. Die Schnellstrasse direkt neben unserem Haus und der Deutsche Schäferhund unserer Nachbarin waren allerdings brandgefährlich – zu jeder Tageszeit. Später wurden die Arbeitstage in Schule, Gymnasium, Universität oder Firma so lange, dass, wenn ich nach der Arbeit noch spazieren gehen wollte, daraus automatisch Abend- und Nachtwanderungen wurden.

Der zweite Umstand ist die Schönheit, die Weite der Nacht: Die im Wasser schwimmenden Lichter der Dörfer und Städte vom fernen Ufer bei Lugano oder Thun; das erste Mal im Leben, als ich den Mond bewusst wahrnahm, wie er in unser Kinderzimmer leuchtete. So fern und fremd und doch zum Greifen nah stand er über den bewaldeten Hügelzügen, die den Horizont meiner Kinderwelt abgrenzten, als Bote einer viel weiteren Welt. Später, zur Gymnasiumszeit, waren es meine Ausflüge auf den Hügel am Rande des Emmentals, wo ich zum ersten Mal mit Karte und Teleskop die Planeten und Sternbilder am Himmel absuchte und das erste Mal tatsächlich die Ringe des Saturn sah. Dort nahm ich zum ersten Mal unsere Welt als kleine Kugel mit Wäldern und Bergen wahr, die sich mit grosser Geschwindigkeit durch die Weiten des Universums fortbewegt.

Der dritte Umstand ist trauriger Art: Die Nacht ist mein Rückzugsort und meine letzte verbliebene Heimat in dieser Welt. Als die Hänge meiner Kindheit umgegraben und überbaut wurden und wir wegzogen, blieben mir von den Bäumen und Landschaften und Gefühlen nur noch die Erinnerungen.

Doch will ich die Vergangenheit nicht verklären: Unser wunderschön gelegenes Dorf gegenüber der ersten Bergkette am Ausgang der Flussschlucht war kein Hort der Glückseligen. Abgesehen von Hunden und Strassen machten insbesondere die Schule und Eventualitäten im und ums Schulgebäude Angst. Das Wegschleichen, das sich Verstecken oder die Flucht in die Dunkelheit waren je nach Eskalationsstufe ja durchaus vernünftig. Damals wie heute suche ich manchmal die Nacht als Ort, an dem keine anderen Menschen sind. Andere gehen in die Wüste, ins Kloster, in die Meditation – ich gehe in die Nacht. Die Nacht ist meine Zuflucht, mein Tempel.

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