Joëlle Zimmerli2: Herr Leder, wer sind Sie? Und was ist «Placemaking»?
Mein Name ist Samuel Leder, und ich leite an der Universität Zürich verschiedene Weiterbildungskurse, darunter das «CAS Urban Management» und den Kompaktkurs zu «Placemaking». Beim Urban Management geht es darum, in partnerschaftlichen Prozessen gemeinsam gute Siedlungsräume und mehr Wohnraum zu schaffen. In vielen Fällen liegt der Fokus dabei auf den Akteuren der öffentlichen Hand, der Immobilienwirtschaft und den planenden Disziplinen wie Architektur und Verkehrsplanung.
Das «Placemaking» bringt ergänzend dazu einen neuen, frischen Ansatz, welcher für die Entstehung lebendiger und identitätsstarker Orte von grosser Bedeutung sein kann – nämlich den Einbezug von lokal engagierten «Laien». Mein erster Kontakt mit diesem Konzept war in den Niederlanden, wo solche Konzepte bereits seit einiger Zeit etabliert sind.
In der Fachwelt ist das «Placemaking» im Moment in aller Munde, und man verspricht sich viel davon. Können Sie uns das Konzept etwas näherbringen?
Kurz gesagt geht es um «Community-basierte Nachbarschaftsentwicklung». Das heisst, dass physische Räume und soziale Gemeinschaften in einem möglichst ergebnisoffenen, iterativen3 Prozess gemeinsam weiterentwickelt werden und dadurch Orte entstehen, die langfristig attraktiv, integrativ und lebenswert sind. Das erachte ich auch als eines der zentralen Elemente der sozialen Nachhaltigkeit.
Der Begriff «Placemaking» versammelt im Grunde verschiedene Methoden, mit denen lokale Akteure auf eine zielführende Art und Weise in die Nachbarschaftsentwicklung eingebunden werden können. Das ist etwas, das man schon lange als wichtig empfunden hat, aber oft fehlt dafür die passende Sprache und die systematischen Ansätze für die Umsetzung. Das Vokabular und die Erfahrungen aus der Placemaking-Bewegung, welche in den 90er-Jahren in den USA unter diesem Begriff entstanden ist, können hier sehr hilfreich sein.
Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Ein typischer Fall sind Anwohnende, die sich stärker in ihrer eigenen Nachbarschaft engagieren möchten; oder zum Beispiel Kirchgemeinden oder ähnliche Organisationen, welche über ihre eigenen Mitglieder hinaus in einem Quartier wirken möchten. Sie möchten zum Beispiel soziale Treffpunkte aufbauen, brachliegende Freiflächen bepflanzen oder generationenübergreifende Kontakte stärken. Ihre Spielräume sind aber oft limitiert aufgrund von rechtlichen, räumlichen, finanziellen oder anderen Rahmenbedingungen. Umgekehrt sieht man gerade bei Neubauprojekten oft eine gewisse Ratlosigkeit der Immobilien-Eigentümerschaft, wie sich Erdgeschosse oder Aussenräume aktivieren und im Sinne einer lebendigen Nachbarschaft optimal nutzen lassen. Placemaking-Methoden können helfen, diese Lücke zu schliessen.
Somit bedeutet Placemaking schlicht mehr Partizipation?
Unter «Partizipation» wird heute oft etwas anderes verstanden, nämlich, dass Laien an einem Prozess partizipieren dürfen, der aber primär von Experten gesteuert wird. Es gibt also eine klare Hierarchie. In der Regel ist es dann so, dass die öffentliche Hand oder ein Immobilienentwicklungsunternehmen ein konkretes Projekt plant und lokale Betroffene an einem bestimmten Punkt im Prozess einlädt, dazu Stellung zu nehmen oder eigene Wünsche zu äussern.
Placemaking dagegen beschreibt einen ergebnisoffenen Prozess, wonach sowohl Eigentümerschaft, Planende wie auch zivilgesellschaftliche Akteure jeweils etwas beitragen, was die anderen Parteien nicht beitragen können. Es ist also nicht ein «Partizipieren», sondern ein «Co-Kreieren» der lokal Betroffenen. Langfristig lebendige Orte brauchen ja kontinuierliche Pflege und Weiterentwicklung durch Leute, die täglich vor Ort sind und sich mit ihrem Umfeld identifizieren.
SSREI misst die Nachhaltigkeit von Immobilienportfolios, dazu zählen auch gesellschaftliche Kriterien. Können Sie uns erklären, wie sich dieses Konzept in nachhaltige Immobilien, Areale oder Quartiere einordnet?
Placemaking fördert die soziale Interaktion im Alltagsumfeld und ermächtigt Leute dazu, ihr eigenes Umfeld mitzugestalten und sich zu engagieren. Dadurch entstehen soziale Netze und integrative Strukturen, welche besonders für Leute wertvoll sein können, die sonst sozial isoliert sind, etwa ältere Personen oder Leute, die finanziell einen beschränkten Spielraum haben. Manche gewachsenen Nachbarschaften sind bereits «Places» in diesem Sinne und weisen ein starkes soziales Netz auf. In anderen Fällen fehlt dieses Netz komplett. Für Immobilieneigentümer gilt: Ein Gemeinschaftsraum allein schafft noch keine Interaktion – dazu braucht es eben die entsprechenden gemeinschaftsbildenden Prozesse.
Können Sie uns erklären, wie diese Prozesse ablaufen und wer für das Placemaking verantwortlich ist?
Ein Schlüsselfaktor im Placemaking-Prozess sind die sogenannten «Local Heroes», d.h. Personen, die sich innerlich motiviert im Quartier engagieren wollen. Das können Anwohnerinnen und Anwohner sein, Hauseigentümerinnen und -eigentümer mit einem starken Anliegen für das Quartier, Social Entrepreneurs oder auch Vertreterinnen und Vertreter von lokalen Stiftungen, Vereinen, Schulen oder Kirchgemeinden, welche sich für nachbarschaftliche Belange einsetzen. Local Heroes sind Idealisten, die sich für den Ort interessieren, Potenziale sehen und sich dafür engagieren, dass diese realisiert werden.
Damit dieses Engagement aber auch effektiv und langfristig wirkungsvoll sein kann, braucht es zugleich die bereitwillige Unterstützung der «Top-Down-Akteure» – je nach Situation also von Immobilien-Eigentümern, der öffentlichen Hand oder weiteren wichtigen Institutionen vor Ort.
Wie unterscheidet sich der Placemaking-Prozess vom klassischen Planungsprozess?
Der klassische Planungsprozess verläuft linear und versucht, Schnittstellen zu minimieren. Die community-basierte Nachbarschaftsentwicklung ist im Gegensatz dazu viel eher ein Hochschaukeln. Das bedeutet, dass man eine Vision entwickelt, Allianzen bildet, bauliche Prototypen erstellt, Nutzungsprototypen entwickelt und Events umsetzt. Funktioniert ein Ansatz, wird er ausgebaut und weiterentwickelt. Dadurch entsteht ein Momentum und gegenseitiges Vertrauen unter allen Beteiligten, was grösseren Handlungsspielraum für die nächsten Schritte schafft.
In diesem Sinne ist der co-kreative Prozess der Logik einer «agilen Startup-Entwicklung» näher als dem klassischen Immobilien-Investment. Wer Placemaking macht, geht ein Risiko ein, denn das Endresultat ist nicht von vornherein bekannt.
Im Gegenzug ist das potenzielle Resultat aber sehr viel besser als der anfängliche Spielraum erlaubt hätte. Gerade in der Innenentwicklung im bestehenden Siedlungsraum ist ein solch ergebnisoffener Prozess oft die einzige Alternative zum Totalstillstand oder zu isolierten Einzelprojekten, welche lediglich dem «kleinsten gemeinsamen Nenner» entsprechen und dadurch keinen Mehrwert für das Umfeld und die Gemeinschaft bieten.
Welchen Anreiz haben Eigentümerinnen und Entwickler, einen solchen Ansatz zu verfolgen?
Es geht darum, Netzwerke zu bilden, Akzeptanz zu schaffen und damit auch politische Risiken zu reduzieren. Placemaking schafft attraktive Orte und trägt zur langfristigen Wertstabilität bei, es erleichtert die Positionierung und kann natürlich auch für die Kommunikation und Vermarktung genutzt werden. Und: Wer einen guten «Place», eine gute Adresse schafft, kann auch etwas stolz auf sich sein.
Was ist der Unterschied von Placemaking zur klassischen Quartiersarbeit, also dem, was die öffentliche Hand, Quartiervereine oder soziale Institutionen schon seit langem in Quartieren machen?
Das Placemaking bezieht Akteursgruppen mit ein, die sich sonst in der Regel nicht persönlich begegnen – Immobilien-Eigentümerinnen, die öffentliche Hand, «Local Heroes» verschiedenster Art – und begrenzt sich nicht auf die soziale Vernetzung, sondern entwickelt den Ort räumlich und baulich weiter. Was durch einen solchen Prozess entstehen kann, geht in vielen Fällen weit über das hinaus, was man mit reiner Quartierarbeit anstossen kann – auch im Hinblick auf die Attraktivität eines Standorts, und damit logischerweise auch auf die Immobilienwerte. Dieser Aspekt ist natürlich jeweils auch frühzeitig mitzudenken, um unerwünschte Verdrängungseffekte zu vermeiden.
Und wo gibt es aus Ihrer Sicht den grössten Handlungsbedarf?
Die Prinzipien sind grundsätzlich überall anwendbar. Allerdings sehe ich das grösste Potenzial heute im suburbanen Raum: Die Agglomeration ist häufig austauschbar und anonym, und es fehlen belebte Räume, an denen man sich gerne trifft und aufhält. Dabei gäbe es auch an vermeintlich anonymen, suburbanen Orten potenziell identitätsstiftende Gebäude, Geschichten und ungestillte Bedürfnisse, die als Ausgangspunkt für die Entstehung eines guten «Place» dienen können.
Wie lange dauert ein solcher Prozess?
Das ist von Situation zu Situation unterschiedlich. Am besten beginnt man schon im Rahmen einer Ideen- und Visionsbildung damit, Kontakte unter konstruktiv engagierten «Local Heroes» aufzubauen. Man kann aber auch noch im Verlauf eines konkreten Planungs- und Bauprozesses gewisse Elemente des Placemaking integrieren und selbstverständlich auch jederzeit bei bestehenden Gebäuden. Zum Beispiel durch das aktive Kuratieren von Aussenräumen, oder indem man günstige Voraussetzungen für niederschwelliges Engagement bietet.
Wenn sich eine Eigentümerin oder ein Entwickler für das Thema interessiert: Wie geht man am besten vor?
Zuerst braucht es ein Umdenken, was die eigene Rolle angeht. Und dann gibt es drei parallele Entwicklungsdimensionen: Erstens das gemeinsame Entwickeln einer Vision zusammen mit lokalen Akteuren, zweitens das konstante Testen und Weiterentwickeln von baulichen und räumlichen Prototypen und drittens das Aufbauen und Stärken der lokalen Community. Diese Dimensionen kommen nicht nacheinander, sondern laufen parallel und iterativ.
Der SSREI berücksichtigt neben ökologischen und ökonomischen Faktoren auch diverse gesellschaftlich-soziale Aspekte. Findet dieses Thema Ihres Erachtens ausreichend Berücksichtigung?
Im SSREI erhält man Punkte, wenn bei einer Arealüberbauung ein Gemeinschaftsraum und bei einem normalen Mehrfamilienhaus vergleichbare Gemeinschaftsstrukturen im Quartier vorhanden sind. Sofern diese Strukturen an den realen Bedürfnissen ausgerichtet sind und auch entsprechend gut bewirtschaftet werden, schaffen sie gute Voraussetzungen für eine lebendige und integrative Nachbarschaft. Ohne ein zusätzliches Engagement lokaler Akteure sind aber solche baulichen Strukturen noch nicht ausreichend. Es bleibt abzuwarten, ob der Placemaking-Ansatz hier einen Beitrag leisten kann, die Bewertungsmöglichkeiten im Bereich der sozialen Nachhaltigkeit noch aussagekräftiger zu machen.
1 Mehr dazu hier: https://genossenschaftdreieck.ch/genossenschaft/geschichte/
2 Das von Joëlle Zimmerli geführte Interview wurde im SSREI-Newsletter vom Juni 2023 veröffentlicht und uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt. SSREI ist ein Standard für nachhaltige Immobilienbestandsbewertung.
3 Laut Definition ist der iterative Prozess ein Ansatz, bei dem ein Projekt, Produkt oder Vorhaben erstellt, weiterentwickelt und verbessert wird. Teams, bei denen ein iterativer Prozess zum Einsatz kommt, erstellen, testen und überarbeiten einen Ablauf so lange, bis sie mit dem Endergebnis zufrieden sind. (Quelle: Internet)
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