Gesundheit: Mass halten – Leben gestalten 

Welche Emotionen lösen Begriffe wie «mässig» oder «Mässigkeit» in Ihnen aus? Halten Sie Bescheidenheit, Genügsamkeit, Zufriedenheit, Gelassenheit, Selbstbeherrschung und Besonnenheit für attraktive, erstrebenswerte Tugenden? Oder schrecken Sie Verzicht, Entsagung, Selbstbeschränkung, Abstinenz, Askese oder vielleicht gar eine gewisse Opferhaltung eher ab?

(Lesezeit: 12 Minuten)

Denken Sie bei «mässig» an gemässigt, angemessen, massvoll, ausgewogen oder eher an mittelmässig, durchschnittlich, gewöhnlich oder eventuell gar dürftig, schwach oder ungenügend? Trägt Mässigkeit wirklich zu Ihrer Gesundheit, Ihrem Glück und Wohlbefinden bei oder ist nicht eher das Gegenteil der Fall? Führt Mässigkeit nicht zu einer Nivellierung der Höhen und Tiefen des Lebens und steht somit der Lebensfreude, dem Genuss bis aufs Letzte, dem vollen Auskosten des Lebens, im Weg?

(Bild: garten-gg auf Pixabay)

Der antike Hintergrund

Mässigkeit ist tatsächlich ein Begriff mit verschiedenen Bedeutungen. Im Zusammenhang mit den Auswirkungen auf unsere Gesundheit und Lebensqualität tun wir gut daran, bewusst zu klären, was wir darunter verstehen wollen. Mässigkeit oder Mässigung wird seit der Antike zusammen mit Gerechtigkeit, Tapferkeit und Frömmigkeit – später ersetzt durch Weisheit oder Klugheit – zu den vier Kardinaltugenden gerechnet. Die griechischen Philosophen nannten sie «Sophrosyne» – von sophros, verständig, einsichtig – und verstanden darunter die Tugend der Selbstbeherrschung und weisen Mässigung.

Leider gibt es kein einzelnes deutsches Wort, welches die ganze Bedeutungsvielfalt des griechischen Ausdrucks wiedergibt. Temperantia, die bereits früh verwendete lateinische Übersetzung, welche über das Englische teilweise mit «Temperenz» auch Eingang in die deutsche Sprache gefunden hat, kommt von temperare, das auch so verstanden werden kann: «aus verschiedenartigen Teilen ein einiges geordnetes Ganzes fügen». Damit wird bereits angedeutet, dass es bei Mässigkeit auch darum gehen kann, einen Ausgleich von unterschiedlichen Interessen und Motivationen zu schaffen.

 

Abwägen

Im ganzheitlichen Gesundheitskonzept «NewstartPlus»1 steht als Piktogramm für Mässigkeit eine Waage. Mässigkeit hat mit einem ausgewogenen Gleichgewicht, mit Masshalten und damit mit Messen zu tun. Dabei geht es nicht nur um das Halten eines guten Körpergewichts, nicht nur um Essen und Trinken, um den Konsum von Alkohol, Nikotin oder illegalen Drogen. Es geht auch um genügend körperliche Aktivität, das Verhältnis von Arbeitszeit und Freizeit, unseren Medienkonsum, den Einsatz unserer Mittel (Geld, Kraft, Einfluss), unser soziales Engagement und vieles mehr.

«Messen» kann nun hier durchaus ein zweideutiger Vorgang sein, denn es kommt nicht nur darauf an, was wir messen, sondern auch mit welchem Massstab wir messen, also womit wir uns oder unser Verhalten vergleichen. Will ich mich an dem orientieren, was häufig ist, an meinem persönlichen Geschmack und an meinen Vorlieben – oder lieber an dem, was gut für mich und andere ist? Wähle ich also als Massstab das «Normale» oder das Ideale?  Will ich sein wie die anderen? Anders gefragt: Soll deren Verhalten über mein Verhalten bestimmen? Oder wähle ich einen anderen Bezugspunkt, etwa das «Gute», das «Sinnvolle», die Auswirkungen auf meine Gesundheit? Letzteres ist allerdings nicht immer einfach. Oft stellt uns das Leben nicht vor eine Wahl zwischen Schwarz oder Weiss, Gut und Böse, Schädlich und Gesund.

Würden Sie sich eher als vorsichtigen oder als mutigen Menschen bezeichnen? Gehen Sie mit Ihrem Geld eher sparsam um oder grosszügig? Legen Sie in Konfliktsituationen mehr Wert auf Ehrlichkeit oder auf Höflichkeit, auf Wahrhaftigkeit oder Verständnis, überwiegt Ihr Wille zur Selbstverwirklichung oder Ihr Gemeinschaftssinn? Wahrscheinlich hat es bereits meine Fragestellung verraten: Es kann hier nicht einfach um ein Entweder – Oder gehen. Sowohl Ehrlichkeit als auch Höflichkeit, Sparsamkeit und auch Grosszügigkeit, Selbstverwirklichung und Gemeinschaftssinn können als erstrebenswerte Tugenden verstanden werden. Allerdings besteht zwischen ihnen oft eine Spannung. Wie können wir fruchtbar damit umgehen?

 

Tugend und Gegentugend

Hilfreich ist, wenn wir erkennen, dass es grundsätzlich zu jeder Tugend auch eine Gegentugend oder Schwestertugend2 gibt. Allerdings kann man es dabei auch übertreiben. Jede Tugend kann im Übermass auch zu einer Untugend werden. Übertriebene Sparsamkeit wird zu Geiz, übertriebene Grosszügigkeit zu Verschwendung. Das Übertreiben einer Tugend, also das Abstürzen in die Untugend, ist nun nicht einfach einem Zuviel des Guten geschuldet, sondern eher einem Mangel der Schwestertugend. Der Geizige muss also nicht einfach lernen, «weniger sparsam» zu sein, sondern grosszügiger. Der Verschwenderische muss nicht einfach lernen, «weniger grosszügig» zu sein, sondern sparsamer. Dieses Prinzip weist auf unsere Entwicklungsmöglichkeiten in allen möglichen «Tugend-Kombinationen» hin. 

 

Gesunde Mässigkeit

Mässigkeit ist das Masshalten zwischen diesen Positionen. Allerdings kann auch dies unterschiedlich verstanden werden. Der griechische Philosoph Aristoteles hat sich jede echte Tugend als die Mitte zwischen zwei Extremen vorgestellt. Entsprechend diesem Verständnis geht es bei der Mässigkeit darum, sich immer schön in der Mitte zu positionieren. Weder zu sparsam noch zu grosszügig sein, weder zu viel arbeiten noch zu viel ruhen, weder zu leidenschaftlich (extremistisch, fanatisch) noch zu gelassen (gleichgültig) sein. Dieses Verständnis könnte aber dazu führen, dass alles zu statisch wird, dass es dem Leben an Bewegung, an Dynamik fehlt.

An Armen und Beinen haben wir sowohl Streck- als auch Beugemuskeln. Beide sind wichtig. Dabei kommt es aber auf das Zusammenspiel der beiden Muskelgruppen an. Wenn beide mit halber Spannkraft jeweils in der Mitte verharren würden, wären Ellbogen und/oder Kniegelenke starr in einer mittleren Position fixiert. Eine (Fort-)Bewegung wäre nicht mehr möglich.

Mässigkeit kann auch als das Aushalten der Spannung zwischen den beiden Gegensätzen verstanden werden. Wenn sich der Beuger anspannt, muss der Strecker etwas Raum geben und umgekehrt. Nur so ist echte Bewegung (Aktivität) möglich. Der Klangforscher, Geigenbauer und Physikingenieur Martin Schleske spricht in diesem Zusammenhang vom Prinzip der harmonischen Gegensätze, welche erst die Resonanzen ermöglichen und zum vollen Klang (des gelingenden Lebens) beitragen.

Schon der alttestamentliche Philosophenkönig Salomo sprach von solchen Gegensätzen. Gemäss Salomo hat alles hat seine Zeit: Geborenwerden und Sterben, Pflanzen und Ausreissen, Aufbauen und Niederreissen, Suchen und Verlieren, Aufheben und Wegwerfen, Schweigen und Reden, Lieben und Hassen, Krieg und Frieden. Alles hat Gott so eingerichtet, dass es zur jeweiligen Zeit schön ist. Es gibt nichts Besseres, als sich zu freuen und das Leben zu geniessen. Wenn ein Mensch isst und trinkt und bei all seiner Mühe etwas Gutes sieht, ist das eine Gabe Gottes3.

 

Mässigkeit und Verzicht

Heisst Mässigkeit, «alles» oder bloss das «Gute» mit Mass zu geniessen, unter Einschluss des bewussten Verzichts auf das Schädliche?

Die Vertreter der ersten Position beziehen sich oft auf den berühmten Arzt Paracelsus (1493-1541), der erkannt hat, dass viele Krankheiten äussere Ursachen haben. Er soll gesagt haben: «Nur die Dosis macht das Gift.» Wenn also jemand weiss, wie er zum Beispiel mit Alkohol umgehen soll, und sich in der Dosis – der Menge und Häufigkeit – nicht irrt, so halten sie dies für durchaus in Ordnung.

Anders sehen dies die Vertreter der Temperenz- oder Abstinenzbewegung, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erlebte. Während in früheren Jahrhunderten alkoholische Getränke nur in beschränktem Umfang zur Verfügung standen, waren sie nun aufgrund neu entwickelter Produktionsmethoden – neuen Destillier- und Brennverfahren – zur günstigen Massenware geworden. Als Reaktion auf die gravierenden negativen gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgen des nun weit verbreiteten Alkoholkonsums organisierten sich in dieser damals wichtigen sozialen Bewegung viele Menschen, um den schädlichen Konsum zu bekämpfen. Dabei erkannten sie, dass in diesem Fall Mässigkeit (Temperenz) mit Verzicht (Abstinenz) auf Alkoholkonsum gleichzusetzen war.

Einer der wichtigsten Vertreter dieser Bewegung in der Schweiz war der bekannte Zürcher Psychiater, Gehirnforscher und Ameisenkenner Prof. Dr. Auguste Forel (1848-1931), dessen Porträt während Jahren auf der schweizerischen 1000er-Banknote abgebildet war. Er gilt als Vater der Schweizer Psychiatrie. Als Chefarzt einer psychiatrischen Universitätsklinik und Initiator einer Trinkerheilstätte kannte er sich mit den körperlichen, seelischen und sozialen Folgen des Konsums von Suchtmitteln gut aus. Deshalb forderte er 1890 in einer Rede vor Studenten: «Die vollständige Abstinenz muss sich auf alle Gifte erstrecken. Selbst mit den sozial ungefährlichen Getränken … ist im Interesse des individuellen Wohlseins wenigstens Mass zu halten. Das natürliche, normale Getränk des Menschen … ist das Wasser.»

Paradoxerweise liegt Forel damit viel näher bei Paracelsus als die Vertreter des mässigen Trinkens, die dessen Aussage oft verzerrt wiedergeben. Paracelsus hat nämlich gesagt: «Alle Ding' sind Gift und nichts (ist) ohn' Gift; allein die Dosis macht, dass ein Ding' kein Gift ist.» Konkret: Auch an und für sich gesunde und lebensnotwendige Dinge wie Wasser oder Sauerstoff können im Übermass «giftig», also schädlich werden. Etwas grundsätzlich Schädliches wird aber nicht plötzlich gesund, nur weil es in einer geringen Dosis zu sich genommen wird. Dies gilt unabhängig davon, ob das Gift in der Natur vorkommt, etwa giftige Pilze oder bakterielle Toxine, oder von Menschen teilweise oder ganz synthetisch hergestellt wird, wie etwa bei Drogen und bei Insektiziden.

Interessanterweise wird dieser Sachverhalt auch in Bezug auf den Konsum von Alkohol durch aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen zunehmend bestätigt. Dessen krebsfördernde Wirkung ist bereits ab einem Drink pro Tag nachweisbar, und selbst die in zahlreichen Studien festgeschriebene und jahrzehntelang behauptete herz- und gefässschützende Wirkung eines (regel-)mässigen Konsums wird heute von vielen Forschern eher der mangelhaften Qualität der Studien als dem Alkohol zugeschrieben. Das niedrigste Risiko für eine beeinträchtigte Gesundheit besteht bei völliger Abstinenz. Führende Gesellschaften von Herzspezialisten etwa in den USA und Australien empfehlen deshalb heute niemandem mehr aus gesundheitlichen Gründen den Konsum von auch nur geringen Mengen Alkohol.

 

Massvoll leben

Mässigkeit bedeutet also im Zusammenhang mit schädlichen Stoffen oder Verhaltensweisen, am besten ganz darauf zu verzichten. Das Gute dagegen darf massvoll genossen werden. Dies jedoch ist nun keine halbherzige Angelegenheit. Wer um die Spannung zwischen zwei Tugenden weiss und diese aushalten kann, wird das Gute auf beiden Seiten geniessen. Er wird von ganzem Herzen mit den Fröhlichen lachen und mit den Traurigen weinen. Er weiss, dass ihm zwar alles erlaubt, aber nicht alles gut für ihn ist. Sein Masshalten lässt ihn sein Leben so gestalten, dass es gelingt.

 

1 eingetragene Marke, siehe: https://www.llg.ch/newstart-plus/konzept

2 gemäss Friedemann Schulz von Thun

3 nach Prediger 3

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