Heimat

Heimat ist da, wo ich zuhause bin, mich wohl fühle, angenommen bin, dazu gehöre. Was macht sie aus? Und was heisst es für Betroffene, wenn sie verloren geht? Heimatgefühle haben etwas mit Sehnsucht zu tun, Sehnsucht nach dem Bekannten, dem Gewohnten. Nach der «guten Welt», wo ich meine Wurzeln und mir wichtige Erinnerungen habe. Gut ist diese Welt, weil geliebte Menschen da sind, die mir vertrauen und denen ich vertrauen kann.

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Heimat ist auch der Ort – geografisch oder auch mental –, wo ich mich zurechtfinde, weiss, wie es läuft, was die Menschen von mir erwarten, und auch, was ich von ihnen erwarten kann.

Und das Gegenteil von Heimat – ist das heimatlos? Oder papierlos – «sans papiers»? Nicht heimisch, sondern fremd, ohne Existenzberechtigung?

Der Rauch der Waldbrände in Kanada, die der Wind neulich bis in die Schweiz getrieben hat, raubte für 2-3 Tage der Sonne auch hier ihre strahlende Leuchtkraft und verschleierte unsern blauen Himmel. Wie auch der gelbe Saharastaub, der zuweilen über Wochen bei uns schwebt und sich auf Gartenmöbel und Autolack niedersetzt. Zeigt das, dass wir auf unserer Erde gar nicht so weit auseinander liegen? 

(Bild: Aquilatin auf Pixabay)

Weltweit verbunden

Was in Kanada und in Afrika geschieht, betrifft auch uns. Wir sind und haben nur eine Erde. Heisst das womöglich, dass die ganze Erde zu meiner Heimat wird? Automatisch? Wenn das so ist, dann sind wir der alttestamentlichen Prophezeiung in Jesaja 65,25 über die Gemeinschaft des Löwen mit den Lämmern schon recht nahe, möchte man meinen.

In Tat und Wahrheit geht der Trend jedoch in eine andere Richtung. Das Vertrauen geht mehr und mehr verloren. Gerade jetzt, wo Werthaltungen, Verträge und Konventionen, die international über Jahrzehnte ausgehandelt worden sind, fast über Nacht aufgelöst, ungültig erklärt oder gebrochen werden.

Es ist für mich unfassbar, wie leichtfertig das geschieht. Und die verheerenden Folgen davon, die uns alle treffen, sind eine Provokation. Der Ausstieg der USA aus der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der UNO und aus dem Klimaabkommen bringt den Zusammenhalt, die vereinbarten Regeln und das soziale Gefüge auf unserer Welt komplett durcheinander. Das Kippen des Atomwaffenverbots ist hoch gefährlich, und mit dem Lockern der Waffenausfuhrbestimmungen zieht die Schweiz auf unverständliche Art mit. Wer hätte das – noch vor einem halben Jahr – für möglich gehalten? Die Erde wankt. Unser Zusammenleben ist gefährdet und die lange, kriegslose Zeit in Europa geht plötzlich zu Ende.

 

Was, wenn Heimat verloren geht?

Hunderttausende von Menschen verlieren ihre Heimat jährlich durch Krieg, Vertreibung oder Flucht. Das ist bekannt. Aber es gibt als Ursache auch den Hunger und die Unmöglichkeit, die eigene Familie in der Heimat ernähren zu können. Würden wir da nicht auch fortgehen und ein Land suchen, wo es genug Nahrung gibt, wo die Kinder genug zu essen haben, gesund bleiben und eine Schulbildung erhalten?

Ist hier der Begriff «Wirtschaftsflüchtling» wirklich korrekt? Was taten denn unsere Vorfahren aus dem Prättigau und dem Glarnerland, als sie Mitte des 19. Jahrhunderts in Brasilien ihr Glück suchten, oder unser Nachbar, der in den 1970er-Jahren nach Kanada auswanderte? Nicht weil er und seine Liebsten unbedingt dorthin wollten, sondern weil er eine landwirtschaftliche Existenz suchte, nachdem sein Bruder den elterlichen Hof übernommen hatte, dieser jedoch nicht mehr als eine Familie zu ernähren vermochte.

Wer seine Heimat verloren hat, wird sie vermissen, manchmal sein ganzes Leben lang. Damit lässt sich auch erklären, warum im Ausland Schweizer-Clubs entstehen, wo die Auswanderer unter sich sind und mit ihrer gemeinsamen Kultur, Sprache und dem Zelebrieren ihrer Traditionen ein Stück Heimat zu bewahren versuchen.

Das Gleiche tun auch Menschen aus dem Balkan, aus Afrika und Sri Lanka hier bei uns. Sie pflegen den Kontakt miteinander, sprechen ihre Muttersprache und feiern Zusammenkünfte und Feste. Das gibt ihnen ein Stück Heimat zurück. Hier schöpfen sie Geborgenheit, Vertrautheit und haben das Gefühl, gleichwertig zu sein. Dass dies für einige wichtiger ist als der Kontakt zu den Schweizer Nachbarn oder der Besuch eines Sprachkurses – so ärgerlich das auch sein mag – darf uns nicht erstaunen.

Es erschwert jedoch die Integration. Und es kann auch zu Rissen in der Familie führen. Kinder lernen in der Schule deutsch und werden – richtigerweise – im Integrationsprozess unterstützt, auch wenn das von allen Seiten viel Kraft, Zeit und guten Willen erfordert. Gelingt dies, vermittelt ihnen das Orientierung; sie können sich einordnen und gehören dazu. Kinder wollen ja bekanntlich so sein wie die anderen. Das führte in unserer Schule einst dazu, dass Kinder nur noch Deutsch sprechen wollten. Da dies zuhause nicht verstanden wurde und sie sich so der Muttersprache verweigerten, führte das zu einer Entfremdung und extremen Verhaltensauffälligkeiten bei den Kindern.

 

Heimat verlieren in der Schweiz

Wie ist es denn mit den Menschen in Blatten VS, deren Häuser verschüttet wurden und die ihr gesamtes Hab und Gut verloren haben? Auch sie stehen vor dem Nichts. Es muss schrecklich sein. Und doch: Haben sie damit ihre Heimat verloren? Ein Stück Heimat bestimmt. Die Sicherheit von Kleidung, Nahrung und Dach über dem Kopf ist auch ihnen abhandengekommen, und Erinnerungsstücke sind endgültig verloren gegangen. Doch es ist anzunehmen, dass sie ein grosses Stück Heimat, oder was dieses Gefühl ausmacht, behalten haben und darin eine tragfähige Stütze in ihrem Unglück erleben können.

Die Familienangehörigen sind noch da. Wie auch Hilfe aus dem Tal, von Militär und Zivilschutz, Geldsammlungen und Solidaritätskundgebungen und Menschen, die um ihre Unterkunft besorgt sind und sie begleiten.

Heimat ist mehr als nur das eigene Tal. Eine Umsiedlung ist nicht das, was man sich wünscht. Das sehen wir auch in Brienz GR, wo eine erneute Sperrung des Dorfes verhängt werden musste. Doch es ist ein Lösungsweg in einer unabänderlichen Situation und hilft, die Not zu lindern.

Ein Stück Heimat geht auch verloren, wenn die Ehe der Eltern auseinanderbricht, der Umzug ins Altersheim ansteht, ein geliebter Mensch stirbt und vielleicht auch dann, wenn ein Wohnungswechsel in einen andern Kanton angesagt ist. Das alles erzeugt Unsicherheit und ist mit Schmerzen, Ängsten und Wehmut verbunden.

Liebe Menschen zurücklassen, die gewohnte Umgebung, Selbstverständliches und die Unabhängigkeit aufgeben – das tut weh. Solche Erfahrungen lassen nachempfinden, wie es Menschen gehen muss, die aus Asien, Afrika oder auch aus Osteuropa zu uns kommen.

 

Eine neue Heimat finden

Was es dazu wohl braucht? Wenn der ärgste Schmerz überwunden ist, braucht es die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen. Dabei geht es ums Loslassen auf der einen Seite und gleichzeitig ums Hinhören und Hinschauen auf das, was hier gilt und möglich ist, aber auch darum, sich einzufügen. Und um das Fassen von Vertrauen.

Doch wie kann jemand, der oder die verfolgt, missbraucht, traumatisiert und verleumdet worden ist, Vertrauen fassen in wildfremde Menschen? Und zum Beispiel der Polizei (im Blick auf Südafrika) oder dem Nachbarn (DDR) in den 1980er-Jahren bzw. den sogenannten «Helfern» vertrauen, nachdem man durch Schlepper ausgebeutet und mitten im Meer auf Schlauchbooten in Todesgefahr getrieben worden ist?

Aus einem gesunden Heimatgefühl heraus, ohne allzu belastende oder traumatische Vorerfahrungen ist es erheblich einfacher, Gewesenes loszulassen und eine «neue Heimat» zu finden. Heimisch fühlt man sich dort, wo man sich angenommen fühlt, ernst genommen wird, und wo man auch mitwirken und mitgestalten darf. Das vermittelt Selbstvertrauen, das Gefühl, dazu zu gehören und eine Daseinsberechtigung zu haben.

Was kann ich, was können wir in der eigenen Umgebung dazu beitragen?

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