Was im Grossen gilt, gilt auch im Kleinen. Auch unser eigenes Leben ist zunehmend zerrissen und zersetzt. Auch ich bin hin- und hergerissen, habe keinen festen Boden unter den Füssen. Auch ich bin allein und weiss weder aus noch ein.
Aus «nicht gut» kann «sehr gut» werden
All das ist nicht gut. Und der Theologe in mir versucht zu ergänzen: «So ist nun mal unsere gefallene Welt. Sünde und Tod haben sie entstellt.» Ja, dem ist so. Und doch ist es nicht die ganze Geschichte. Noch bevor die Sünde in die Welt tritt, wird in der guten Schöpfung ein nicht gut vernommen: «Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht1.» Nicht jedes nicht gut ist das Ende eines Prozesses des Niedergangs. Manches nicht gut steht auch am Anfang eines Weges des Aufstiegs, steht für die Nacht vor dem Morgen einer neuen, herrlicheren Welt. Mit seiner Frau wird dem Manne mehr als geholfen: Er findet Gemeinschaft und bindet sich, um die menschliche Kultur zu schaffen.
Ein Opfer in drei Schritten
So weit, so gut. Doch wie gelangt der Mensch – und die Welt – vom nicht gut zum gut bzw. sehr gut? Über den Weg des Opfers, des Geopfertwerdens. Im späteren Opferkult Israels durchlaufen Opfertiere, die den Menschen repräsentieren, drei Stationen2. In einem ersten Schritt wird das Tier geschlachtet und dessen Blut zur Vergebung und Reinigung vergossen bzw. versprengt. In einem zweiten Schritt wird das Tier gehäutet, gewaschen, in seine Einzelteile zerteilt und auf den Altar gelegt. In einem dritten und letzten Schritt wird das Tier (ganz) verbrannt, damit es teils in Rauch verwandelt zu Gott aufsteigt und teils als Mahlzeit vor den Augen Gottes und damit in Gemeinschaft mit ihm vom Volk gegessen wird. Vergebung, Hingabe, Gemeinschaft. Oder auch: Tod, Teilung, Wiedervereinigung3.
Genau diesen Weg geht der erste Mensch, der von Gott im Paradies quasi geopfert wird4. Gott hätte die Frau, wie den Mann zuvor, ebenso aus der Erde formen und wachküssen können. Doch wählt er einen anderen Weg. In einem ersten Schritt lässt er den Menschen in einen tiefen, todesähnlichen Schlaf fallen. In einem zweiten Schritt entnimmt er ihm – wortwörtlich – eine seiner beiden Seiten: Gott teilt ihn in zwei Hälften und baut aus der einen die Frau. In einem dritten und letzten Schritt erwacht der Mensch vom Todesschlaf, erblickt seine ihm fehlende Hälfte und spricht seine ersten Worte: Durch das Feuer der Frau hat er nun Feuer gefangen und brennt darauf, sich mit ihr wieder zu vereinigen5. Also auch hier: Getötet, geteilt, wiedervereint.
Sich opfern als fruchtbarer Weg
Der Weg, sich zu opfern, ist nicht erst angesichts der Sünde eröffnet worden. Gott lädt den Menschen seit jeher dazu ein, sein Leben freiwillig hinzugeben und von ihm verwandelt zu werden. Er ruft uns, mitten im Leben zu sterben und wieder aufzu(er)stehen. Nur auf diesem Weg werden Leben und Welt besser, nur so ist vollständiger, voller Frieden möglich – und Frucht. «Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht6.» Jesus ist der letzte Adam, der stirbt und Vergebung bringt. Der sich am Kreuz hingibt, die eine Seite öffnen lässt und aus Wasser und Blut, aus Taufe und Abendmahl, seine Braut – die christliche Gemeinde – schafft. Wir, die wir seinen Namen tragen, brennen darauf, uns mit ihm am Ende der Zeit zu vereinen7.
Karfreitag und Ostern sind von Anfang an in unsere Welt und ihren Weg eingezeichnet. Aus Tod und Auferstehung des ersten Adams erwächst ein besseres Leben, eine nun sogar sehr gute Welt. Auch Tod und Auferstehung des letzten Adams sind nicht nur die Lösung des Problems von Sünde, Tod und Teufel, sondern der Anfang einer noch besseren, himmlischeren Welt. «Der erste Mensch ist von der Erde und irdisch; der zweite Mensch ist vom Himmel. (…). Und wie wir getragen haben das Bild des irdischen, so werden wir auch tragen das Bild des himmlischen8.» Diese neue Welt erwartet uns, wenn wir dann leibhaftig sterben – und auferstehen. Diese neu eröffnete Welt darf aber bereits im Hier und Jetzt greifbar werden – wie im Himmel so auf Erden.
Opfern im Gottesdienst ...
Ein Vorgeschmack der kommenden Welt gibt es im christlichen Gottesdienst. In der Liturgie findet der Weg des Opfers seine Erfüllung. In einem ersten Schritt bekennen wir unsere Sünden und finden dank des vergossenen Blutes Jesu Vergebung und Reinigung9. Hier dürfen wir Altes getrost loslassen und in den Tod hineingeben. In einem zweiten Schritt geben wir uns Gott in Gebet und Gesang – im Lobopfer – ganz hin und lassen uns in Schriftlesung und Predigt von seinem Wort in unsere Einzelteile zerlegen10. In einem dritten und letzten Schritt kommen wir vollends in Gottes feurige Gegenwart, haben Gemeinschaft und finden Frieden: An seinem Tisch, von seinem Altar essen wir und werden neu zum Leib Christi, der wir bereits sind11.
... und in unserer heutigen Welt
Unsere Welt, unsere Gesellschaft und unser Leben sind zunehmend polarisiert und fragmentiert. Das ist wahrlich nicht gut. Doch kann dieses nicht gut wie gesagt auch als Anfang eines Weges des Aufstiegs, als eine Nacht vor dem Morgen zu einer neuen, herrlicheren Welt begriffen werden. Es ist der Weg des Opfers, der Prozess des Geopfertwerdens.
Auf den Spuren des ersten und letzten Adams dürfen wir getrost loslassen und unsere Lebensfragmente vor Gott ins Feuer legen – in der Hoffnung auf Auferstehung, auf Verwandlung und Vereinigung. Diesen Weg müssen wir nicht alleine gehen: In der christlichen Gemeinschaft, in Gottesdienst und Liturgie, finden wir weitere Weggefährten, für die es ebenso besser ist, wenn sie nicht allein bleiben.
1 1. Mose 2,18
2 vgl. 3. Mose 1-7
3 vgl. dazu das sehr anregende Buch von L. Michael Morales, Who Shall Ascend the Mountain of the Lord? A Biblical Theology of the Book of Leviticus, Downers Grove, 2015.
4 vgl. 1. Mose 2,18-25
5 Der Mensch (adam) wird erst hier zum ersten Mal Mann (iš) genannt – in dem Moment, als er die Frau (iššah) erblickt. Die hebräischen Begriffe iš und iššah erinnern stark an eš, das hebräische Wort für Feuer. Gott hat die weibliche Opfergabe sozusagen in Brand gesetzt, um am Ende auch den Mann brennen zu lassen. Vgl. dazu die äusserst tiefgründige Auslegung von Peter Leithart, The Glory of Man: On the Creation of Woman, West Monroe, 2024.
6 Johannes 12,24
7 vgl. Johannes 19,34; 1. Korinther 15,42-49; Epheser 5,31-32
8 1. Korinther 15,47.49
9 1. Johannes 1,9
10 Hebräer 4,12; 13,15
11 1. Korinther 10,16-17; Hebräer 13,10. Für eine ausführliche Auseinandersetzung siehe Jeffrey Meyers, The Lord’s Service: The Grace of Covenant Renewal Worship, Moscow, 2003.
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