Dazu zuerst ein kurzer Blick in die Musikgeschichte. Tatsächlich ist die heute gepflegte Form des klassischen Konzerts oder der Oper gar nicht so alt. Beides hat sich nicht zuletzt auch aus dem Hören auf die sakrale Musik heraus entwickelt. Die Kirchen sind also mit «schuld» am heutigen Klassikbetrieb. Aber es ist natürlich falsch, von «Schuld» zu sprechen, hat dieser Klassikbetrieb doch auch für sich etwas Grossartiges.
Eine alte Tradition
Und doch: Etwas scheint verloren gegangen zu sein, was früher offenbar gang und gäbe war. Tatsächlich war die Musikkultur bis ins 19. Jahrhundert hinein «im Allgemeinen stärker von Elementen einer wechselseitigen Beziehung zwischen Bühne und Publikum geprägt ... von ungeplanten Überraschungen, auf die sich die Ensemblemitglieder miteinander einliessen», so die Improvisations-Expertin Pauliina Haustein.
Musiker konnten etwa an einem Volksfest spontan von Zuhörern angestimmte Melodien aufgreifen und fortführen. Voraussetzung für diese Art von Partizipation war allerdings, dass die Musiker nicht (nur) für ein elitäres Konzertpublikum spielten, sondern Brücken zwischen verschiedenen «Milieus» schlagen konnten. Und schliesslich musste es einen Rahmen für solche Interaktionen geben. Die Kirche bot diesen Rahmen – ausser beim Orgel-Zwischenspiel – leider nicht.
Eine hohe Kunst
Stehen auf dem musikalischen Olymp heute jene Virtuosen, die eine fertige Komposition interpretieren, so wurden früher auch Könner der Improvisation bewundert. Einer davon war der Geiger Alexandre Boucher. 1844 nahm er in einem Konzert spontan den Ton eines anrollenden Gewitters auf und fing dann kunstfertig den um das Konzerthaus pfeifenden Wind, den Regen, den plötzlich hereinbrechenden Hagel und schliesslich die Blitze musikalisch ein.
In den letzten Jahren werden allerdings auch in den Musikhochschulen mehr und mehr Improvisationskurse angeboten. Dass Jazz ohne Improvisation nicht auskommt, steht ohnehin auf einem anderen Blatt.
Klangporträts
«Es war eine wunderschöne Erfahrung, so ein Klangporträt persönlich zu erhalten. Mein Leben ging mir durch den Kopf mit all den Höhen und Tiefen, die man erlebt.» – «Es war für mich sehr berührend. Was mir in Erinnerung bleiben wird: Es hat mir irgendwie viel 'Mut' zugesprochen.» Dies sind nur zwei von vielen Reaktionen auf improvisierte «Klangporträts», die während der Eurovision Song Contest-Woche im Kreuzgang des Basler Münsters «gemalt» wurden.
Worum ging es? Berufs-Musikerinnen und Musiker boten Passanten an, auf einem Stuhl Platz zu nehmen und sich «malen» zu lassen. Nicht mit Pinsel und Papier, sondern rein musikalisch. Natürlich kannte man diese Menschen nicht. Man liess sich auf das Gegenüber ein und vertraute auf spontan einfallende musikalische Ideen. Dabei wurde nicht allein, sondern in Ensembles gespielt, was eine zusätzliche Herausforderung darstellte. Hinter diesem Angebot stand unsere christliche Musikerarbeit «Crescendo», weshalb ich aus erster Hand erzählen kann.
Play and Pray
Wir kennen diese Art des improvisierten Spielens seit nunmehr dreissig Jahren. Ein Ensemble aus England führte uns damals in die Kunst der Improvisation ein – oder genauer: In die Praxis des «betenden Improvisierens», denn diese alte Kunst verband sich bei ihnen auf stimmige Weise mit Inspiration und mit der (non-verbalen) Artikulation von Eindrücken, die im Gebet empfangen wurden.
Wir fanden dafür den schlichten Namen «Play & Pray» und führten in der Folge zahlreiche Workshops und praktische Einsätze durch. So spielte ein Ensemble auf einer Esoterikmesse und bekam mit, wie stark sich Leute angezogen fühlten und interessiert fragten, was denn das besonders «Wohltuende» dieser Musik ausmache. Anfang Januar 2025 organisierten wir in England eine weitere Musiker-Retraite, auf der das Konzept der «Sound Portraits» – solcher Klangporträts – vorgestellt und praktisch umgesetzt wurde.
«Ihr kennt mich doch gar nicht!»
Weitere Reaktionen auf solche Klangporträts zeigen, wie eng Improvisation und Inspiration miteinander verknüpft sein können. Da sagte jemand: «Was für eine schöne Musik! Und dann habt ihr mein bisheriges Leben dargestellt. Ihr kennt mich doch gar nicht! Es wurde deutlich, dass mein Leben sehr schwierig gewesen war, und das ermutigte mich. Der zweite Teil meines Porträts war dann eine Einladung zum Tanz ...»
Kommen die Klangporträts ohne gesprochene oder gesungene Worte aus, so ergibt sich im Anschluss daran das eine oder andere Gespräch – oder die Musiker sagen ein paar Worte über das, was sie selber empfunden haben.
Improvisation mit Orchestern
Auch im nicht-christlichen Bereich wird Improvisation neu entdeckt. So leitet Pauliina Haustein nicht nur bei Crescendo den Arbeitszweig «Play & Pray», sondern hat auch Orchestern in Finnland und Norwegen Improvisations-Workshops gegeben.
Und wer weiss: vielleicht ist dies ein Anstoss, dass man diese Kunst auch in der grösseren Klassik-Szene wieder neu entdeckt – nicht zuletzt, um zwischen verschiedenen sozialen Milieus Brücken zu schlagen.
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