Gewalt und andere Möglichkeiten, Gräben zu überwinden

«Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt!» – In Goethes Ballade «Der Erlkönig» reitet ein Vater mit seinem Sohn durch die Nacht. In seinen Fieberträumen glaubt der Junge, den Erlkönig zu sehen, der ihn zu sich lockt. Doch der Junge merkt, dass sich dahinter der Tod verbirgt und wehrt sich. Als dem Tod bewusst wird, dass das Locken nichts nützt, nimmt er seine Erlkönigsmaske ab, zeigt sein wahres Gesicht und setzt sein Ziel mit Gewalt durch. 

(Lesezeit: 8 Minuten)

Der Ansatz «…bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt» ist wohl nie ganz aus der Mode gekommen. Heute scheint es mir ein anerkannter und von vielen als ein als notwendig erachteter Weg in politischen, gesellschaftlichen und auch Glaubensdiskussionen zu sein: «Wenn du nicht so denkst wie ich, dann bist du raus.»

Ist das nicht manchmal legitim? Muss es nicht manchmal auch Grenzen geben? In diesem Beitrag gehe ich der Frage nach, wie wir mit Differenzen, mit Unterschieden umgehen können, so dass das Leben blühen und das Reich Gottes aufleuchten kann.

(Bild: Tumisu auf Pixabay)

Schalom – den Frieden trotz menschlicher Schwäche wiederherstellen

Vor einigen Jahren hat die Anglikanische Kirche den 5-teiligen Kurs «Difference»1 entwickelt, in dem es darum geht, konstruktiv mit Unterschieden umzugehen. In Kleingruppen kann man über Unterschiede sprechen und darüber nachdenken, wozu Gott uns in solchen Situationen beruft. Denn das Problem im Umgang mit Unterschieden ist, dass wir uns dabei oft gegenseitig ausgrenzen. Dabei geht es nicht nur um Meinungen, sondern auch um Kulturen, Umgangsformen, Ideen, Aussehen, Geschlecht und vieles mehr.

Der Grundgedanke des Kurses ist die Überzeugung, dass Gottes Ziel die Wiederherstellung des Friedens ist, des Friedens im Sinne des hebräischen Wortes Schalom. In diesem Begriff geht es darum, dass etwas wieder ganz, wieder vollständig wird. Darin leuchtet das Reich Gottes auf. Jesus hat die, die ihm nachfolgen wollen, dazu aufgerufen, auf diesem Feld zu arbeiten, das reif ist für die Ernte.

Interessant ist dabei, dass Jesus auf die Schwachen setzt: Selig sind die Armen, die Sanftmütigen, die Frieden stiften, die, die sich nach Gerechtigkeit sehnen2. Bei Paulus sehen wir dasselbe. Er, stark und wortgewaltig in seinen Briefen, hat erkannt, dass die Kraft Gottes dann deutlich hervortritt, wenn er – Paulus – schwach ist3. Deswegen schreibt er: «Was nach dem Urteil der Welt ungebildet ist, das hat Gott erwählt, um die Klugheit der Klugen zunichte zu machen, und was nach dem Urteil der Welt schwach ist, das hat Gott erwählt, um die Stärke der Starken zunichte zu machen4

Der Theologe N. T. Wright betont, dass Gott nicht die Panzer in die Welt schickt – was wir uns manchmal wünschten – sondern die Armen, die Sanftmütigen, die Friedensstifter und die, die nach Gerechtigkeit suchen. Menschen wie du und ich. Während die Mächtigen dieser Welt noch um die Macht ringen, so Wright, lassen diese Menschen das Reich Gottes vor Ort aufleuchten: Sie bauen Krankenhäuser und Schulen und predigen den Armen das Evangelium5.

Wer Jesus nachfolgt, darf darauf vertrauen, dass es nicht auf die eigene Stärke ankommt. Das kann entlastend wirken. Aber natürlich auch demütig machen – immer dann, wenn ich mir eingestehen muss: «Ich kann nicht alles und ich weiss nicht alles.» Daraus entstehen aber neue Möglichkeiten: Gottes Möglichkeiten, seine Kraft in unserer Schwachheit, wie Paulus sagen würde. Deswegen lohnt es sich, mit Ausdauer auf Gott zu vertrauen und sich in die Welt senden zu lassen. 

 

Was bedeutet das für den Umgang mit Unterschieden?

Der Kurs «Difference» schlägt vor, sich drei Gewohnheiten anzueignen:

1) Sei daran interessiert, die andere Person besser zu verstehen. Versuche, die Geschichte der anderen Person kennen zu lernen. Mache es zu deiner Gewohnheit, Menschen interessiert und neugierig zu begegnen, ohne schon fertige Bewertungen parat zu haben.

2) Sei präsent, um ganz im Moment zu sein und auch deine eigene Geschichte und deine eigenen Gedanken einzubringen.

3) Stell dir etwas Neues vor. Lass dir vom Geist Gottes die Augen öffnen für etwas, das du bisher nicht sehen konntest. Bringe die grosse Geschichte Gottes mit dieser Welt mit der aktuell schwierigen Situation in Verbindung, um dann neue Wege auszuprobieren.

Es geht nicht darum, wer gewinnt, sondern ob wir uns etwas vorstellen können, das über Gewinnen und Verlieren hinausgeht. Es ist Gottes Projekt mit dieser Welt, Schalom zu schaffen, das Reich Gottes, in dem einmal alles wiederhergestellt sein wird. In dieses Projekt, das mit dem ersten Kommen von Jesus Christus in diese Welt begonnen hat, lädt er uns ein. Unsere Frage lautet dann: «Wie kann hier etwas Neues entstehen? Wie kann hier etwas gut werden?»

Es geht auch nicht darum, alles zu dulden. In der Bergpredigt gehören die Friedensstifter und diejenigen, die sich nach Gerechtigkeit sehnen, zusammen. Am Ende muss ein gerechter Frieden erreicht werden.

Das alles macht deutlich: Der Umgang mit Unterschieden ist ein mühsames Geschäft. Aber wenn man sich die Mühe macht, einander über die Gräben hinweg zuzuhören, nach der Geschichte des anderen zu fragen, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass ich mehr verstehe und Dinge besser einordnen kann. Vielleicht hat mein Gegner mir auch etwas Wichtiges zu sagen – das sprichwörtliche Körnchen Wahrheit. Und wer weiss, vielleicht ist das ja Gottes Stimme.

Unterschiede sind oft schwer auszuhalten. Die Versuchung, die eigene Sicht der Dinge mit der Brechstange durchzusetzen, ist sehr real und scheint oft der einzige Ausweg zu sein. Neulich sass ich mit einer Gruppe von Mediatoren und Mediatorinnen zusammen, die dafür ausgebildet sind, bei Konflikten zu helfen. Plötzlich wurde es etwas hitzig zwischen zwei Personen, verschiedene Meinungen prallten aufeinander: «So muss es sein». – «Nein, so muss es sein!» Am Ende gingen die beiden wütend auseinander. Etwas ratlos schauten sich die anderen Gruppenmitglieder an: Darf so etwas bei «Konfliktfachpersonen» passieren? Am Ende kamen wir zu dem Schluss, dass es uns alle treffen kann: Wir können an den Punkt kommen, an dem wir vergessen, was uns eigentlich wichtig ist und welche Grundwerte uns eigentlich leiten sollten.

Umso wichtiger scheint es mir, hilfreiche Verhaltensweisen zu üben. Die drei oben genannten Gewohnheiten können da eine grosse Hilfe sein: Sei interessiert, sei präsent, stell dir Neues vor. Diese Tugenden leben von der Hoffnung, dass Gott eines Tages alles wiederherstellen wird. Diese Perspektive kann uns Mut machen, sich auch in hitzigen Momenten nicht zu der allgegenwärtigen Überzeugung verleiten zu lassen, dass die Brechstange das wichtigste Werkzeug im Umgang mit Differenzen ist.

 

1 Dieser Kurs ist unter https://difference.rln.global/ abrufbar. Eine deutsche Übersetzung ist in Zusammenarbeit mit dem Bildungszentrum Bienenberg entstanden: https://difference.rln.global/de/. Bei Fragen zur deutschen Version wenden Sie sich gerne an den Autor dieses Beitrages.

2 Matthäus 5,1-12

3 2. Korinther 12,9

4 1. Korinther 1,27 (NGÜ)

5 N.T. Wright in «How does God work?», siehe: https://www.youtube.com/watch?v=LrMGE_d43Mk

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