Ein Beispiel zur Illustration: Wir sind mit Freunden zum Essen eingeladen. Die Gastgeberin hat mit Freude ein festliches Essen kreiert. Das Wasser läuft uns im Mund zusammen. In der Tagesschau wurde gerade über ein Hungergebiet in Afrika berichtet. Wir diskutieren darüber und – uns vergeht der Appetit. Die Köchin fühlt sich betrogen. Wir haben das Essen weder geniessen können noch einen Verzicht zugunsten der Hungernden geleistet.
Fasten als Gestaltungselement
Fasten als Gestaltungselement des Lebens kommt in vielfältigen Formen vor. Als Verzicht oder als reduzierte Nahrungsaufnahme kann es mehreren Zwecken dienen:
- Therapeutisches Fasten mittels einer Diät – Abnehmen bzw. Kontrolle des Körpergewichtes
- «Politisches Fasten» im Hungerstreik
- Förderung der Wahrnehmung
- Erhöhung der Willenskraft und Vorbereitung auf spezielle Herausforderungen
- In mehreren Religionen als Vorbereitung auf grosse Feiertage
- Im religiösen Glaubensvollzug: christliche Fastenzeit / muslimischer Fastenmonat Ramadan
- Im Alten Testament ist Fasten ein Zeichen der Trauer oder betont den Ernst eines Gebetes1.
Geniessen und Verzichten
In unserer vom Überfluss geprägten Gesellschaft ist es nicht immer leicht, in einem Gleichgewicht zwischen Geniessen und Verzichten zu leben. Diese Spannung umschreibt Helmut Donsbach von der Ruferbewegung mit den Worten: «Wer nicht mehr geniessen kann, wird selber zu einem ungeniessbaren Menschen. Ohne Verzicht jedoch wird echtes, bewusstes Geniessen unmöglich.» Und Anselm Grün sagt: «Wer nicht verzichten kann, kann nicht geniessen. Wer aber so auf das Verzichten fixiert ist, dass er das Geniessen vergisst, wird ungeniessbar!»
Nur wer zu verzichten weiss, kann auch geniessen. Und wer echt geniessen kann, dem fällt es leichter zu verzichten. Jesus Christus war den Genüssen dieser Welt nicht abgeneigt. Er unterschied zwischen dem erfreulichen, aber kurzfristigen Genuss der Sinne und dem Sinn des Lebens. Er sagte von sich: «Ich bin das Leben» und forderte seine Freunde auf, auch hier von ihm zu lernen2: Einerseits feierte er so ausgelassen, dass ihn seine Zeitgenossen einen «Fresser und Weinsäufer» nannten3, anderseits lebte er so einfach, dass er «nichts hatte, wo er sein Haupt hinlegen»4 konnte. Dann wieder forderte er seine Jünger zu einem fröhlichen Fasten auf5.
Fasten und Verzichten – ja, jedoch mit einem sinnvollen Ziel vor Augen. Es ging und geht nicht um einen Verzicht um des Verzichtes willen. Jesus genoss ohne Selbstzweifel, ohne schlechtes Gewissen. So war für ihn die Salbung mit kostbarer Narde – im Wert von immerhin eines Jahresgehaltes – keine Verschwendung6. Die Tat dieser Frau wird ausdrücklich zu einem Teil des Evangeliums erklärt7. Jesus Christus will ein «Leben in Fülle, überfliessendes Leben» ermöglichen8. Doch: Was verstehen wir unter einem «Leben in Fülle»? Mehr dazu in den Anregungen am Schluss.
Fasten zugunsten von… / Verzichten als…
1. Zeit zu lernen, was ich alles nicht brauche
Wie viel Zeit unseres Lebens verbringen wir damit, etwas zu suchen, was uns fehlt? Wenn ich bewusst Verzicht übe, lerne ich, was ich alles nicht brauche.
2. Zeit, wesentlicher werden
Benedikt von Nursia ging davon aus, dass bei einem Christen, wenn er einmal getauft ist, der Idealismus des Anfangs – «l’élan du coeur» – mit der Zeit an Schwung verliert. Das Leben als Christ «nutzt sich im Alltag ab». Deshalb versteht sich die Fastenzeit als Gelegenheit, wieder zur Quelle zurückzukehren. «Mensch, werde wesentlich, denn wenn die Zeit vergeht, so fällt der Zufall fort, das Wesen, das besteht9», sagt Angelus Silesius. Der Verzicht zeigt, was wirklich wichtig ist und hilft, dass mir Prioritäten im Leben (erneut) aufgezeigt werden.
3. Zeit, mir selbstverständlich Gewordenes wieder mehr zu wertschätzen10
«Ich gewinne Raum, um zu sehen, was in meinem Leben wirklich wichtig ist. Wenn ich einerseits das reduziere, was viel Raum einnimmt, und sein Fehlen mir wehtut, erkenne ich neu den Wert dessen, auf das was ich verzichte. Andererseits kann ich durch den gewonnenen Freiraum Neuem Raum geben11.»
«Verzichten verstärkt mein Gefühl von Freiheit und weniger Abhängigkeit12.» Verzicht bringt zuerst Leere, etwa wenn das Glas Wein am Abend vermisst wird. Es ist wichtig, das Vermissen auch zu fühlen. «Die Leere schafft Raum und gibt Wertschätzung für das, was ich weglasse13.» Vieles im Leben verliert an Wertschätzung, wenn es zur Selbstverständlichkeit wird. Ich verzichte bewusst für einige Tage oder Wochen auf Dinge, die normalerweise dazugehören.
4. Zeit, mir «Altes», nicht Lebensförderndes abzugewöhnen, damit Neues sich vorbereiten kann
Das ergibt somit auch Zeit und Raum für Neues.
5. Zeit, solidarischer zu leben, meinen materiellen und ideellen Reichtum bewusster zu teilen
Paulus lehrte gemäss Luther-Übersetzung: «Den Reichen in dieser Welt gebiete, dass sie nicht stolz seien, auch nicht hoffen auf den unsicheren Reichtum, sondern auf Gott, der uns alles reichlich darbietet, es zu geniessen; dass sie Gutes tun, reich werden an guten Werken, gerne geben, zum Teilen bereit sind14.»
In der «Neues Leben»-Übersetzung tönt dieselbe Passage so: «Sag allen, die in dieser gegenwärtigen Welt reich sind, sie sollen nicht stolz sein und nicht auf ihr Geld vertrauen, das bald vergehen wird. Stattdessen sollen sie ihr Vertrauen auf den lebendigen Gott setzen, der uns alles reichlich gibt, was wir brauchen, damit wir uns daran freuen und es geniessen können. Fordere sie auf, ihr Geld zu nutzen, um Gutes zu tun. Sie sollen reich an guten Taten sein, die Bedürftigen grosszügig unterstützen und immer bereit sein, mit anderen zu teilen, was Gott ihnen gegeben hat.»
Praktisch könnte das zum Beispiel heissen:
- Geld in einen Briefumschlag stecken, das ich sonst für Konsumgüter ausgegeben hätte, auf die ich nun bewusst verzichte.
- Den Ressourcenverbrauch im Blick haben. In den wohlhabenden Staaten verbrauchen 20 % der Menschen 80 % der Ressourcen.
Angst vor Verlust oder Kunst des Geniessens?
Statt vor den Gefahren des Genusses zu warnen, scheint es mir es sinnvoller, zur Kunst des Geniessens einzuladen. Denn: Sucht, rücksichtslose Ich-Bezogenheit oder chronische Langeweile – Auswüchse unserer Überflussgesellschaft – offenbaren etwas von unserer Unfähigkeit, geniessen zu können.
Wer von allem nicht genug bekommen kann, zeigt damit ein tiefes Unbefriedigtsein, ja eine Genussunfähigkeit. Ich glaube, dass wir dem hemmungslosen Ausschöpfen des Überflusses in unserer westlichen Gesellschaft – zu Lasten der Entwicklungsländer und der Umwelt – nicht begegnen können mit der Aufforderung, weniger zu geniessen, sondern indem wir lernen, mehr zu geniessen. Das ist – paradoxerweise – nur möglich durch reales Verzichten. Je intensiver ich etwas in mich aufnehmen will, desto mehr muss ich mich beschränken.
Da kommt uns die Angst, etwas zu verpassen, als grösstes Hindernis in die Quere. Nur wenn uns bewusst wird, dass ein bestimmter Genuss gleichbedeutend ist mit dem Verzicht auf andere Genüsse, werden wir echte Zufriedenheit gewinnen. Ohne den freiwilligen Verzicht jagen wir nach immer stärkeren und häufigeren Reizen, ohne je wirklich befriedigt zu sein.
- So ist für mich die erste Tasse frischen Bohnenkaffees am Ostermorgen nach 40 Tagen «Kaffeeabstinenz» während der Fastenzeit jeweils ein Genuss sondergleichen.
- Der Verzicht auf das Reden während der Exerzitien ermöglicht ein Ordnen meines Lebens auf Gott hin, das in seiner Klarheit im Alltag mit den vielen Stimmen um mich herum und in mir kaum möglich ist.
- Das lässt sich ergänzen: mit Verzicht auf Flugreisen, viele Kleider, schlechtes Reden über andere, …
Verzicht ist etwas anderes als Selbstlosigkeit
Natürlich liegt in jedem Genussverhalten auch die Gefahr der Sucht und einer Ich-Bezogenheit, die uns letztlich gemeinschaftsunfähig macht. Zu unserem von Gott geschaffenen Menschsein gehören jedoch Wünsche und Bedürfnisse. Dass wir Ja sagen können zu uns inklusive unserer Sehnsüchte, ist für Jesus die Voraussetzung für Hingabe, Nächstenliebe und Selbstverleugnung15. Selbstverleugnung als ein freiwilliges, bewusstes Zurückstellen eigener Ansprüche, ist nicht dasselbe wie Selbstlosigkeit. Der Kampf in Gethsemane wäre überflüssig gewesen, wenn Jesus keine eigenen Vorstellungen und Pläne gehabt hätte.
Wer selbst nichts hat, kann auch anderen nichts schenken. Man kann nicht die eigenen Gaben und Fähigkeiten gering achten und zugleich andere damit beglücken wollen. Die Aufforderungen Jesu zu einem Verzicht sind begleitet von Verheissungen16. Wenn Jesus uns ermuntert, um seinetwillen unser Leben zu «verlieren», dann auch deshalb, weil er uns davor bewahren will, uns an Dinge zu verlieren, die uns letztlich keinen Frieden geben werden.
Die Lebenshingabe Jesu Christi am Kreuz zeigt uns den Sinn des Verzichtes für andere: Er bewirkt Freiheit von Abhängigkeit und Schuldforderungen. Hingabe ist dort eine Wohltat, wo sie aus einem vollen Herzen und nicht aus dem Gefühl des Mangels entsteht, dass ich sowieso nichts Eigenes bin und habe.
Geniessen oder verzichten? Sowohl als auch: Eins nach dem anderen!
S.R. Dunde17 sagte einmal: «Es ist eine Realität, dass nicht alle Menschen auf der Welt zur gleichen Zeit glücklich sein können. Während wir hier ein Fest feiern, verhungert in Afrika ein Kind. Während aber in Afrika laut und fröhlich eine Hochzeit gefeiert wird, stirbt ein Mensch bei uns einsam, angeschlossen an die seelenlosen Apparate eines Spitzen-Krankenhauses. Es hat keinen Sinn, gleichzeitig fröhlich und traurig sein zu wollen. Das Leid in der Welt wird höchstens noch grösser, wenn wir uns selber keine Freude mehr gönnen. Wer nur noch Elend sieht, erblickt die Welt nur noch mit Scheuklappen. Wer Freude erlebt, den motiviert sie, sich Ziele zu setzen, die die Minderung von Leid zum Inhalt haben. Wer nur noch Schmerz empfindet, wird apathisch und resigniert.»
Wenn wir uns die Freude am Feiern vermiesen (lassen), nehmen wir uns die Kraft zum Verzichten. Im Gewissenskonflikt zwischen Geniessen und Verzichten ist es hilfreich zu wissen, dass wir nicht beides zugleich können, wohl aber nacheinander: «Wenn Rebhuhn, dann Rebhuhn; wenn Fasten, dann Fasten18.»
Auf die vorwurfsvolle Frage der Pharisäer, warum seine Jünger nicht fasten, antwortet Jesus: «Wie können die Hochzeitsleute Leid tragen, solange der Bräutigam bei ihnen ist? Es wird aber die Zeit kommen, dass der Bräutigam von ihnen genommen wird; alsdann werden sie fasten19.»
Es geht nicht darum, «armselig» zu leben, sondern den ganzen Reichtum unserer Hingabefähigkeit zur Entfaltung kommen zu lassen. Liebe, die nur vernünftig handelt, lässt uns frieren. Hier ist der wesentliche Unterschied zwischen kraftvoller Liebe und blutleerer Moral. Jesus steht wahrlich nicht in dem Verdacht, für die Armen nichts übrig zu haben. Aber wenn die Zuwendung den Armen gilt, soll sie ganz dort sein, ungeteilt. Wenn die Zuneigung ihm, Jesus gilt, soll sie bei ihm sein, ebenso ungeteilt. Beides zu seiner Zeit, und beides aus vollem Herzen.
Um mit unserer jeweiligen Schlagseite zu leben und beides im Mass lernen zu können, brauchen wir Christen und Christinnen einander. Es geht darum, voneinander lernen, miteinander Erfahrungen zu teilen: im Festen und Fasten – im Sinne von Verzichten.
Ein bewusstes Ja zum Geniessen schenkt mir Freude, ein bewusstes Nein – und damit der Entscheid zum Verzichten – schenkt mir Freiheit. Wenn ich mich in der Fastenzeit «abkehre» von Dingen und Gewohnheiten, richte ich mein Augenmerk darauf, dass ich mich hinkehre und freier werde für die Begegnung mit Gott und den Mitmenschen.
Anregungen für die persönliche Stille und/oder ein Gruppengespräch
Geniessen und Verzichten können – flexibel sein im Lebensstil nach dem Motto «Ich kann leben wie ein Bettler und auch wie ein König»20
1. Was gehört für mich zu einem «Leben in Fülle»?
2. «Geniessen», «verzichten»: Welche Gefühle (positiv, negativ), Assoziationen, Ängste, Sehnsüchte ... wecken diese Begriffe in mir?
3. Welcher Erfahrungshintergrund hat mich geprägt: eher ärmlich oder wohlhabend aufgewachsen, knausriges oder grosszügiges Elternhaus ...? Welche Seite lebe ich heute mehr aus? Ist es eine gesunde oder eine übertriebene Reaktion auf frühere Erlebnisse? Das ist eine Frage des Masses!
4. Was «besitze», «habe» ich alles? Zum Beispiel: Arbeitsplatz, Geld, menschliche und geistliche Gaben, Gemeinde, Wohnung ...? Ich nehme mir mindestens 5 Minuten Zeit, um eine Liste zu erstellen. Welcher Teil meines «Besitzes» reicht zur Deckung meines Lebensbedarfs, was ist Zugabe?
5. Kann ich meinen Besitz im Moment dankbar und gelassen geniessen? Oder habe ich da und dort Gewissensbisse? An welchen Stellen? Warum? Was kann ich ändern? Will ich etwas ändern? Was habe ich von Gott her gehört?
6. Was bedeuten mir Geld und Besitz? Wie prägen sie meinen Lebensstil? Was bewirken die Worte von Paulus in mir: «Ich habe gelernt, mich in jeder Lage zurechtzufinden: Ich weiss Entbehrungen (Mangel) zu ertragen, ich kann im Überfluss leben. In jedes und alles bin ich eingeweiht: in Sattsein und Hunger, Überfluss und Entbehrung. Alles vermag ich durch ihn, der mir Kraft gibt. Trotzdem habt ihr recht daran getan, an meiner Bedrängnis teilzunehmen. Ihr wisst selbst, dass ich beim Beginn der Verkündigung des Evangeliums, ... mit keiner Gemeinde durch Geben und Nehmen verbunden war ausser mit euch und dass ihr mir ... das eine und andere Mal etwas geschickt habt, um mir zu helfen. Es geht mir nicht um die Gabe, es geht mir um den Gewinn, der euch mit Zinsen gut–geschrieben wird. Ich habe alles empfangen und habe jetzt mehr als genug. Mir fehlt nichts mehr, seit ich von Epaphroditus eure Gaben erhielt, ein schönes Opfer, eine angenehme Opfergabe, die Gott gefällt. Mein Gott aber wird euch durch Christus Jesus alles, was ihr nötig habt, aus dem Reichtum seiner Herrlichkeit schenken. Unserem Gott und Vater sei die Ehre in alle Ewigkeit! Amen21.»
7. Welche Gefühle löst der Gedanke an die Möglichkeit, Mangel zu leiden, bei mir aus?
8. Welches ist für Paulus der Schlüssel, einen so flexiblen Lebensstil zu haben?
9. Worauf verlasse ich mich wirklich? Das zeigt sich auch im «Besitzen» müssen! Wer, was gibt mir Sicherheit? In welcher Weise? Was ist überhaupt «sicher»?
10. Jesus ermutigt uns, uns zuerst für Gottes Reich und seine Gerechtigkeit einzusetzen. Dann würden wir alles erhalten, was wir zum Leben brauchen22. Was heisst das praktisch bezüglich einer vernünftigen Vorsorge, einem gesunden Geniessen und einem verantwortungsbewussten Teilen mit weniger Begüterten?
1 Esra 8,21
2 Matthäus 11,29
3 Lukas 7,34
4 Matthäus 8,20
5 Matthäus 6,16-18
6 Matthäus 26,6ff
7 Markus 14,9
8 Johannes 10,10
9 eigentlich Johannes Scheffler (1624 -1677)
10 Matthias Kramm SJ: «Als Menschen gewöhnen wir uns an alles. In Mexiko habe ich im Mehrfachbettzimmer geschlafen und es gab keine Dusche, derzeit ist es wieder ein Einzelzimmer mit Bad in der Wohnung. Fasten erinnert mich daran, dass ich mich auch wieder vom Luxus entwöhnen kann.»
11 Felix Schaich SJ, Geistlicher Leiter der ISG Berlin, Jugendverband am Canisius Kolleg
12 Markus Franz SJ, Seniorendelegat der Jesuiten in Deutschland
13 Cyrillus Binsasi, Kaplan in Beuel
14 1. Timotheus 6,17.18
15 Markus 8,34ff
16 Markus 10,28-31
17 1953 bis 1993, Psychologe, Theologe, Sozialwissenschaftler
18 Therese von Avila
19 Matthäus 9,15
20 Paulus nach Philipper 4,12
21 Philipper 4,11-20
22 Matthäus 6,33
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