Am 18. Januar 1525 erliess der Zürcher Rat ein Gesetz, wonach alle Kinder innert acht Tagen nach der Geburt getauft werden müssen. Als vermutlich an der Neustadtgasse 1 drei Tage später eine erste «richtige» Taufe stattfand, war laut dem Täuferspezialist und Stadtführer Peter Dettweiler1 «der Konflikt mit den Taufgesinnten unvermeidlich». Felix Manz und zwei weitere Freunde des Zürcher Reformators Huldrych Zwingli beriefen sich dabei auf die Erwachsenentaufe, darunter diejenige von Jesus durch Johannes den Täufer, wie sie im neuen Testament überliefert ist. «Jürg Blaurock bat Konrad Grebel, ihn zu taufen, und taufte dann selbst Felix Manz in einer schlichten Zeremonie», schildert Dettweiler. Die Täufer wurden damit zur Gefahr für die Strategie Zwinglis, gemäss dem katholischen Vorbild, Religion und Staat deckungsgleich in Übereinstimmung zu bringen, jetzt aber gelöst von Rom und nach eingehenden Diskussionen in Regierungs- und kirchlichen Kreisen2. In diesem Konzept galt nun: Wer nicht zur Kirche ging, sondern sich in privaten religiösen Versammlungen traf, und wer seine Kinder nicht taufen liess, war verdächtig und wurde verfolgt. Huldrych Zwingli erwies sich dabei als wenig huldreich. Felix Manz wurde 1527 bei der Schipfe in der Limmat ersäuft. Er war der erste von vielen Märtyrern der Täufer. Damit war die Bewegung in der Stadt Zürich zerschlagen.
Warum haben die Täufer trotzdem überlebt? Sie entwickelten Stärken, die sich als durchsetzungsfähig erwiesen. Stärken, von denen sich unsere heute schrumpfenden Kirchen und unsere Gesellschaft inspirieren lassen sollten. Wir greifen einige Aspekte heraus.
Der Glaube als persönliche Entscheidung
Ein Verdienst der Reformation war die Übersetzung der Bibel in vom Volk gesprochene Schriftsprachen. Damit konnten nicht nur Fachleute, sondern auch gebildete Bürgerinnen und Bürger das Wort Gottes lesen. Und sie entdeckten dabei neue Aspekte des Evangeliums.
Dazu gehörte die heute allgemein anerkannte individualistische Seite des Glaubens. Jesus weist einen jüdischen theologischen Fachmann3 darauf hin, dass der Glaube nicht einfach über die Volksgemeinschaft oder die gemeinsame Geschichte vererbt wird. Das neue Leben entsteht durch den Heiligen Geist im eigenen persönlichen Leben mittels einer wundersamen Geburt, die an die geistgewirkte Zeugung und Geburt Jesu im Körper seiner Mutter Maria erinnert. Christsein wird so zu einer Wanderung zusammen mit dem Jesus, dem Sohn Gottes, beginnend mit einer grundsätzlichen Entscheidung – der persönlichen Hingabe des eigenen Lebens – und gefolgt von weiteren täglichen Entscheidungen, bis Gott, der Vater, seine Kinder ewig zu sich ruft.
Wenn diese Erkenntnis stimmte, bekam die Kirche mit ihren Sakramenten, ihrem Lehr- und Gemeinschaftsangebot eine zweitrangige Stellung, Hierarchien mussten im wörtlichen Sinne in Frage gestellt werden. Die Bibel konnte ab sofort auch von Laien ausgelegt werden. Die Taufgesinnten konnten die neutestamentliche Praxis der Erwachsenentaufe schlicht nicht überlesen, sie wollten und mussten sie ernst nehmen. Schliesslich wollten sie gemäss der apostolischen Anweisung im Blick auf Christus Gott mehr gehorchen als den Menschen4.
Gott mehr gehorchen als den Menschen
Die täuferische Auslegung des Glaubens war für die Staatskirche auch in ihrer reformierten Variante gefährlich. Während einige Sakramente5 eher interner Natur waren, hatten die Ehe und die Kindertaufe eine amtliche Bedeutung. Die entsprechenden Register wurden von der Kirche geführt6. Mit der Erwachsenentaufe wurde somit das staatliche und kirchliche System gleichzeitig in Frage gestellt.
Weitere biblisch begründete Verstösse gegen die staatliche Ordnung waren die Weigerung, einen Treue-Eid auf den Staat oder einen lokalen Herrn zu schwören7 und – im Blick auf die Friedenstheologie der Bergpredigt8 – Militärdienst zu leisten. Deshalb wurden die Taufgesinnten verfolgt. Im Staat Bern gehörten dazu Enteignungen, Vertreibungen, Geiselhaft, Folterungen und Hinrichtungen im Marzili an der Aare, oder das Überweisen von betagten Täufern zum «Absterben» ins Gefängnis nach Bern und Galeerenstrafen.
Die Täufer mussten sich im Geheimen zu Hausgottesdiensten treffen, manche ergriffen auch die Flucht. Während in der Stadt Zürich die Taufgesinnten vollständig vertrieben wurden, kamen die emmentalischen Täufer vom Heimweh getrieben oft zurück: sie wollten sehen, was mit ihren enteigneten Höfen und ihrer Verwandtschaft geschehen war. Darum gibt es noch heute im Emmental Täuferfamilien, deren Geschichte sich bis in diese Zeit zurückführen lässt.
Der Glaube braucht eine verbindliche Gemeinschaft
Die Versammlungen der Täufer waren Hausgemeinden, wie wir das heute nennen würden. Wegen häufiger Verfolgungen verfügten sie über «keine Institutionen, keine Gebäude, nur über ein kleines Budget und wenig Strukturen. ... Die Expansion erfolgte ... ohne operative Planung, Leitung und Finanzierung, durch schnelle Mobilisierung von weiteren Akteuren mit Führungsfunktion, die so zu Schüsselfiguren für die Ausbreitung der Bewegung in ihrer Region oder innerhalb ihres eigenen Beziehungsnetzes wurden9.» Täufergemeinden entstanden laut Eggenberger nicht nur in Zürich, sondern auch «in Süddeutschland und im norddeutschen-niederländischen Raum, wo Menno Simons der überragende Täufer-Führer war»10. Die ständig neue Suche der Täufer nach toleranteren Staatsgebieten führte letzlich zu ihrer weltweiten Ausbreitung.
Der individualistisch geprägte Glaube hatte aber auch Risiken. Das persönlich gefärbte Auslegen der Bibel konnte zu Irrtümern und Fixierungen auf einzelne liebgewordene Aspekte führen, seien sie biografisch geprägt, als Zeichen der Unreife oder als Resultat der eigenen Sturheit. Die Auslegung der Schrift musste deshalb diskutiert werden. Für dieses Gespräch brauchte es kleine, überblickbare Gemeinschaften, die Teil einer grösseren Gemeinschaft waren.
Dass es gelang, trotz der chaotischen Verbreitung und der Atomisierung in kleine Gemeinschaften so etwas wie einen gemeinsamen theologischen Nenner zu finden, grenzt an ein Wunder. Ein erstes Glaubensbekenntnis der Taufgesinnten wurde im heutigen Kanton Schaffhausen schriftlich niedergelegt: in den Schleitheimer Artikeln. Es entstand zwei Jahre nachdem der Zürcher Rat die Ausrottung der Täufer beschlossen hatte. «Am 24. Februar 1527 fand an einem geheimen Ort in Schleitheim die erste Täufersynode statt, an der über den weiteren Kurs der Bewegung beraten und die Artikel beschlossen und niedergeschrieben wurden11.»
Im ersten von sieben Artikeln wurde definiert, was unter einer Taufe zu verstehen war. Es war eine Glaubenstaufe an Erwachsenen, «die über die Busse und Änderung des Lebens» belehrt worden waren «und an die Auferstehung und die Vergebung der Sünden durch Jesus Christus» glaubten. Im zweiten Artikel wurde geklärt, was mit fehlbaren Gemeindegliedern zu geschehen hatte. Gemäss dem biblischen Vorbild sollten sie «nach zweimaliger heimlicher Mahnung vor der ganzen Gemeinde zurechtgewiesen oder allenfalls von ihr ausgeschlossen werden»12. In weiteren Artikeln ging es um die Teilnahme am Abendmahl, die Absonderung von allen Einrichtungen und Personen, «die nicht wahrhaft christlich» waren, die Führung der Gemeinde durch einen «Mann mit gutem Leumund», das Verbot, Waffen zu tragen und Kriegsdienst zu leisten sowie «zu schwören und Eide abzulegen».
Einheit in wesentlichen Fragen, in Nebenfragen Freiheit
Die Schleitheimer Artikel waren ein erste wichtige gemeinsame Grundlage der Täufer. Für die Mennoniten als weltweit mit rund zwei Millionen Mitgliedern grösste Bewegung spielen heute vor allem die «gemeinsamen Überzeugungen» der Mennonitischen Weltkonferenz eine wichtige Rolle13.
Aus historischer Sicht unterscheidet Eggenberger zwischen den altevangelisch ursprünglichen Taufgesinnten, den von der Endzeit bewegten Täufern und den «besonneneren» Mennoniten. Zu erwähnen wären an dieser Stelle auch die Amischen aus den USA, geflohene Nachkommen des Täufervaters Jakob Ammann aus dem Simmental. In unseren Augen wirken sie wie Gestalten aus dem 19. Jahrhundert: «Die Frauen tragen lange Röcke, das Haar ist unter Kopftüchern oder Häubchen verborgen, auch die Männer mit ihren Strohhüten und Hosenträgern über den groben Leinenhemden14.» Ihre bevorzugten Transportmittel sind Pferde und Kutschen. Wegen ihrer Skepsis gegenüber der Industrialisierung wirken sie angesichts heutiger Sorgen um das Klima schon fast wieder modern. Auf der Suche nach Einheit haben sich die Schweizer Gemeinden aus dem Emmental, dem Jura, aus Basel, Liestal, Biel und Bern zur Konferenz der Mennoniten der Schweiz (Alttäufer) zusammengeschlossen, ihr theologisches Zentrum befindet sich auf dem Bienenberg15 bei Liestal, zudem gibt es heute eine mennonitische Weltkonferenz mit über 160 Kirchen in 60 Ländern.
Was eint diese unterschiedlichen Gemeinden? Das könnte man wohl mit der klassischen Formel «Im Wesentlichen Einheit, im Zweifelhaften Freiheit, in allem Liebe» zusammenfassen16. Wobei die einzelnen Gemeinden entscheiden durften und mussten, was für sie zum theologisch Wesentlichen und was zum Zweifelhaften gehörte. Zum Wesentlichen gehört, dass sie sich als erste Freikirchen der Reformation verstanden, die sich unabhängig vom Staat organisierten, die Glaubenstaufe pflegten und mehr oder weniger konsequent pazifistisch ausgerichtet waren. Im politischen Spektrum dürfte es heute alle Varianten geben, dank der Skepsis gegenüber dem Staat wohl aber ohne nationalistische Ausprägungen.
Friede als umfassendes Glaubenskonzept
In einem Umfeld, in dem auch «richtige» Glaubensüberzeugungen mit der Macht des Stärkeren militärisch durchgesetzt wurden, fielen die Täufer mit ihrem Anknüpfen an der Friedensbotschaft der Bergpredigt aus dem Rahmen. Sie folgten der Überzeugung, dass die ewigen Werte nicht erst im Himmel, sondern auch schon hier auf Erden gelebt werden sollten. Deshalb suchten sie aufgrund des Wirkens des Friedenskönigs Jesus Christus seinen Frieden im persönlichen Leben, in den zwischenmenschlichen Beziehungen und im gesellschaftlichen Bereich.
Was das damals und heute angesichts der real existierenden kriegerischen Auseinandersetzungen über das Persönliche hinaus für die Gesellschaft heisst, war und ist wohl auch für die Taufgesinnten nicht leicht zu beantworten. Immerhin zeigten die Täufer, wie Friedensstrategien in einem kleineren Rahmen umgesetzt werden können. So geht die Mediation als Vermittlungsstrategie zwischen Konfliktparteien auf kanadische Täufer zurück. Und auch die restaurative Justiz – das Vermitteln von Versöhnungsgesprächen zwischen Tätern und Opfern schon im Gefängnis – nimmt täuferisches Gedankengut auf. Zudem sind Täufer im Peacemaking u.a. zwischen den Konfliktparteien im Nahen Osten tätig.
Was wir von den Täufern lernen können
Nach 500 Jahren wäre es höchste Zeit, dass wir als Landeskirchen auf die Täufer hören würden, statt sie zu totzuschweigen oder zu belächeln. Immerhin haben der Evangelische Kirchenbund (SEK) und der Vorstand der Konferenz der Mennoniten der Schweiz (KMS) rund um das Täuferjahr von 2007 eine Gesprächskommission eingesetzt, mit dem Auftrag, in dreijähriger Tätigkeit (2006 – 2009) Konvergenzen und Divergenzen theologisch aufzuarbeiten17.
Spätestens seit 2004 kommt es laut Lukas Amstutz, dem Leiter des Bildungszentrums Bienenberg, an verschiedenen Stellen zu Begegnungen, bei denen er sich sehr ernstgenommen fühlt.
2017 sprach der Berner Regierungsrat Christoph Neuhaus im Rahmen des Berner Regierungsrates eine Bitte um Vergebung aus. Zwei Jahre später nahmen die Mennoniten die Entschuldigung an. Was aber bis heute fehlt, ist ein Gedenkstein im Marzili, dort also, wo Täufer am Tiefpunkt der Täuferverfolgung ersäuft wurden. Die Zürcher Kirche hat dieses Gedenken an der Limmat geschafft, die Berner nehmen sich dafür ziemlich viel Zeit18.
Auch viele der heutigen Freikirchen könnten sich von den Täufern inspirieren lassen. Etwa, dass sich Christsein nicht im Absingen von sanften Anbetungsliedern während des Gottesdienstes erschöpft, sondern ebenso eine tägliche Aufgabe am Arbeitsplatz, am Wohnort und im politischen Handeln und Denken ist. Der Himmel – die Wiederkunft des Friedensfürsten Jesus Christus – muss zwar noch etwas warten; nicht aber das Realisieren seiner ewigen Werte mitten in unserm heutigen Alltag.
Dass unsere Gesellschaft heute hartnäckige Friedensinitiativen braucht, muss an dieser Stelle wohl nicht besonders betont werden – vor Ort bis hin zu den grösseren Konflikten überall auf der Welt.
Zur Vertiefung
SRF-Beitrag: Radikal gewaltlos: 500 Jahre Täuferbewegung
Salomé Richir-Haldemann (Stop-Pauvreté) und Matthieu Dobler (Interaction) erklären, wie der Impuls für ihr Engagement für soziale Gerechtigkeit aus ihrem Glauben und ihrer Gemeinde kommt.
Revolutionäre des Glaubens
Das Buch des Schleitheimer Historikers Christian Scheidegger schildert die Geschichte der Schweizer Täufer mit ihren Auswirkungen bis in die Gegenwart. Laut dem Autor gehörten sie «zwar nicht zu den grossen, jedoch zu den heimlichen Siegern der Geschichte». Die Zürcher Kirchenratspräsidentin Esther Straub ergänzt: «Dass der Autor die historischen Ereignisse engagiert mit heutigen Fragestellungen verknüpft, öffnet überraschende Perspektiven auf Vergangenheit und Gegenwart und regt zum eigenen Nachdenken an.» Eine sorgfältig bebilderte Chronik der Täufer-Geschichte, die zu denken gibt.
Scheidegger, Christian. «Revolutionäre des Glaubens. Die unerhörte Geschichte der Schweizer Täufer.» Basel, 2025, Fontis. Broschiert, 216 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-03848-293-2
1 Christian Kaiser in «Reformiert» 2/25
2 Im Staate Bern wurde die Reformation nach einer von der Regierung einberufenen dreiwöchigen Diskussion mit kirchlichen Würdenträgern 1528 per Mandat verordnet, das von den örtlichen Pfarrern unterschrieben werden musste.
3 Johannes 3,1-21
4 Apostelgeschichte 5,29
5 katholische Sakramente: Taufe, Kommunion/Abendmahl, Firmung, Ehe, Busse/Versöhnung, letzte Ölung und Priesterweihe; evangelisch verblieben noch die Taufe und das Abendmahl.
6 Im Staat Bern wurden – offiziell verlangt ab 1571 – auch um die Täufer zu kontrollieren – Ehe- und Taufrödel eingeführt. So konnten Familien, die gegen die staatlichen Regeln verstiessen, besser erkannt werden.
7 Matthäus 5,34
8 Matthäus 5-7
9 Christian Scheidegger. «Revolutionäre des Glaubens. Die unerhörte Geschichte der Schweizer Täufer.» Basel, 2025, Fontis. S. 117
10 Oswald Eggenberger. «Die Kirchen, Sondergruppen und religiösen Vereinigungen.» 1994, Zürich, Theologischer Verlag. S. 54
11 Isabelle Berger in «Reformiert» 2/25 (inkl. die weiteren Zitate aus den Schleitheimer Artikeln)
12 Matthäus 18, 15-17
13 https://www.menno.ch/de/die-mennoniten/gemeinsame-ueberzeugungen/
14 Christian Kaiser in «Reformiert» 2/25
16 in der Tradition zurückgeführt auf Augustinus von Hippo (354 - 430)
17 Die Publikation «Christus ist unser Friede. Dialog zwischen Mennoniten und Reformierten 2006-2009» präsentiert die Ergebnisse dieser Gespräche, namentlich in den Bereichen Taufe und Kirchenverständnis. Sie listet auch frühere Gespräche zwischen Reformierten und Mennoniten auf.
18 Der Foxtrail für Täufergeschichte durch die Stadt Bern ist zwar eine schöne Idee, aber kein Ersatz für das stille Gedenken am Ort des Geschehens (siehe: https://stationenweg-bern.ch).
Schreiben Sie einen Kommentar