Dorfentwicklung: Wenn das Dorf stirbt 

Leere Schaufenster, geschlossene Wirtshäuser, verwaiste Ortskerne – statt Dorfidylle und einer Gemeinschaft, in der jeder jeden kennt und jedem hilft, sterben viele kleine Ortschaften. Dieses Problemfeld wird in Österreich offensichtlich ganz bewusst angegangen – und dokumentiert in einer TV-Serie des ORF. Die Dokumentation verschweigt zwar, zumindest in der ersten Folge, das Beispiel von Steinbach an der Steyr, aus dem wir die WDRS-Prinzipien abgeleitet haben. Sie werden in der Reportage aber bestätigt und anhand aktueller Beispiele diskutiert. 

(Lesezeit: 8 Minuten)

«Wie konnte es so weit kommen?» So fragt der ORF in seiner Ankündigung der Serie. Und zeigt in der ersten Ausgabe der Dok-Sendung «Wenn das Dorf stirbt» mit Lisa Gadenstätter, was ein Ort braucht, um zu überleben. Sie taucht auf ihrer Reise tief in die Lebensrealitäten ländlicher Regionen ein. Und trifft Menschen, die ihre Dörfer nicht aufgeben wollen und trotz aller Widerstände für eine lebenswerte Zukunft auf dem Land kämpfen. Laut ORF-Text eine Sendung zwischen Verfall und Aufbruch, Wehmut und Hoffnung. 

Schweizer Besuch in Steinbach an der Steyr (Bild: Hanspeter Schmutz)

Die Bevölkerungskarte von Österreich zeigt, dass heute vor allem die ländlichen Gebiete in den Randzonen unter Schwund leiden. Architekt Roland Gruber weist darauf hin, dass es solche Umschichtungen in der Geschichte aus unterschiedlichen Gründen immer wieder gegeben hat. Heutige Gründe sieht er in der «Automobilisierung» und der «industriellen Veränderung». Man lebe gerne dort, wo man arbeiten und einkaufen kann. Das Problem seien die grossen Einkaufszentren und der Umzug in den «Speckgürtel» – in die Gebiete am Rand der Städte. Damit fehle in den Dörfern die Laufkundschaft. Um den Niedergang der Dörfer aufzuhalten, sei deshalb das Zentrum des Dorfes, der Dorfkern entscheidend. Dazu zeigt die Reportage mehrere Beispiele.

 

Ohne Schule wird es schwierig

In Tiffen bei Klagenfurt, einem Dorf mit 200 Einwohnern, wurde 2024 die Schule mangels Kindern geschlossen. Die neue Schule ist zwar nur 5 Autominuten entfernt. Trotzdem seien die Kinder plötzlich nicht mehr ins Dorfleben eingebunden gewesen. Es gebe zwar noch 10 Vereine im Dorf. Ohne die Kinder würden diese aber älter und älter.

Das Beispiel macht deutlich: Die Bindung ans Dorf führt über die Kinder. Mit dem Schliessen der Schule beginnt die Abwärtsspirale. Als Gegenmassnahme wurde vor Ort das Projekt «Dorfkinder Tiffen» gegründet: Einmal im Monat öffnet ein Bauernhof seine Türen. Die Kinder treffen sich hier zum Beispiel zum gemeinsamen Brotbacken. Die Hoffnung besteht, dass die Leute, auch wenn sie wegziehen, irgendwann wieder zurückkommen.

 

Der Donut-Effekt

Die Probleme betreffen aber auch grössere Orte wie die Stadt Waidhofen in Niederösterreich mit 4000 Einwohnern. Als ein Einkaufszentrum mit 30 Geschäften und vielen Parkplätzen ausserhalb der Stadt gebaut wurde, wurden viele Geschäfte von der Innenstadt hinaus ins neue Zentrum verlegt. Der neue Ort versprach mit dem Angebotsmix bessere Geschäfte.

Fachleute sprechen in diesen Fällen vom Donut-Effekt: Während die Ränder wachsen, bleibt die Mitte leer. Immerhin konnte mit einem Bastelladen im Zentrum eine erste neue Kontaktmöglichkeit mitten in der Stadt geschaffen werden.

 

Ohne Gasthäuser geht es nicht

In Meiselding in Kärnten (350 Einwohner) stand das einzige Gasthaus kurz vor der Schliessung. Da fasste sich ein Bürger ein Herz: Er führte das Angebot mit einem neuen Konzept weiter. Dabei wurden u.a. Mitarbeiter mit Einschränkungen engagiert und das Gasthaus hatte an sieben Tagen von 8 bis 22 Uhr offen. Das Motto des Betreibers heisst: «Wenn es nicht offen ist, ist es kein Gasthaus.» So wurde es wieder zum Treffpunkt der Vereine.

Eine zugezogene Spitex-Mitarbeiterin eröffnete zudem einen kleinen Dorfladen mit regionalen Produkten. Das half nicht nur den älteren Menschen, die sie teilweise betreute, es unterstützte auch ihre eigene Integration in die Dorfgemeinschaft.

Der Ortskern ist immer entscheidend, sagen Fachleute dazu: die Kirche, die Ärzte, der Dorfplatz, die Gemeinschaft. Das ermöglicht zufällige und nicht nur organisierte Begegnungen. Und diese machen die Seele eines Dorfes aus. Hilfreich sind auch kleine Spezialgeschäfte mit einem hybriden Angebot: Es kann zum Beispiel nicht nur etwas repariert, sondern auch etwas getrunken werden.

 

Die Grundbedürfnisse vor Ort decken

In Fehring in der Steiermark (1800 Einwohner) wurden dementsprechend bewusst Grundversorger mit vielen Angeboten gesucht. Zudem stärkte ein Tagesbetreuungszentrum für ältere Menschen das Leben im Stadtkern. Diese Menschen mussten nun nirgends hinfahren, um ihre Grundbedürfnisse zu decken. Hier waren sie sicher, man kannte die Menschen, auch die Leute hinter dem Ladentisch.

Zudem wurden kulturelle Aktivitäten gefördert, wie etwa eine Jazzband mit jungen Leuten aus dem Dorf und der Region. Sie wollen nach dem Studium irgendwann wieder zurückkommen. Und 2017 entstand ein Wochenendmarkt mit regionaler Bedeutung. Da gibt es zum Beispiel ein Frühstücksangebot und Marktstände zum Einkaufen. Woche für Woche ein belebendes Element für die ganze Gegend.

 

Bekenntnis zum Zentrum

Auch das Dorf Jagerberg in der Steiermark (400 Einwohner) blutete aus. Es gab zwar ein wunderschönes Dorfcafé, aber niemand wollte es betreiben. Es zeigte sich: Wenn man nichts tut, stirbt der Ort. Der neue Bürgermeister förderte – ganz im Sinne von Steinbach an der Steyr – bewusst die Dorfgemeinschaft, zusammen mit dem Ortskern-Koordinator für das Land Steiermark.

Es wurde rasch klar, dass es neue Wohnmöglichkeiten für Familien brauchte. Man ging davon aus, dass grössere Einkäufe zwar in Einkaufszentren ausserhalb getätigt wurden, im Dorf aber Läden mit regionalen Angeboten für den täglichen Gebrauch nötig waren. Die beiden Dorfentwickler suchten bewusst eine Nachfolge für ein Gasthaus und Finanzierungsmöglichkeiten für die Renovation.

Das Bewusstsein wuchs: Um Jagerberg wieder als Heimat sehen zu können, brauchte es ein Bekenntnis zum Zentrum. Das Wissen der Bevölkerung musste durch Beteiligung abgeholt werden. Deshalb wurde eine Gruppe gebildet, die sich der Wiederbelebung des Dorfes widmete. In der Folge wurden als Investition in die Zukunft Mehrfamilienhäuser gefördert und Angebote für Kinder geschaffen, damit auch Eltern, die beide berufstätig sind, hier leben konnten.

 

Wir sind die Politik

Diese Dokumentation des ORF1 zeigt, dass es in der Ortsentwicklung immer noch viel zu tun gibt – in Dörfern, Regionen, aber auch in Stadtquartieren. Das Schweizer Netzwerk für werteorientierte Orts-, Regional- und Stadtentwicklung (WDRS) ist dank den mehrfachen Besuchen im oberösterreichischen Dorf Steinbach an der Steyr in der Frage fündig geworden, wie diese Entwicklungen werteorientiert gestaltet werden können2. Frucht davon ist auch das Buch, das dazu vor zwei Jahren erschienen ist3.

Damit dies gelingt, sind wir aufgefordert, gemäss unseren Begabungen und Möglichkeiten selber Hand anzulegen. Oder wie es Architekt Roland Gruber gegen Schluss der ORF-Dokumentation sinngemäss sagt: « Wir müssen aufhören zu jammern über die Politik, denn: Wir sind die Politik.»

 

1 https://on.orf.at/video/14293519/dok-1-wenn-das-dorf-stirbt

2 https://www.dorfentwicklung.ch

3 https://www.dorfentwicklung.ch/gemeindebarometer-1.html

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