Kirchliche Jubiläen sind hierzulande kantonal: Während die Genfer 2009 den 500. Geburtstag Calvins facettenreich und mit erstaunlicher Strahlkraft begingen, haben sich die Berner Reformierten viel für 2028 vorgenommen – denn erst 1528 wurde der grösste Staat der alten Eidgenossenschaft reformiert und sicherte den Fortbestand dieses von Zwingli angestossenen epochalen Aufbruchs.
Wende zur obrigkeitlichen Reformation
1525 erfuhr dieser Aufbruch eine tragische Wendung: Die Wiederentdeckung des Evangeliums von Jesus Christus, das alle Lebensbereiche erleuchtet, ein geistlich befreiender Prozess, wurde von Räten und Fürsten abgewürgt. Die Reformation wurde obrigkeitlich umgeprägt, nördlich des Rheins durch die blutige Unterdrückung der Bauern, welche von Luther gerechtfertigt wurde.
Im kleinen Zürich wandte sich Zwingli gegen ungeduldige Anhänger, die aus seiner Predigt radikale Schlüsse zogen und eine tiefgreifende spirituelle Erneuerung des Volkslebens ersehnten. Ein Ausdruck davon war die Taufe von Erwachsenen, wie im Neuen Testament vorgezeichnet. Sie geschah zum ersten Mal am 21. Januar 1525 in einem Haus nahe beim Grossmünster. Von der ersten Woche an wurden die «Wiedertäufer» mit Verboten belegt, mit harten Strafen bedroht, verhört und in Haft gesetzt, dann aus dem Staatsgebiet verbannt und bei einer Rückkehr des Meineids beschuldigt.
Die Täufer – eine Herausforderung für den Staat
Dass die Täufer Ungeheures im Sinn hatten und aussprachen, ist mitzubedenken: Sie sprengten mit ihrem Konzept einer staatsfreien Gemeinde der Gläubigen das mittelalterliche System, in dem Staat und Kirche weitestgehend deckungsgleich waren. Sie traten in einer Zeit grösserer sozialer Unrast auf: Die Wiederentdeckung der Bibel hatte in ländlichen Gebieten auch zur Forderung geführt, den Zehnten abzuschaffen – und damit die gängige Finanzierung der Kirche.
Zwingli hatte politische Gründe, seine fordernden Freunde fallenzulassen: Die Zürcher Reformation war – wie die lutherische – jahrelang höchst gefährdet. Sie konnte nur mit Beschlüssen des Rats von Zürich fortgeführt werden, welcher von der Dynamik überfordert war und sie schrittweise zu bewältigen suchte. Und so ereignete sich in diesem Jahr der Wende auch in der kleinräumigen Eidgenossenschaft, was die Geschichte Europas seit Kaiser Konstantin insgesamt kennzeichnet: Feuer wird gelöscht, geistliche Prozesse treffen auf politisches Kalkül und werden mit Machtmitteln kanalisiert und abgewürgt.
Das Anliegen der Täufer: Evangelium ohne Gewalt
Conrad Grebel und Felix Mantz gehörten im Zürcher Aufbruch zu Zwinglis gebildetsten und eifrigsten Anhängern, bevor sie sich von ihm absetzten. Was sie aus dem gemeinsamen Bibelstudium in den Ursprachen schöpften, fand 1524 Ausdruck in zwei Schriftstücken, die zu den bewegendsten der frühen Neuzeit gehören. Im Brief an den deutschen Sozialrevolutionär Thomas Müntzer lehnten sie Gewalt zur Durchsetzung von Reformen ab: «Man soll ouch das evangelium und sine annemer nit schirmen mit dem schwert.»
In einer Denkschrift an den Rat sprach sich Felix Mantz Ende 1524 für die Glaubenstaufe nach der bewussten Umkehr aus: «so einer, bekert durchs wort gottes, sein gmüet geendert nun furhin in newerung des lebens wandeln will … welcher dingen, ietz erzelt, den kindern zuschreiben, ohn alle und wider alle geschrifft ist.»
Er proklamierte Gewissensfreiheit und warnte den Rat, «meine gnedigen lieben herren und brůder», Blut zu vergiessen: «Will … euch auffs fleysigist gebetten haben, wellend ewer hend nicht vermassgen mitt unschuldigem blůth, vermeinende, ir tůgind gott ein dienst daran, so ir etlich tödten oder veriöucken (verjagen) wurdend.» Der Rat hörte nicht auf ihn; Mantz wurde am 5. Januar 1527 der erste Blutzeuge der Zürcher Täufer.
Wofür die «freien Schweizer» heute danken, wurde damals unterdrückt. Die alte Eidgenossenschaft, in der herrschende Familien den Kurs bestimmten, musste erst untergehen, bevor im 19. Jahrhundert ein demokratisches Gemeinwesen entstehen konnte. Die Täufer büssten – wie Christian Scheidegger in seinem wegweisenden Buch «Revolutionäre des Glaubens»1 darlegt – dafür, dass sie vor der Zeit den geistlichen Kern der Freiheiten einforderten, welche die westliche Zivilisation heute auszeichnen.
Eine weltumspannende Bewegung wird anerkannt
In der alten Eidgenossenschaft durfte sich das Täufertum nicht entfalten; jenseits unserer Grenzen wurde es – durch viel Leiden und Migration, Irrungen und Verhärtungen, schwere Neuanfänge, Arbeit und missionarischen Einsatz – zur weltumspannenden Bewegung. 2025 kehrte die Mennonitische Weltkonferenz (MWK) an den Ort zurück, «wo alles begann». Erleichtert wurde diese Rückkehr durch eine einfache, 2004 in die Ufermauer der Limmat eingelassene schwarze Steinplatte: Da, wo Felix Mantz ertränkt wurde, erinnert sie an die Täuferverfolgung, die heute von der Zürcher Obrigkeit und Landeskirche als «Verrat am Evangelium» bereut wird.
Im Fest am Himmelfahrtstag, 29. Mai, kam das Bestreben der 1925 gegründeten MWK, die Mennoniten – nach fünf Jahrhunderten – in die Familie der grossen christlichen Konfessionen einzuführen, endlich zum Ziel. In den ehrwürdigen Mauern des Grossmünsters gestaltete die MWK einen einzigartigen historischen Gottesdienst. Gefeiert wurde die Heilung des Risses zu den grossen Konfessionen. Der «Weg der Versöhnung» wurde proklamiert, die Verständigung, die Theologen auf globaler Ebene während der letzten Jahrzehnte erreicht hatten.
Eine Lutheranerin und ein Mennonit segneten einander mit Öl. Papst Leo XIV. sandte eine Botschaft zur Bedeutung «unseres anhaltenden Wegs von Heilung und tieferer Brüderlichkeit». Ein Reformierter und ein Täufer wuschen einander die Füsse. Die reformiert-mennonitische Erklärung trägt den Titel «Die Wiederherstellung unserer Familie in Ganzheit: Unterwegs zu einem gemeinsamen Zeugnis2.»
Wie weiter?
Die bewegende Erklärung harrt nun der Umsetzung. Da, wo es infolge der Verfolgungsgeschichte keine Alttäufergemeinden mehr gibt, etwa in der Ostschweiz, bieten sich die Freikirchen, ihre Geistesverwandten, den Reformierten als Gegenüber an. Werden sich reformierte (sowie lutherische und katholische) Kirchen und Gemeinden zu Herzen nehmen und vor Ort realisieren, was ihre Theologen auf der Weltebene mit den Mennoniten proklamiert haben?
In den reformierten und katholischen Milieus hielt sich bis zu ihrem Verfall nach 1960 ein konfessioneller Stolz. Dieser ist Geschichte; dem Miteinander steht er nicht mehr im Weg. Es geht im Grunde um mehr: ums Überwinden der Einseitigkeiten und Engführungen, welche die Konfessionen beidseits des Grabens durch die Unterdrückung des Aufbruchs jener frühen Jahre erlitten haben. Könnten die Reformierten den aktuellen Personalmangel besser angehen, wenn die frühe, durch die Täuferverfolgung bedingte Prägung des Pfarramts mit der Fixierung auf Lehre und Aufsicht in den Blick käme?
Welchen Sinn haben Reformationsjubiläen? Dem Beobachter, dem noch der Ernst und die Bodenhaftung des Emmentaler Täuferjahrs 2007 in Erinnerung sind, fehlte in manchen Anlässen der Tiefgang, der mit dem Bewusstsein verbunden ist, dass uns hier zu Beginn des 16. Jahrhunderts Grosses, in der Wirkung Weltbewegendes geschenkt wurde. Sind wir noch imstande, uns von der Bibel wahrhaft ergreifen zu lassen, individuell und als Gemeinwesen?
Im Ganzen stellt sich die Frage, was – ohne ein neues, mächtiges Wirken des Heiligen Geistes – Christen nach 500 Jahren noch berichtigen, wiederherstellen und der Heilung entgegenführen können. Auch und gerade in meiner, der reformierten Kirche: Sie wurde damals zur Kirche des Staates und von diesem instrumentalisiert, bis das Ancien Régime 1798 unterging. Viele ihrer führenden Vertreter verschrieben sich nach den Napoleonischen Wirren dem Fortschrittsglauben der Radikalen und dienten sich ihnen als willige Magd an. Mit dem Ergebnis, dass sich die Kirche seither im säkularen Strom zunehmend selber säkularisiert hat ...
Den Jubiläen sollten nun Lernprozesse folgen. Was tragen wir dazu bei?
1 https://www.fontis-shop.ch/products/revolutionare-des-glaubens

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