Der Unfall, so Virilio, sei die Kehrseite unseres Technik- und Fortschrittglaubens. Virilio spreche sogar von einer «Kultur des Unfalls». Der Unfall sei weder Ausnahme noch Mangel, sondern natürliche Konsequenz unserer Wissenschaft und unserer Moral – und: «Jeder Unfall belichtet die Welt1.»
Die Geschichte eines Unfalls
Ein Unfall steht am Anfang von «Das letzte Feuer». Eine eifrige Polizistin liefert sich eine rasende Verfolgungsjagd mit einem landesweit gesuchten Attentäter, mitten in einer deutschen Stadt. Doch in Wahrheit sitzt im verfolgten Auto Olaf, «der Koksvogel» – ein Kleindealer.
Das Auto ist gestohlen oder «ausgeliehen», wie Olaf sich ausdrückt. Es gehört Karoline, seiner ehemaligen Kunstlehrerin. Sie wird im Verlauf des Stücks zur Vertrauten der Polizistin. Vorher war sie die heimliche Geliebte von Ludwig. Von Ludwig, dem früheren Chef von Peter, dem Lebenspartner von Olaf; von Ludwig, dem Vater von Edgar. Edgar ist acht, er mag Fussball, und er wird am «helllichten Mittag» eines Augusttages nicht mehr nach Hause zurückkehren. Er wird von einem rasenden Auto erfasst. Es ist das Auto von Edna, der Polizistin. Edgar ist auf der Stelle tot. Und eine Welt ist aus den Fugen.
Plötzlich steht sie still, das Rasen stoppt, und der Firnis der Normalität ist wie weggespült. Darunter erscheinen: Versehrte und Verletzte des Daseins. Die Menschen können der Konfrontation mit ihren Ängsten und Süchten, ihren gefährlichen Wünschen und abgründigen Neigungen nicht mehr ausweichen. Der Unfall wird zum Katalysator ihrer existenziellen Probleme. Und sie müssen anfangen, sich den ungeschminkten Fragen nach Sinn und Schicksal, nach Schuld und Gerechtigkeit zu stellen: Wie hängen die Bedingungen des Lebens mit unserem Handeln zusammen, sind wir selber die Erzeuger unseres Lebensunglücks? «Der Spiegel» schreibt in seiner Rezension zur Uraufführung am Hamburger Thalia Theater von einem «erbarmungslosen Ringelreihen von Verzweiflung, Verlust, Krankheit, Schuld und Tod», einem «eindrucksvollen, schwindelerregenden Trauma-Tanz».
Dea Loher
«Das letzte Feuer» zeigt Dea Loher auf einem Höhepunkt ihres Schaffens. Der Text wurde mit dem renommierten Mülheimer Dramatikpreis ausgezeichnet und in der Kritikerumfrage der Zeitschrift «Theater heute» 2008 zum «Stück des Jahres» gewählt. Der Text ist ein Klassiker der neuen Theaterliteratur, seine Autorin die vielleicht bedeutendste Stimme der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik. Eine Dichterin von «grosser Sprachmacht, emotionaler Intensität und ausserordentlicher Intelligenz», wie das Schauspielhaus Zürich – vor einem Jahr wurde dort Lohers jüngstes Stück uraufgeführt – den Literaturkritiker Uwe Wittstock zitiert.
Das Schreiben wurde Dea Loher nicht in die Wiege gelegt. Anstatt eines Bücherregals steht im Wohnzimmer des Försterhauses, in dem sie aufwächst, ein Waffenschrank. Zum 7. Geburtstag wird ihr ein Gewehr geschenkt. Doch sie verweigert das Schiessen. Lieber verbringt sie ihre Zeit in der Stadtbibliothek. Das Schreiben wird zu einer Überlebenstaktik, wie sie in einem Interview berichtet; eine Gegenwelt in einem Umfeld, das sie als brutal und gewalttätig empfindet, ein Ort, um der Einsamkeit zu entfliehen.
Gegen den Willen ihrer Eltern studiert Dea Loher Germanistik und Philosophie, erlebt aber insbesondere die Germanistik als eine für das Schreiben überflüssige und sogar hinderliche «traurige Kopfwissenschaft»2. Nach abgeschlossenem Studium und einem Aufenthalt in Brasilien wird sie an der Berliner Hochschule der Künste in den Studiengang «Szenisches Schreiben» aufgenommen. Zwei Jahre später, vor rund 30 Jahren, 1992, wird ihr erstes Stück in Hamburg aufgeführt und mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Kurz danach gelangt es nach London, ins Royal Court Theatre. Es ist der Anfang einer grossen Karriere, eines magistralen Werks.
Schonung im Stillstand
Es ist ein Werk, das diejenigen im Auge hat, die gerade keine Karrieren machen, die scheitern, deren Rasen zum Stillstand gekommen ist, die keine Meister ihres Glücks sind. Aber manchmal sind sie Meister in ihrem Unglück. Das Besondere in Lohers Werk ist, dass der «Ringelreihen der Verzweiflung» eben nicht einfach erbarmungslos ist, wie der «Spiegel» über «Das letzte Feuer» geschrieben hat. Dea Loher ist zwar eine schonungslose Beobachterin, aber sie geht nicht schonungslos mit ihren Figuren um. Sie schenkt ihnen eine Schonung. Einen geschützten Ort, wo sie trotz ihrer Sprachlosigkeit zur Sprache kommen können, wo ihnen eine poetische Würde zugestanden wird. Loher gibt die Menschen in ihren Stücken nicht preis, sondern hofft darauf, dass sie in ihren gebrochenen Welten Fragmente des Glücks finden, neue Räume der Zuneigung und Zärtlichkeit. Sie will, so könnte man sagen, «das geknickte Rohr nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen»3. In ihrem Theater sind dann auch die Zuschauer herausgefordert, «mitzuempfinden, Verständnis und Empathie zu entwickeln für die Lebenswege, für die Unglücksfälle anderer (… für) die diffizilen Lebenslagen und hochproblematischen Charaktere»4.
Dea Loher ist eine äusserst politische Schrifstellerin, doch sie schreibt selbstredend keine Pamphlete. Hochpolitisch ist sie mit ihrer Sicht auf die Menschen, auf die Welt. Sie schaut dorthin, wo die Unfälle passiert sind, wo die Menschen ihrer Kräfte verlustig gegangen und in Gefahr sind, in ihrer Geschwächtheit auf die Seite gestellt, mit Nichtbeachtung gestraft zu werden.
Sie kämpft damit gegen eine Kultur der grossmännischen Worte und des Primats des Gelingens, sie kämpft für eine Kultur des genauen und barmherzigen Schauens, für einen Blick, der das Leiden des Anderen nicht übersieht, des Andern, der immer unser Nächster ist.
1 https://www.theater-ulm.de/spielplan/stuecke/das-letzte-feuer, abgerufen am 16.11.2025
2 https://www.uni-due.de/literarikon/loher.php, abgerufen am 17.11.2025
3 Jesaja 42,3
4 siehe Anmerkung 1

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