Philosophie: Über das Verhältnis von Politik und Religion

Es gibt das Bonmot, jede Party liesse sich ruinieren, indem man anfängt, über Politik oder Religion zu debattieren. Eine Vermischung von beiden lässt man da wohl besser bleiben. Aber: Gilt das auch für unsere turbulente Zeit?

(Lesezeit: 8 Minuten)

Wir leben in politisch verstörenden Zeiten. Und damit stellt sich die Frage, ob glaubwürdig Christ zu sein heute ein verstärktes politisches Bewusstsein und Engagement abverlangt. Das Bekenntnis zu einem Gott, der uns als Schöpferkraft der Welt entgegentritt, zwingt uns eigentlich zu einem bewussten Verhältnis zu dem, was in dieser Welt geschieht. Und auch das Gebot zur Nächstenliebe ist automatisch eine politische Frage. Denn wir leben nicht für uns, sondern sind eingewoben in eine Gesellschaft, deren Form stets politisch ausgehandelt wird.

Pontius Pilatus: «Ich wasche meine Hände in Unschuld» (Bild von Dorothée Quennesson auf Pixabay).

Den politischen Rahmen aushandeln

Für Christen ist das Thema Glaube und Politik dennoch ein Minenfeld. Wir können nicht bestreiten, dass das Zusammenspiel von Kirche und politischer Macht Gewalt hervorgebracht und das Evangelium oft grotesk verzerrt hat. Und auch heute liesse sich mit der Frage «Was würde Jesus dazu sagen?» ohne Weiteres eine kritische Diskussion über die Rolle eines christlichen Nationalismus auf Präsidenten wie Putin oder Trump führen.

Der Raum des Politischen beschreibt die Vielfalt der Prozesse, mit der wir unser Zusammenleben als Menschen gestalten. Da Menschen nicht automatisch als absolut frei, gleich und in mündiger Einsicht in Erscheinung treten, sind Meinungsverschiedenheiten und ein Machtgefälle unvermeidlich. Das – nicht immer gewaltfreie – Aushandeln dieser Konflikte erzeugt ein politisches System, das die Machtverhältnisse institutionalisiert und zu bewahren sucht. Konflikte finden dann im Rahmen des politischen Prozesses statt. Scheitert dieser, kann es wieder zu Gewalt kommen.

Religion mit einer passgenauen Auslegung wurde oft als Machtinstrument eingesetzt, um mit dem Verweis auf eine «göttliche Ordnung» nicht nur die Quellen der Macht – «Von Gottes Gnaden» –, sondern auch die Gefügigkeit der Beherrschten zu garantieren. Erst die Säkularisierung trennte diese Sphären. Sofern politische Systeme Glaubens- und Gewissensfreiheit garantieren, sollten gläubige Menschen dies heute nicht nur respektieren, sondern geradezu schätzen. Der Botschaft des Evangeliums hat die Verflechtung mit politischer Macht nie gutgetan.

 

Was ist christliche Politik?

Doch durch das Abschieben des Glaubens ins rein Private entsteht eine Spannung. Der christliche Glaube ist kein individuelles Glücks- und Heilsversprechen. Er mündet in eine Sozialethik, die aus dem Aufruf zu einer liebevollen Beziehung zum Nächsten und damit auch zur Welt erwächst. Dass Menschen wie Martin Luther King Jr., Dietrich Bonhoeffer, Dorothy Day und viele andere sich vom Glauben getragen leidenschaftlich für eine Veränderung der Welt eingesetzt und dies zum Teil mit ihrem Leben bezahlt haben, macht sie zu Recht zum Vorbild. Doch auch der Glaube selbst ist oft Anlass zu politischen Konflikten und zur Gewalt.

 

Die Zahl der widerstreitenden Schriftauslegungen und theologischen Schwerpunkte machen es kaum möglich, eine eindeutig als «christlich» zu bezeichnende politische Haltung zu skizzieren. In Formen des sogenannten «Wohlstandsevangeliums» gilt persönlicher Reichtum als göttlicher Segen und die Armut anderer als Mangel an Segen. Andere orientieren sich an Matthäus 25,40: «Wahrlich, ich sage euch: Alles, was ihr einem dieser geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!»

Es gibt Christen, die fossile Rohstoffe als göttliches Geschenk sehen und ihr ungezügelter Verbrauch als Gottes Wunsch. Andere orientieren sich am Gebot zur Bewahrung der Schöpfung. Manche leiten eine «bedingungslose Israelsolidarität» aus der Bibel ab, andere wiederum ihren Einsatz für die Menschenrechte der Palästinenser.

Ohne über die jeweilige theologische Stichhaltigkeit urteilen zu wollen: Wir tendieren dazu, unser Welt- und Menschenbild, das oft auch bereits politisch gefärbt ist, an die Bibel heranzutragen und uns dann von ihr bestätigen zu lassen. Zur Begründung eines politischen Engagements nutzen wir dann selektiv jene Passagen, die uns behagen.

Sollte man es daher besser sein lassen mit der christlichen Politik und doch den vom Säkularismus vorgeschlagenen Weg eines rein privaten Glaubens wählen?

 

Die Politik Jesu fordert uns heraus

Nun, die Einladung zur Nachfolge Christi erschöpft sich nicht in einer Bekenntnisformel. Am Leben Jesu sollten wir nicht nur Gottes Wesenszüge, sondern an seinem Beispiel auch ableiten, wie wir unsere Beziehung zu Gott, zum Nächsten und zur Welt gestalten wollen. Die altbekannte Frage «Was würde Jesus tun?» liefert uns im Alltag natürlich nicht für alle Situationen – und dazu gehören auch politische Fragen – konkrete Antworten. Doch so wie Christus selbst oft Gleichnisse verwendet und es uns bis heute überlässt, diese gemäss ihrem tieferen Sinn zu verstehen, so heisst ein ernst zu nehmender Glaube stets, sich von Christus herausfordern zu lassen.

Sich von Christus herausfordern zu lassen heisst, die eigenen Vorannahmen kritisch zu hinterfragen. Aus der Art, wie Jesus selbst lebte und mit seinen Mitmenschen umging, entnehmen wir eine Sozialethik, die zwangsläufig auch politisch wird. Je nach Situation wird es Menschen dazu bringen, bestimmte politische Positionen zu beziehen und sich entsprechend zu engagieren. Möglicherweise wird dies nicht immer deckungsgleich sein mit dem, was andere daraus ableiten.

 

Verhärtungen vermeiden

Dies mag man bedauern, doch vielleicht kommt in dieser Vielfalt etwas von der Freiheit und Lebendigkeit des Glaubens zum Ausdruck. Denn die Herausforderung bleibt, eine aus dem Glauben begründete politische Position nicht in eine politische Ideologie oder Programmatik verhärten zu lassen. Wann immer das Christentum dies zuliess, fiel ihm Christus irgendwann auf die Füsse. Christus kann nicht vereinnahmt werden: Wir sind es, die vereinnahmt werden sollen! Das heisst, egal wie sehr ich glaube, durch meinen Glauben zu einer definitiven politischen Haltung gelangt zu sein: Ich muss mich immer wieder neu dem in Christus offenbarten Wesen Gottes stellen. Es ist ein lebendiger Prozess, der nicht aufhört, – so wie in einer Ehe das «Ja» zueinander nicht nur einmal bei der Trauung gesprochen wird, sondern in der Praxis stets wiederholt werden muss.

Dies gilt umso mehr, weil wir ja aus der religiös motivierten Politik von anderen, die uns nicht behagt, ablesen können, dass es der Auslegungen viele gibt, und die Wahrscheinlichkeit, dass nur wir Recht haben, eher gering ist.

 

Christliche Politik ist nicht beliebig

Obwohl links wie rechts, Monarchie, Diktatur und auch Demokratien sich gelegentlich auf die Bibel beziehen können, folgt daraus kein politischer Relativismus. Mit der Demut, vielleicht nicht immer eindeutig die Wahrheit Gottes auf unserer Seite zu haben, stehen wir im Einklang mit Kernstellen unserer Überlieferung: Wir «ringen mit Gott» wie Jakob. Wir gestehen wie Hiob ein, dass uns vieles ratlos macht. Wir verzweifeln mit Christus in Gethsemane: «Dein Wille geschehe.» Und doch bleibt Gott kein unergründliches Geheimnis, wenn es um unsere Haltung zur Welt und zum Nächsten geht. Der Weg der Nachfolge Christi heisst, sich von seinem Handeln am Nächsten ebenso inspirieren zu lassen wie von seiner Lehre.

Ein ganzheitlich verstandenes Christentum kann sich politischen Fragestellungen nicht entziehen. Es kann aber auch nicht ignorieren, dass die Vermengung von Glaube und Politik in der Geschichte oft zu desaströsen Konsequenzen geführt hat, und wir auch heute dazu tendieren, unsere politischen Grundannahmen gemäss unserem Glauben auszuwählen. Wenn es jedoch eine Richtschnur gibt, die uns immer wieder korrigiert, dann ist es eine zentrale Person: Jesus Christus selbst.

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Kommentare

Felix Ruther schreibt
am 4. Oktober 2025
Danke Alex für deine Gedanken. Wie immer sehr hilfreich!
Im Zusammenhang mit der Kampffliegerbeschaffung stellten wir in unserem Politstamm auch individuell die Frage: Würde mir Jesus ein Ja oder ein Nein raten? Dabei ergab sich, dass wir je eine selektive Wahrnehmung auf "unseren" Jesus haben. Und doch könnte gerade diese Frage uns soweit öffnen, dass der Heiligen Geist, trotz unserer Vorurteile und Ängste, dem Willen Gottes in uns zum Durchbruch verhilft.
Gruss und Segen
Felix