Bemerkenswert erscheint mir das auslösende Momentum, warum das Gebet jetzt priorisiert wird. Es sind die vielen kritischen Beiträge, Kommentare und Analysen vornehmlich zur Wiederwahl von Donald Trump. Sie stossen auf eine Frömmigkeit, die sich darüber teilweise heftig erschrocken zeigt.
Ähnliche Reaktionen finden sich jetzt immer öfter, wenn auch andere autoritäre Politiker postliberal-alternativer Parteien in Europa in Frage gestellt werden. Sie alle seien zwar nicht vollkommen und fehlerfrei, aber dem Regiment Gottes unterstellt. Deswegen hätten Christen für sie zu beten, weil sie doch die Werte des christlichen Abendlandes gegenüber einem grenzenlosen Liberalismus und degenerativen «Westen» verteidigen wollen. Nur wer ohne Sünde sei, habe das Recht «Steine zu werfen». So wird jetzt mit diesem Wort Jesu argumentiert. Kritische Stimmen gegenüber Trump, Orban, Putin oder dem Österreicher Kickl seien deshalb unzulässig, hochmütig und selbstgerecht.
Ist Beten wirklich das Einzige, was wir tun sollen?
Haben wir nun tatsächlich angesichts fragwürdiger politischer Angriffe auf demokratische Strukturen, der Akzeptanz und Legalisierung politischer Lügen hin und her, des imperialen Machtgebarens mit militärischer Aggression und Gewalt sowie asozialer Ungerechtigkeiten und massloser Reichtümer von einigen wenigen mächtigen Männern zu verstummen, weil wir alle Sünder sind?
Bleibt uns da wirklich nur noch beten – in stiller, blinder Hinnahme und frommer Relativierung augenscheinlicher Missstände? Bleibt uns nur noch, an Gottes Walten zu glauben und im Übrigen fromm ergeben zu schweigen?
Was wir beten sollen, gab Franklin Graham Ende Mai am Evangelistenkongress in Berlin vor. Nach seinem Treffen mit Wolodymyr Selenskyj liess er mitteilen, er habe für ihn, Wladimir Putin und Donald Trump gebetet, «dass Gott ihnen Weisheit schenkt und ihnen den Weg zum Frieden weist». Denn die Probleme in der Ukraine und Russland seien «sehr kompliziert», nur Gott könne sie lösen. Und er glaube, das Wichtigste, was wir in nächster Zeit tun können, sei zu beten.
Beten allein ist wohl doch zu wenig!
Die Antwort von Franklin Graham genügt mir nicht! Sie schiebt das von Menschen verursachte weltpolitische Desaster hin zu Gott: Er soll geben, schenken, handeln …
Aber entspricht dieser weit verbreitete floskelhafte Standardaufruf zum Beten dem Wesen, Sinn und Ziel jüdisch-christlichen Betens?
Es gibt ein allgemein religiös-frommes, subtil magisches Beten im Sinne von «Jetzt hilft nur noch beten und je mehr wir beten, umso eher erhört uns Gott». Da lässt man den «deus ex machina»1 aufmarschieren zur Reparatur der durch uns angerichteten Schäden: Was für ein religiöses Relikt menschlicher Projektion!
Beten ist eine Lebenshaltung
Jesus entzieht in der Bergpredigt das Beten dieser dubiosen, ja heidnischen Frömmigkeit und dem religiösen Geschäft mit Gott. Davon befreit er uns. Und er setzt dem das «Unser Vater» entgegen.
Beten ist die Bewegung des Herzens und der Seele, der vertrauliche Dialog mit Gott, die beständige Beziehungspflege zu Gott und damit eine Grundhaltung des Glaubenden. Rufen und hören, reden und schweigen, danken und klagen, bitten und danken – das alles ereignet sich im Gespräch mit Gott und führt zum «ora et labora», zum «Beten und Tun».
Es ist beeindruckend zu sehen, wie die Betenden in der Bibel von Gottes Geist und Wort angesprochen, geprägt, getröstet, gestärkt und zum Tun beauftragt wurden. So haben die Propheten im Alten Testament besonders heftig und penetrant das Treiben des Klerus und der «falschen Propheten» kritisch infrage gestellt.
Der jeweiligen Politik den Segen erteilen, um keine Privilegien zu verlieren – was für ein Verrat an Gottes Sache! Deshalb verbot Gott einzelnen Propheten zeitweise sogar die sonst so wichtige Fürbitte2.
Ähnliches schreibt Dietrich Bonhoeffer im September 1934 an seinen Freund Erwin Sutz: «Hitler soll und darf nicht hören, er ist verstockt und soll uns zum Hören zwingen – so herum ist die Sache. Es ist naiv den Versuch zu machen, Hitler zu bekehren – eine lächerliche Verkennung dessen, was vorgeht – wir sollen bekehrt werden, nicht Hitler3.»
Es gibt ein unnützes Beten
Er und die Propheten im Alten Testament erinnern uns daran, dass es Zeiten voller Lügenpropheten und politischer Verführer gibt, deren Gebete Gott gar nicht hören will4. Genauso schonungslos deckt Jesus später jegliche fromm verpackte Doppelmoral auf5.
Wo die Bibel für ideologische, politische, nationale und private Ambitionen missbraucht wird, da muss unbedingt widersprochen werden. Offensichtlich gehören zur Fürbitte immer auch kritische Wachsamkeit und Sorgfalt, um zu merken, wie zu beten ist und ob Fürbitte sogar auch einmal aufhören darf.
Trommeln statt beten?
1941 wurde in Zürich das Drama «Mutter Courage und ihre Kinder» erstaufgeführt. Bert Brecht schildert zwei Lebensjahre einer Marketenderin6. Sie treibt im Dreissigjährigen Krieg ihre Geschäfte. In der vorletzten Szene wird nachts eine Bauernfamilie von kaiserlichen Soldaten bedroht. Die Bäuerin merkt, dass die evangelische Stadt Halle verloren ist, wenn man sie nicht weckt. Sie appelliert an die stumme Tochter der Mutter Courage: «Bet, armes Tier, bet! Wir können nix machen gegen das Blutvergiessen. Vater unser, höre uns, denn nur du kannst helfen, wir sind schwach und können uns nix trauen und sind in deiner Hand.» Da steht die stumme Kattrin verstört auf, holt unbemerkt etwas aus dem Tenderwagen, klettert auf den Stall und beginnt dort oben sitzend eine Trommel zu schlagen, um die Stadtwächter zu wecken. Sie hört und hört nicht auf, trotz der Warnungen der Soldaten trommelt sie immer lauter, sie wird zusammengeschossen – und Halle erwacht ...
Bert Brecht lässt in fast unerträglicher Zuspitzung den uralten Missbrauch des Gebets sichtbar werden: Sich selber retten wollen mit Gebetshülsen, die an einen Lückenbüsser-Gott gerichtet werden, anstelle der Verantwortungstat, des Widerstandes und des Protestes im Namen des gerechten Gottes. Das Trommeln der Kattrin entlarvt das gewiss subjektiv echte, fromme Gebet der Bäuerin als Alibi derer, die sich nicht einsetzen und aussetzen wollen.
Beten und das Gerechte tun
Einige Tage nach der Reichskristallnacht 1938 mit gewalttätigen Angriffen gegen die jüdische Minderheit in Deutschland, organisiert von den Nationalsozialisten, schreibt Bonhoeffer an seine Studenten in Finkenwalde: «In den letzten Tagen habe ich viel über Psalm 74, Sacharja 2,12 und Römer 9-11 nachgedacht. Das führt ins Gebet … Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen und beten.» Damals haben nicht einmal seine Freunde der Bekennenden Kirche protestiert. Auch die Freikirchen und der Pietismus blieben stumm. Eine weltabgewandte Verkürzung des Evangeliums hatte die Einheit von «Beten und Tun des Gerechten» zerbrochen – so Bonhoeffers Urteil.
Es gibt also ein Beten, das auf der Flucht vor dem Nachfolgegehorsam des Glaubens zur Ersatzhandlung verkommen ist! Wo Beten kritische Wachsamkeit, sorgfältige Beobachtung und begründete Infragestellung verdrängt, stimmt etwas nicht.
Wachen und Beten
Wie gut, dass sich gegen solch eine fromme Einseitigkeit Widerstand erhebt. Es gibt sie weltweit immer noch, die Christen als «Wächter auf der Zinne», verbunden im «Wachen und Beten» mit dem dreifaltigen Gott.
Die Anfrage Jesu «Könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?» setzt immer wieder zahlreiche Christen und Christinnen in Bewegung. Sie wollen in der Liebe zur Wahrheit, in Verantwortung und Gewissenhaftigkeit sowie im Pflichtbewusstsein und Gerechtigkeitssinn wachsen, um dann auch mal zu trommeln, wenn es die Stunde erfordert.
Die verantwortliche Tat ist sichtbar werdendes Gebet. Aktuelles Beispiel dafür ist das Statement «Reclaiming Jesus Declaration» der Nationalen Evangelikalen Allianz NAE und des Social Justice Resource Center. Es wurde im Mai 2018 an einer Kundgebung in Washington proklamiert als Protest gegen den inhumanen, pseudochristlichen Trumpismus und gegen die pseudofromme Ideologie der MAGA-Bewegung. Formal ähnlich wie die «Barmer Erklärung» von 1934 bekennt sie sich zur Gesinnung Jesu und verwirft jegliche asoziale und rassistische Diskriminierung von Menschen7. «Bekennen und Verwerfen» – wo wäre das auch in unserem Land wieder unser Auftrag, unsere Pflicht?
Wachet und betet!
1 «Deus ex machina» bezeichnet laut Wikipedia ursprünglich das Auftauchen einer Gottheit mit Hilfe einer Bühnenmaschinerie.
2 Jeremia 7,16; 11,14; 14,9ff
3 Eberhard Bethge: Dietrich Bonhoeffer, 1967, S. 415
4 Jesaja 2,15; 59,2; Jeremia 11,11; Micha 3,4; Sprüche 1,28
5 Matthäus 23
6 Eine Marketenderin begleitet laut Wikipedia militärische Truppen und versorgt die Soldaten mit Waren und Dienstleistungen des täglichen privaten Bedarfs.
7 Für Texte, Berichte, Kommentare und Videos dazu im Internet «reclaiming jesus declaration» eingeben.
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