Die Postmoderne markiert eine bedeutende Veränderung im Verhältnis zwischen Christentum und Kultur. Fast zweitausend Jahre lang gab es in der westlichen Welt ein Miteinander von Christentum und Kultur. Der christliche Glaube brachte die europäische Kultur hervor und prägte sie durch konservative Werte. Während sehr langen Perioden waren die beiden Bereiche kaum voneinander zu unterscheiden. Von dieser Zeit sprechen wir heute als dem konstantinischen Zeitalter mit seiner Symbiose von Christentum und Kultur und dem Einfluss der Kirche.
Vom Miteinander zum Gegeneinander
Die Aufklärung im 18. Jahrhundert stellte dieses Miteinander in Frage und bereitete so dem weltanschaulichen Relativismus den Weg. Fortan existierten zwei Narrative – zwei Deutungen – nebeneinander: das Christentum mit seiner biblischen Weltanschauung und konservativen Werten und der Fortschrittsglaube der Aufklärung mit seinen liberalen Ideen.
In der Mitte des 20. Jahrhunderts gewann das liberale Narrativ die Deutungshoheit. Spürbar wurde das an den Studentenprotesten und der sexuellen Revolution. Trotzdem gab es ein Nebeneinander von konservativen Werten und progressiven Lebenseinstellungen. Am deutlichsten zeigt sich das an Themen wie Abtreibung oder Homosexualität. Abtreibung wurde durch demokratische Prozesse legalisiert. Gleichgeschlechtliche Liebe wurde entkriminalisiert und staatlich geregelt. Bis zur Jahrtausendwende gab es in diesen Fragen heftige Auseinandersetzungen. Trotzdem existierte ein kulturelles Einvernehmen. Man übte sich in gegenseitiger Toleranz. Eine Mehrheit war bereit, eine Kultur der Vielfalt zu akzeptieren.
Seit der Jahrtausendwende wurde aus dem Nebeneinander ein Gegeneinander. Der Toleranzgedanke ist heute so dominant geworden, dass es keinen Platz mehr gibt für konservative Einstellungen. Der Satz «Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu tolerieren» des Philosophen Karl Popper aus dem Jahr 1945 ist heute Wirklichkeit geworden.
Das liberale Narrativ beansprucht im neuen Jahrtausend die Deutungshoheit ganz für sich und will den öffentlichen Raum dominieren. Wer nicht «woke» – aufgewacht – ist, wird ausgegrenzt. Dass ein neuer Realismus die gesellschaftliche Diskussion in Zukunft prägen könnte, wie einige philosophische Vordenker meinen, ist ein Hoffnungsschimmer am Horizont. In den nächsten Jahrzehnten aber müssen wir uns auf eine Diktatur der Toleranz einstellen. Die Symbiose von Christentum und Kultur ist vorbei. Als Evangelikaler befinde ich mich ab sofort in einer Situation des Exils.
Neu aufgewacht: Christen im Exil
Die gegenwärtig bedrückende Situation wird durch einen historischen Umstand erhellt: Das Christentum ist nicht in einer Symbiose mit dem Geist der Antike entstanden, sondern in einer Situation des Exils. Für die ersten Generationen von Christen war klar, dass sie mit dem Bekenntnis zu Jesus einer Gegenkultur beitraten. Viele wurden wegen ihres Bekenntnisses verlacht, ausgeschlossen oder getötet. Sie bezeichneten sich selbst als «Fremdlinge und Pilger»1.
Eine Situation des Exils ist also nichts Neues für die Christen und nicht einmal existenziell bedrohlich für ihren Glauben. Es gab ein lebendiges Christentum lange vor dem konstantinischen Zeitalter. Trotz des massiven Drucks der antiken Mehrheitskultur, und zum Teil wegen ihr, war das werdende Christentum äusserst lebendig. Es gehörte zum Wesen des christlichen Glaubens, dass er sich an Jesus und seiner Botschaft orientierte und dadurch in Konflikt mit der Mehrheitskultur kam. Die gegenwärtige Situation mag das Ende des Christentums als kultureller Faktor sein, aber nicht das Ende des christlichen Glaubens.
Schleichende Individualisierung des Glaubens
Es ist offensichtlich, dass die Postmoderne und das Evangelium keine Symbiose bilden – sie passen nicht zusammen. Es ist weniger offensichtlich, dass die postmoderne Kultur auch unser Verständnis von Kirche beeinflusst. Wenn es um die heutige Kirche geht, zeigt sich das Bild einer angepassten Christenheit. Das gilt für Fundamentalisten, die sich mit Gleichgesinnten ins Getto der christlichen Glückseligkeit zurückziehen und das Ende abwarten. Es gilt für Postevangelikale, die sich mit anderen Ausgestiegenen auf ein Bier treffen und einander versichern, dies sei nun die neue «Kirche». Es gilt für den evangelikalen Mainstream, dessen Bindung an die Kirche seit der Corona Pandemie ziemlich lose geworden ist. Eine zunehmende Anzahl zieht es vor, Predigten im Internet zu hören, statt sich verbindlich einer Gemeinschaft anzuschliessen.
Alle diese Formen von Kirche sind auf subtile Weise vom Individualismus der Postmoderne geprägt. Wenn ich auf mein eigenes kirchliches Milieu blicke, wird mir angst und bange: Gemeinsames Bekennen und verbindliche Gemeinschaft werden zu Randerscheinungen. Das sind, um eine Formulierung des ökumenischen Missionstheologen Lesslie Newbigin zu verwenden, «Zeichen einer inneren und geistlichen Kapitulation vor der Ideologie unserer Kultur»2. Der postmoderne Individualismus hinterlässt tiefe Spuren, so dass viele gar nicht realisieren, dass sie sich im Krieg befinden und bereits kapituliert haben.
Wir brauchen eine Renaissance von Gemeinschaft und Bekenntnis
Wir brauchen eine Renaissance der Gemeinschaft und des gemeinsamen Bekennens. Christ sein bedeutet nicht nur, an einem Glaubensbestand festzuhalten. Es bedeutet auch, verbindlicher Teil einer Gemeinschaft zu sein.
Gelebte Gemeinschaft ist für das christliche Zeugnis in der Welt unerlässlich. Viele säkulare Menschen sind ihrer Umgebungskultur entfremdet. Sie bewegen sich in digitalen Blasen, sind ständig unterwegs und doch einsam. Die Konsumkultur bietet viele Annehmlichkeiten: Ein Weihnachtseinkauf in New York, zwei Wochen Südsee zum Schnäppchenpreis, das neuste Gadget am Black Friday. Das Problem ist, dass diese Dinge nicht zusammenpassen. Das Leben im westlichen Kulturkreis wird immer mehr zur qualvollen Zusammenhangslosigkeit und Beziehungslosigkeit.
Wenn Christen in der Postmoderne etwas bewirken wollen, müssen sie der Kultur der Individualisierung eine Kultur der Gemeinschaft entgegensetzen. Sie müssen Jesu Ruf folgen und bereit sein, Kirche zu sein. Die physische Zusammenkunft von Christen ist in allen Generationen als dynamische Kraft verstanden und erlebt worden. Erst der postmoderne Individualismus stellt das in Frage. Was schlimmste Verfolgungen in zweitausend Jahren nicht geschafft haben, bewirkt die Digitalisierung im Handumdrehen: Dass Christen darauf verzichten, sich zu versammeln und gemeinsam anzubeten. Im Grunde genommen ist das die Weigerung, Kirche zu sein.
Wir müssen ein Verständnis dafür entwickeln, dass das Evangelium ein Ruf ist, einer Gegenkultur beizutreten. Wenn wir in der Welt etwas bewirken wollen, müssen wir der Kultur der Individualisierung eine Kultur der Gemeinschaft entgegensetzen. Wenn wir nicht den Mut haben, Kirche zu sein, gibt es kein glaubhaftes christliches Zeugnis. Vielleicht ist das die anspruchsvollste Aufgabe von allen und der Bereich, in dem wir alle umkehren müssen, egal ob Fundamentalisten, Evangelikale, Progressive oder Liberale3.
1 1. Petrus 2,11
2 vgl. Newbigin, Den Griechen eine Torheit, S. 129
3 Dieser Artikel ist ein bearbeiteter Auszug aus Roland Hardmeiers neuestem Buch «Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist». Das Buch erscheint im September 2024 beim Brunnen Verlag Giessen.
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