Musik: Jazz und Spiritualität 

«Ich glaube, dass die Qualität des Jazz der kommenden Zeiten sich noch vermehrt daran messen lassen muss, wie viel menschliche Imagination, wie viel persönliche Hoffnungen, Erfahrungen und Spiritualität dieser zum Klingen bringen vermag.» Dieser Satz steht am Ende einer glänzend geschriebenen Abhandlung über «Jazz und Spiritualität». Es lohnt sich, über diese Verbindung nachzudenken.

(Lesezeit: 7 Minuten)

Autor dieses Satzes ist der promovierte deutsche Musikwissenschafter, Komponist und Saxophonist Uwe Steinmetz. Das vor ein paar Monaten erschienene Buch1 hat nicht nur in kirchlichen Kreisen, sondern auch in den Kulturredaktionen säkularer Medien grosse Beachtung gefunden. Es zeigt in einer auch für musikalische (und theologische) Laien gut verständlichen Sprache den Gang des «spirituellen Jazz» auf. Dieser wird durch viele Hörbeispiele illustriert, die via QR-Codes abrufbar sind. Uwe Steinmetz geht auf drei Aspekte der spirituellen Jazzmusik ein. Er benennt sie mit den Begriffen «Feuer, Wahrheit und Gebet» und ordnet diesen Stichworten verschiedene Attribute zu.

Uwe Steinmetz (Bild: zvg)

Feuer: Schmerz, Ekstase, Katharsis, Licht

Der Jazz der afroamerikanischen Kultur entspringt schmerzlichen Erfahrungen, die sich oft in ekstatischer bzw. zur Ekstase führender Musik äussern. Jazz (auch im Gewand von Gospels und Spirituals) wirkt dann kathartisch, reinigend.

Davon sprach etwa Martin Luther King Jr. in seiner Eröffnungsrede zum Berliner Jazzfestival 1964. Der Jazz, insbesondere der Blues, erzählt von den «Schwierigkeiten des Lebens, und wenn man einige Momente darüber nachdenkt, dann erkennt man, dass sie (die Musizierenden) die härtesten Realitäten des Lebens in Musik umsetzen, um mit neuer Hoffnung oder auch mit einem Gefühl des Sieges wieder herauszukommen. Das ist dann siegreiche Musik. Der moderne Jazz hat diese Tradition fortgesetzt und singt die Lieder einer eher komplexen urbanen Existenz. Wenn das Leben selbst keine Ordnung und keinen Sinn bietet, schafft der Musiker eine Ordnung und einen Sinn aus den Klängen der Erde, die durch sein Instrument fliessen.»

Auch dort, wo etwa der Bepop «Tabula Rasa» mit der überkommenen musikalischen Sprache und den geistlichen Inhalten macht, brennt nach Uwe Steinmetz immer noch etwas von diesem ursprünglichen Feuer und kann ein Licht der Hoffnung aufscheinen lassen und spirituelle Wirkung entfalten.

 

Wahrheit: Einheit, Schönheit, Empathie

In diesem Abschnitt geht der Autor zunächst auf die Improvisation ein. Sie ist ein zentrales Merkmal des modernen Jazz. Sie schafft zwischen den Hörenden und den Musizierenden eine «fast konspirative Verbindung aller Anwesenden» und weckt Empathie für die Aufführenden. Denn die Musik entsteht aus einer «dialogischen Begegnung» zwischen Bühne und Publikum und natürlich auch zwischen den Musizierenden selber. So einsteht bei aller Hingabe an bestmögliche Qualität eine neue Geschichte. John Coltrane spricht von einer «klingenden Wahrheit» und meint damit «wahrhaftige Momente». So lässt sich etwa erklären, weshalb viele Platteneinspielungen Live-Aufnahmen sind. Und es erklärt auch, weshalb sich Jazz authentisch mit der Musiktradition anderer Völker mischen kann.

Gebet: Religion auf der Jazzbühne

Jazz und Kirche, Jazz und Spiritualität, dies ist oft ein «Hochseilakt». Hilfreich ist hier die Unterscheidung, die der Autor zwischen «liturgical», «sacred» und «spiritual Jazz» macht. Die Begriffe liegen eng beieinander, was aber der Sache entspricht.

1) Liturgical Jazz

Das Album des Saxophonisten Ed Summerlin mit dem Titel «Liturgical Jazz» (1959) ist die Geburtsstunde einer für den Gottesdienst geschriebenen Jazzmusik. Summerlin erhoffte sich durch seine Tourneen durch Universitäten und Kirchen in den USA sowie durch die Gründung von Jazzkirchen eine «nachhaltige Belebung der Gottesdienste durch neue Lieder und liturgische Formate». Er erkannte: Die religiöse Feier in den protestantischen Kirchen war in einer Krise. Der Anschluss an die zeitgenössische Kultur war verloren. Doch seine Bemühungen blieben ohne nachhaltige Wirkung. 1973 zog er sich enttäuscht zurück. Auch seine ursprüngliche Absicht, durch Jazz  die strikte Separierung von schwarzen und weissen Kirchen zu überwinden, scheiterte.

2)  Sacred Jazz

Dadurch etablierte sich der religiöse Jazz in nicht-kirchlichem Kontext. Jetzt verbindet er den individuellen Glauben der Komponisten mit der Ästhetik der Gegenwartskultur. Das erste Werk, bei dem zeitgenössischer Jazz und liturgische Elemente in einem Konzertrahmen kombiniert wurden, war das «Sacred Concert» (1965) von Duke Ellington für Big Band, Chor und Stepptänzer, das von den Kirchen heftig kritisiert wurde. In dieser Tradition steht auch die «Jazz Mass» des amerikanischen Komponisten Ike Sturm. Ich selber habe eine beeindruckende, von Uwe Steinmetz initiierte Aufführung in der Berliner Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche miterlebt.

3) Spiritual Jazz

Bald wollten sich viele Jazzmusiker von der Abhängigkeit von institutionellen Religionen befreien, um sich einen «ästhetischen und spirituellen Freiraum» zu erobern. Die individuelle (nicht nur christliche!) Religion der Jazzmusiker ergiesst sich in eine Musik, die ihrerseits die Zuhörer zu autonomen spirituellen Erlebnissen inspirieren will. Damit hat sich der Jazz von seiner ursprünglich kirchlichen Beheimatung entfernt. Dies entbindet ihn aber gemäss dem Zitat am Anfang nicht von der Aufgabe, sich mit Spiritualität zu befassen.

 

Neue Verbindungen knüpfen

Das Buch bietet allen eine Orientierung, die sich mit der komplexen Gattung «Jazz» näher befassen wollen. Jazz ist tatsächlich so vielseitig, dass der Begriff nur noch mit Anführungszeichen verwendet werden sollte, so der Autor. Dasselbe könnte man für «Spiritualität» vorschlagen. Manchmal gleitet auch dieser Begriff ins Diffuse ab. Uwe Steinmetz versucht, dieser doppelten Komplexität mit seinen Kategorisierungen beizukommen, was ganz gut gelingt.

Noch ein Wort zum Autor selber: Uwe Steinmetz selber hat – anders als viele seiner Kolleginnen und Kollegen, keinen Bruch mit der Kirche und christlichen Bewegungen vollzogen. Das beweisen seine zahlreichen Auftritte in Gottesdiensten sowie seine Einspielungen etwa zum Luther-Jahr. Auch begleitet er «Crescendo Jazz» seit Jahren aktiv mit und hat zusammen mit Matthias Krieg das Jazz-Netzwerk BlueChurch.ch gegründet, das nach eigenen Aussagen ein Versuch ist, «neue Verbindungen im Raum zwischen Spiritualität, modernem Jazz und kirchlichen Räumen und Initiativen zu knüpfen».

 

1 https://shop.claudius.de/jazz-und-spiritualitat.html

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