Wieviel Geist hat der Zeitgeist?

An einem sonnigen Tag wage ich mich ans Schreiben dieses Gastkommentars. In den vergangenen Jahren habe ich einige Ämter niedergelegt, neue sind dazugekommen. Viele meiner langjährigen Engagements leiste ich in sogenannten Tendenzorganisationen, sie sind also verbunden mit einer Werteorientierung. Passen meine Haltungen noch zum Zeitgeist?

(Lesezeit: 8 Minuten)

Bereits vor drei Jahrzehnten habe ich in der Gemeindepolitik erlebt, wie wir in einem zweitägigen Seminar als Fraktion und Vorstand unsere Legislaturziele erarbeitet haben. Wir überlegten uns, was unsere Werte für die konkrete Umsetzung in der Gemeindepolitik bedeuten und was wir planen, in den bevorstehenden vier Jahren umzusetzen. 

(Bild: Gerd Altmann auf Pixabay)

Ein an Werten orientierter Zeitgeist

Über die Jahre in der Gemeindeleitung meiner Kirchgemeinde haben wir lange die Praxis gepflegt, Interessierten an einer Mitgliedschaft in unserer Kirche in einem dreiteiligen Kurs die wichtigsten Glaubensgrundlagen zu erläutern und ihnen die spezielle Geschichte und Funktionsweise unserer konkreten Kirche, unsere aktuellen sozialen Grundsätze und die gegenwärtige Prägung als lokale Gemeinde näher zu bringen.

In verschiedenen von Christinnen und Christen gegründeten Organisationen war es eine Selbstverständlichkeit, Sitzungen mit einer kurzen Andacht und einem Gebet zu beginnen.

So habe ich verschiedene Haltungen als DNA von Werteorganisationen erlebt, die zwar regelmässig überdacht und reflektiert wurden, in Nuancen aber jeweils wieder zu ähnlichen Positionen führten.

 

Der Zeitgeist wird kurzfristiger

Heute sehe ich eine veränderte Situation. Menschen schliessen sich einer Organisation oder Kirche an und sind auch bereit, sich zu investieren. Vorzugsweise für ein befristetes Projekt, das überzeugt und getragen ist von Beziehungen. Die Zusammenarbeit mit konkreten Personen macht Freude. Kurzfristige Resultate geben Befriedigung.

Grundlage, Herkunft, Geschichte der Organisation interessieren die Beteiligten weniger. Langfristige Ziele nur beschränkt. Eintrittsschwellen werden gesenkt. Eine Mitgliedschaft wird eher gemieden.

Verändert sich zwei, drei Jahre später die Zusammensetzung der Mitwirkenden, so ändert sich damit auch das Umfeld für die einzelnen Beteiligten. Die vereinende Sache verliert an Bedeutung, andere Spielwiesen öffnen sich und das Engagement verlagert sich auf Neues.

 

Der Zeitgeist als Erholung

Die Zeitgeist-Forscherin Kirstine Fratz1 schreibt: «Zeitgeist ist die Erlaubnis, sich von den herrschenden Bedingungen zu erholen. In allen Formen und Farben.» Nun stellt sich mir schon die Frage, ob diese «Erholung» nun jeweils auch eine Abkehr von bisherigen Haltungen, Arbeitsweisen und Schwerpunkten beinhalten muss.

Ist es tatsächlich richtig, wenn berufliche Anforderungen immer vor einer zugesicherten Freiwilligenarbeit geleistet werden bzw. Freiwillige nur noch dann tätig sind, wenn die Ressourcen dies noch zulassen?

Noch allgemeiner gefragt: Ist es passend, wenn die Position zu Krieg, Verteidigung und Umgang mit Waffengewalt umgeworfen wird, weil ein Konflikt plötzlich eigene Interessen gefährden könnte? Ist es zielführend, Fragen zu Besitz und Reichtum, Beziehungen und Familie, Engagement und Nächstenliebe plötzlich aufgrund eigener Bedürfnisse neu und anders zu beantworten? Ist es erholend, Wohnort, Wohnpartner bzw. Wohnpartnerin, Arbeitsplatz, Kirche/Gemeinde zu wechseln, wenn es nicht mehr ganz passt?

Braucht es mehr Widerstand gegen den Zeitgeist?

Zugegebenermassen: Meine Zeitgeist-Beispiele zeugen von meinen Vorbehalten. Ich stelle fest, wie ich mich im Verlauf meines Lebens immer wieder an neue Fragen gewagt habe, die Argumente abwägte und zu einer Haltung kam: teilweise passend zu verbreiteten Ansichten in meinem Umfeld, teilweise mit anderen Lösungen. Für einige dieser Haltungen bezahlte ich einen bemerkenswerten Preis, erlebte Vorbehalte und Unverständnis, andere führten zu Anerkennung – je nach Milieu auch beides gleichzeitig. Und ich ertappe mich dabei, wie mir meine persönlichen, selbst aufwändig geschärften Positionen nun lieb und teuer geworden sind.

Ja, gelegentlich fällt es schwer, mitansehen zu müssen, wie meine Erkenntnisse von anderen vermeintlich leichtfertig, voreingenommen oder gar unreflektiert missachtet werden. Hip und Trend scheint gelegentlich aus Unbekümmertheit und Oberflächlichkeit einer Zufälligkeit Platz zu machen. Dabei werden Haltungen wiedergegeben, die nicht aus der eigenen Reflexion stammen, sondern irgendwo nachgelagert sind. Es wird dabei kaum berücksichtigt, was die Konsequenzen dieser Haltungen dann tatsächlich sein könnten.

 

Der Zeitgeist zu Zeiten Jesu

Zur Zeit Jesu lebte die geistliche Führung der Juden in einem ausgefeilten, über viele Jahre bzw. Jahrhunderte entwickelten Verständnis von dem, was es heisst, Gott-gefällig zu leben. Ich gehe davon aus, dass viele dieser «reifen Männer» aufrichtig versuchten, quasi Wahrheit zu leben, zu erleben und andere erleben zu lassen. Paulus, damals noch Saulus, war wohl einer dieser aufrichtigen, gottesfürchtigen Männer, lese ich aus den Texten in der Bibel2. Das «Damaskuserlebnis»3, auch mit der Redewendung «vom Saulus zum Paulus» noch heute in Gebrauch, zeigt auf, dass Haltungen Zäsuren vertragen. Vielleicht ist es sogar zwingend, sich von festgehaltenen Positionen zu befreien, um offen für das «angebrochene Reich Gottes»4 zu werden. So verstehe ich jedenfalls die Botschaft Christi.

 

Der Zeitgeist und subjektive Wahrheiten

Ja, ich kann und will es nicht leugnen: Einige meiner Erkenntnisse scheinen mir zeitübergreifend richtig zu sein. Verschiedene werden es für mich wohl bis zum Lebensende auch bleiben. Es sind für mich «Wahrheiten». Gleichzeitig will ich es weder mir noch den jüngeren Generationen vergönnen, Haltungen immer wieder neu zu prüfen, unvoreingenommen, ergebnisoffen, kritisch und hinterfragend, was nun im Moment eine Antwort auf eine aktuelle Frage sein könnte.

Auch meine Erkenntnisse bauen auf Überlieferungen, Gelehrtem, Erfahrungen und Erlebnissen auf, sie haben klar etwas Subjektives und verdienen das Prädikat «Wahrheit» nicht in jedem Fall.

 

Möge der Zeitgeist vom heiligen Geist erfüllt sein!

Persönlich vertraue ich, dass Gott sich Menschen offenbart, die nach Erkenntnis suchen. Vielleicht nicht so, wie ich es erlebt habe. Möglicherweise auch anders, als ich es mir wünsche. Am Schluss gar mit anderen Ergebnissen, als ich sie nachvollziehen kann.

Was würde Jesus tun? – Die WWJD5-Armbänder scheinen zwar bereits wieder aus der Mode gefallen zu sein. Das aufrichtige, ergebnisoffene Fragen und Ringen um eine Antwort, was wohl der «Schöpfer selbst» für diesen Moment passend fände, scheint mir aber spannend und lohnend.

Vielleicht ist es das Geheimnis des «Damaskuserlebnisses» oder auch von «Pfingsten», dass der Geist weht, wie er will6 und mich damit immer wieder neu überrascht. Die Sonne scheint im Moment noch immer. Ich wünsche mir und uns einen Zeitgeist, der aus dem heiligen Geist kommt!  Ob das «Schöpferlicht» gar für eine neue, vielleicht auch korrigierende Erleuchtung reicht? Sind auch Sie für Überraschungen bereit? – Ich will es bleiben, auch wenn dies nicht immer «erholsam» ist!

 

1  https://www.zeitforschung.com;  Kirstine Fratz gilt als «Deutschlands bekannteste Zeitgeist Expertin und Kulturwissenschaftlerin».

2 vgl. Apostelgeschichte 9

3 vgl. Apostelgeschichte 9, 3-9

4 vgl. Lukas 17, 21b

5 What would Jesus do? – Was würde Jesus tun?

6 vgl. Johannes 3,8 

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