Praxis: Übungen zur Schöpfungsspiritualität

Die Schöpfungsspiritualität lässt sich zurückführen auf Benedikt von Nursia, der um 480 in Italien geboren wurde. Er lebte in der Zeit des Übergangs von der Spätantike zum Frühmittelalter. Um 529 gründete er in einem Apollotempel bei Neapel die Abtei Montecassino als Stammkloster des Benediktinerordens und verfasste um etwa 540 die «Regula Benedicti» als geistliches Regelwerk für das Kloster. Diese Impulse sind bis heute hilfreich für eine an der Schöpfung orientierte Spiritualität.

(Lesezeit: 10 Minuten)

Erntedankfest im Allgäu (Bild: Hanspeter Schmutz)

Gemäss Felix Ruther prägen drei Grundhaltungen die Schöpfungsspiritualität:

1.  das Lob des Schöpfers / danken

2. die Ehrfurcht vor den Dingen

3. die Weisheit des Masses.

 

Wo und wie kann ich diese Grundhaltungen einüben?

Wir geben nun gerne Hinweise, wie diese drei Grundhaltungen eingeübt werden können. Wir empfehlen dabei die folgenden Schritte:

  • Ich lese jeweils den Text.
  • Gibt es einen Satz, der mich besonders anspricht oder herausfordert, den ich meditieren will, den ich abschreiben und auswendig – par coeur – lernen will?
  • Ich rede mit Gott über das, was mich im entsprechenden Abschnitt anspricht, bewegt.

 

Lob des Schöpfers – danken

Loben ist nichts als hörbar gewordene innere Gesundheit.

Der Snob hat immer und überall etwas auszusetzen.

Wer die Dinge lobt, wer sich an ihnen freuen und seiner Freude Ausdruck verleihen kann, der kann sie auch geniessen, der ist gesund1.

Loben setzt voraus, dass ich mich selber nicht so wichtig nehme, dass ich nicht ständig um mich und meine Lebensprobleme kreise, sondern mich von einem Grösseren ergreifen lasse. Das Loben setzt Gott in den Mittelpunkt. Wenn Gott im Mittelpunkt steht, dann findet auch der Mensch zu seiner Mitte.

Im Lob geht es nicht um mich. So ist es jetzt nicht so wichtig, ob ich mich müde fühle oder nicht, ob ich Lust zum Beten habe oder nicht. Wichtig ist, dass Gott da ist; dass Gott der Schöpfer der ganzen Welt und mein Schöpfer ist. Und dass ich sein Geschöpf bin. Gott bitten, dass er die vielfältige Not der Menschen wende, ja. Gleichzeitig ruft die Bibel den Menschen aber auch auf, Gott zu loben.

Entdecken wir in der Natur etwas von Gottes Schöpferkraft: Wasser, Berge, Täler, Weite, Bäume, Pflanzen, Steine, Tiere … Vielleicht bitten wir Gott, dass er unsere schon leicht verklebten Sinne öffnet … In der Natur können unsere Sinne wieder befreit werden. Schauen, Staunen, stilles Betrachten kann ein erster Schritt sein, hinter allem wieder den Schöpfer zu entdecken und neu zu lernen, mit der Schöpfung ins Lob des Schöpfers einzustimmen.

  • Heute und in den kommenden Tagen mache ich einen Spaziergang oder nutze den Weg zur Arbeit, zum Einkaufen bewusst, um Gottes Spuren in der Schöpfung zu entdecken und ihn dafür zu loben.
  • Heute und in den kommenden Tagen übe ich, für jede Kritik, die ich ausspreche, auch ein Lob, einen Dank, eine Anerkennung auszudrücken.

 

Ehrfurcht vor den Dingen

«Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit» und ist der Anfang gesunder Ehrfurcht.

Ehrfurcht ist die Haltung, in der ich mir bewusst bin, dass Gott mir in Jesus Christus nahe kommt – und doch immer der ganz Andere ist. Die Furcht des Herrn drückt aus, dass ich Gott nicht zu mir herabziehen kann, dass er letztlich ein Geheimnis bleibt. Ehrfurcht neigt sich vor dem ganz Anderen und Heiligen. Ehrfurcht kann staunen.

Die Seele braucht das Staunen, das immer wieder erneute Freiwerden von Gewohnheiten, Situationen, Überzeugungen, die sich wie Fettschichten, die unberührbar und unempfindlich machen, um uns lagern2.

Wenn die Ehrfurcht vor der Schöpfung schwindet, dann verkommt die Welt zur blossen Materie.

Der Heilige Benedikt sieht in der Unachtsamkeit so etwas wie den Gegenpol zur Ehrfurcht. Unachtsamkeit ist Folge von Zerstreuung und innerer Zerrissenheit. Weil ich nicht ganz präsent bin, werde ich den Menschen und den Dingen nicht gerecht, mit denen ich es gerade zu tun habe. Ich werde gleichgültig gegenüber dem Geheimnis des Menschen, gegenüber den Gesetzen der Natur.

Das Geheimnis in allem entdecke ich erst, wenn die Gottesfurcht mich sensibel macht für Gottes Gegenwart in allen Dingen, wenn sie mich aus meinem Kreisen um mich selber herausreisst. Viele sind gar nicht präsent in ihrem Tun und drehen sich um ihre Träume (Urlaub, Weekend, Erfolg …). Durch dieses unachtsam Sein geht vieles in die Brüche. Benedikt erkennt daher am Umgang mit den Dingen die Gottesfurcht des Betreffenden.

 

Ehrfurcht im Umgang mit den Menschen

Die Schöpfungsgeschichte spricht von der Gottebenbildlichkeit (hebräisch: zelem elokim) des Menschen: «Und Gott sprach: Lasst uns einen Menschen machen in unserem Bild, nach unserer Ähnlichkeit (…). Und Gott schuf den Menschen in seinem Bild, im Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie3

Rabbiner Joseph Herman Hertz (1872–1946) schrieb in seinem Tora-Kommentar4: «Weil der Mensch im Ebenbild Gottes geschaffen ist, kann er auch nie auf die Stufe einer Sache (…) herabgedrückt werden; er bleibt eine Persönlichkeit mit unveräusserlichen Menschenrechten. … Es ist bemerkenswert, dass die Tatsache der Gottebenbildlichkeit bei jeder jüdischen Hochzeit erwähnt wird, im vierten der sieben Segenssprüche. Warum? Um den Partnern bei der Gründung ihres neuen Hauses deutlich zu machen, dass sie nun die Möglichkeit haben, gemeinsam an der Entwicklung mitzuwirken, die der Schöpfer in Gang gesetzt hat.»

Rabbiner Henry G. Brandt (1927-2022), geprägt von der Schoa, der er durch Emigration entgehen konnte, bekannte, dass ihm 1. Mose 1,26f Hoffnung gebe und ihn jeden Tag aufs Neue in seinem Lebensmotto bestätige5: «Wähle das Leben!». Jeder Mensch habe eine freie Wahl, persönlich Position zu beziehen. Überall. Zu jeder Zeit6.

Daraus entstand der Rat eines anderen Rabbis (Quelle unbekannt): «Stell dir vor: Vor jedem Menschen, der dir entgegenkommt, geht unsichtbar ein Engel voraus, der ruft: «Achtung, Ebenbild Gottes kommt.»

  • Das Wissen, dass ich und alle Mitmenschen – jene, die ich mag und jene, mit denen ich mich schwer tue – als «Abbild, Ebenbild» Gottes geschaffen sind, ist zugleich identitätsstiftend und Verpflichtung.
  • Ich übe einen Monat lang, wenn ich jemandem begegne (auf der Strasse, im Büro, in einem Laden …) mir in Erinnerung zu rufen: «Achtung, Ebenbild Gottes kommt.»

 

Wir sehen die Ewigkeit nicht. 

Und dennoch heisst es, Ewigkeit sei in unser Herz gelegt.

Es ist, als würde man mir mit Blick auf meine Geigen sagen: «Du hast Klang in ihr Holz gelegt.»

Der Klang kommt nicht als eine neue Substanz hinzu, man sieht den Klang nicht.

Die Geige bleibt Holz und wir sehen nur das Holz.

Der Klang ist vielmehr die Potenzialität der Geige, er ist ihre Möglichkeit.

Die Geige kann klingen, und sie hört dabei doch nicht auf, Holz zu sein.

So ist Ewigkeit uns in unser Herz gelegt: Du kannst klingen.

Der Klang der Ewigkeit ist die Liebe, in all ihrer Vollmacht und Verletzbarkeit.

In diesem Klang der Ewigkeit nehmen wir Anteil an Gott in unserer Welt.

Und wie ein Musiker, der die Geige spielt, nimmt Gott Anteil an unserem Klang:

seine Wahrheit in unserem Verhalten;

seine Gerechtigkeit in unseren Verhältnissen;

seine Barmherzigkeit darin, dass wir einander die Dinge nicht nachtragen, sondern lernen zu vergeben.

All dies hat nicht mit romantischen Befindlichkeiten, sondern mit Ehrfurcht zu tun. Ehrfurcht ist eine in den Ernüchterungen des Lebens gereifte Form der Liebe7.

 

Weisheit des Masses

Gott hat allem Geschaffenen ein eigenes Mass gegeben. Unsere heutige Masslosigkeit im Umgang mit unseren Kräften und Ressourcen zeugt davon, dass wir dieses schöpfungsgegebene Mass nicht mehr wahrnehmen. Darunter leidet letztlich das Leben in all seinen Facetten. Stille hilft, dass ich erahnen kann, wo in meinem Leben dieses gesunde Mass verloren gegangen ist, und wo ich von diesen lebenszerstörenden Wegen umkehren will.

Das, was Gott in die Schöpfung und in den einzelnen Menschen hineingelegt hat, gilt es zu entdecken und dann mass-gerecht zu leben. Wer unmässig lebt, wird auch mit anderen masslos umgehen.

  • Lernen auf die inneren Stimmen zu hören – die Stimme des Magens, der Schulter, der Schlaflosigkeit ...
  • Neu lernen, auf die Rhythmen der Schöpfung einzugehen: Tag und Nacht / Sonntag und Werktag / Arbeiten und Ruhen …

Suchet das rechte Mass8.  

Wie ist bei mir das Verhältnis:

  • Arbeit – Freie Zeit
  • Wachen – Schlafen
  • Allein sein – in Gemeinschaft sein
  • Freie Zeit – ehrenamtliches Engagement (Gemeinde, Politik, Verein...)
  • Aktion – Kontemplation
  • Ist der Bogen überspannt oder zu schlaff?
  • Unterforderung – Überforderung
  • Geniessen – Verzichten
  • Gemeinschaft – allein sein
  • ..…

Den Reichen in dieser Welt gebiete, dass sie nicht stolz seien, auch nicht hoffen auf den unsicheren Reichtum, sondern auf Gott, der uns alles reichlich darbietet, es zu geniessen; dass sie Gutes tun, reich werden an guten Werken, gerne geben, zum Teilen bereit sind9.

Sag allen, die in dieser gegenwärtigen Welt reich sind, sie sollen nicht stolz sein und nicht auf ihr Geld vertrauen, das bald vergehen wird. Stattdessen sollen sie ihr Vertrauen auf den lebendigen Gott setzen, der uns alles reichlich gibt, was wir brauchen, damit wir uns daran freuen und es geniessen können.  Fordere sie auf, ihr Geld zu nutzen, um Gutes zu tun. Sie sollen reich an guten Taten sein, die Bedürftigen grosszügig unterstützen und immer bereit sein, mit anderen zu teilen, was Gott ihnen gegeben hat10.

 

1 C.S. Lewis

2 Dorothee Sölle

3 1. Mose 1, 26–27

4 Jüdische Allgemeine, 1.9.2023, Yizhak Ahren, «Was unsere Weisen über die Gottesebenbildlichkeit des Menschen lehrten»

5 5. Mose 39,19

6 Jüdische Allgemeine, 10.02.2022, Rabbiner Andreas Nachama im Nachruf für Rabbiner Henry G. Brand »Leuchtendes Vorbild«

7 Martin Schleske, Herztöne, S. 193

8 Paulus in Römer 12,3 nach der Übersetzung «Gute Nachricht»

9 Luther

10 1. Timotheus 6,17 nach der Übersetzung «Neues Leben»

 

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