Psychologie: Vom religiösen Missbrauch im frommen Gewand

In der letzten Zeit wurde Missbrauch in religiösen Systemen, Schulen und Gemeinden in den Medien breit diskutiert. Da geraten Kirchen und christliche Schulen in den Fokus mit Reportagen und Untersuchungen. Es kommen ungeahnt dunkle Machenschaften ans Licht. Nur schon hinhören und hinsehen sind schwierig auszuhalten. Als Antwort haben Kirchen und Freikirchen ein breit abgestütztes Netzwerk und eine Charta entwickelt, um vor Missbrauch in jeglicher Form zu schützen. 

(Lesezeit: 12 Minuten)

Die Botschaft der Charta ist klar und unmissverständlich: «Wir schauen hin und handeln! Wir dulden keine sexuelle Ausbeutung, keinen Machtmissbrauch und keine anderen Grenzverletzungen0.» Es geht darum, dass sich Menschen in christlichen Institutionen sicher fühlen. In diesem Sinne wurden Schutzkonzepte für Kirchen und Schulen entwickelt.

Oft standen bei der Berichterstattung vor allem der sexuelle oder der körperliche sowie der psychische Missbrauch im Vordergrund. In meiner psychotherapeutischen Praxis erzählten mir viele Personen von ihren diesbezüglichen Erfahrungen. Dabei hörte ich immer wieder, das Schlimmste sei gewesen, dass der Missbrauch religiös eingebettet und begründet worden sei.

(Bild: Tumisu auf Pixabay)

Warum die spirituelle Integrität besonders schützenswert ist

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht von einem bio-psycho-sozio-spirituellen Menschenbild aus. Es ist relativ einfach festzustellen, wenn die körperliche Integrität verletzt wird. Da geschieht etwas körperlich. Bei der psychischen Integrität sind die Grenzverletzungen schon komplexer. Verletzungen der sozialen Integrität wie etwa das Mobbing am Arbeitsplatz, die Verleumdung und Beschämung in einer Gruppe oder übers Internet sind tiefgreifend und das Ergreifen von Schutzmassnahmen wird schon sehr schwierig. Aber: Worum geht es denn bei Übergriffen und Grenzverletzungen bezüglich der spirituellen Integrität?

Unabhängig vom religiösen Umfeld erfährt jeder Mensch etwas vom Geheimnis des Lebens, der Welt und des Universums. Wir kommen in Kontakt mit dem Unerklärlichen und staunen einfach. Jeder Mensch darf selbst ertasten und sich diesen Geheimnissen auf seine Art annähern.

Christen reden dabei von Gott. In der Bibel berichten Menschen von ihren Erfahrungen mit diesem unerklärlichen Gott, um einander in dieser Suche zu unterstützen. Jeder ist frei, sich existenziell mit diesen Fragen auseinanderzusetzen und zu überlegen, was das Gehörte und Erlebte für sein Leben bedeutet.

Spirituelle Erfahrungen gehen sehr tief. Sie treffen auf unsere individuelle Existenz. Wir versuchen dabei, Sinn und Verbundenheit in der Tiefe unserer Seele zu erschliessen und zu ergründen. Spirituelle Erfahrungen gehen oft tiefer als sexuelle Begegnungen. Die spirituelle Integrität ist deshalb unbedingt schützenswert (wie auch die körperliche, sexuelle, psychische und soziale Integrität) und das Verletzungspotenzial sehr gross.

Die Spiritualität ist eine ungeheure Kraft, die unser Innerstes betrifft. Deshalb gehen Übergriffe auf diesem Gebiet besonders tief und sind sehr schmerzhaft. Über religiösen Missbrauch zu reden, ist besonders schwierig, weil oft die Worte dafür fehlen. Religiöse Gewalt muss nicht grobschlächtig sein, sie wird oft indirekt und subtil ausgeübt. Man spürt etwas, das meist nur diffus und neblig ist. Oft sind Betroffene erst mit jahrelanger zeitlicher Distanz überhaupt in der Lage zu beschreiben, was wirklich abgelaufen ist. Und trotzdem öffnen sich tiefe Abgründe. Eine Frau stellte im Gespräch fest: «Ich brauchte über zehn Jahre Distanz, bis mir bewusst wurde, dass ich Opfer von religiösem Missbrauch geworden bin.»

 

Was ist religiöser Missbrauch?

Angesichts der Bedeutung der spirituellen Integrität überrascht es nicht, dass sich im Bereich des religiösen Missbrauchs Gelehrte unmissverständlich zu Worte melden. Martin Buber, ein jüdischer Theologe und Philosoph, schrieb: «Nichts verdeckt Gottes Angesicht so wie Religion.» Blaise Pascal meinte: «Niemals tun die Menschen das Böse konsequenter und freudiger, als wenn sie es aus religiösen Motiven tun.» Jesus äusserte seine schärfste Kritik gegenüber den Schriftgelehrten. Er sprach dabei von reissenden Wölfen im sanften Auftreten eines Schafes1. Der Prophet Hesekiel warnte eindringlich vor den Hirten des Volkes, die nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind2, statt sich um das Wohl der ihnen Anvertrauten zu kümmern.

In Anlehnung an Inge Tempelmann3 sprechen wir von religiösem Missbrauch, wenn

… Grenzen, die Gott selbst jedem Menschen zugedacht hat, aus religiösen Gründen überschritten werden

 … der Lebensraum, der einer Person von Gott geschenkt ist, aus religiösen Gründen eingeengt wird.

Dies geschieht entweder

… ohne das Einverständnis der Betroffenen (man stülpt ihnen etwas über und kontrolliert sie damit),

oder die Grenzverletzung wird aufgrund von religiös getarnter Manipulation und gedanklicher Beeinflussung bereitwillig zugelassen.

Menschen üben so Macht im Leben von Personen aus und bedienen dabei eigene Bedürfnisse (narzisstische Komponente). So werden die Hilfsbedürftigkeit, die Hingabebereitschaft oder Abhängigkeiten mithilfe eines Machtgefälles ausgenützt. Damit wird eine Fürsorgepflicht gegenüber Anbefohlenen verletzt. 

In der Fachliteratur wird in diesem Zusammenhang oft von geistlichem Missbrauch gesprochen. Aber: Kann Missbrauch geistlich sein? Aus meiner Sicht ist geistlicher Missbrauch nicht möglich, weil Missbrauch geistlichen Werten oder geistgewirktem Handeln immer fundamental widerspricht. Der Begriff spricht einen religiösen Kontext an. Es geht um Machtmissbrauch für vermeintlich höhere Zwecke, für Ideologien wie den Kommunismus, die Naziphilosophie, ein Parteienideal, die Esoterik, Geheimwissen oder ein Guru-Setting. In allen diesen Fällen kann die Ideologie dazu führen, dass Mittel eingesetzt werden, um eigene Ziele zu legitimieren und zum Schaden der Anbefohlenen. Damit wird als Folge davon die Spiritualität eines Menschen angegriffen.

Jesus grenzte sich sehr eindringlich von der Instrumentalisierung des Menschen durch eine Ideologie ab: «Der Sabbat wurde doch für den Menschen geschaffen und nicht der Mensch für den Sabbat»4. Damit rückte er den Menschen – nicht die Ideologie – ins Zentrum. Ideale, gute Ziele und Inhalte sollen dem Menschen dienen, nicht der Mensch einer Idee. Wird die Idee wichtiger als der Mensch, wird diese zu einer Ideologie.

 

Beispiele für religiösen Missbrauch

Eine junge Frau warf mir in einer Diskussion über Musik im Gottesdienst Folgendes an den Kopf: «Du musst einen grossen blinden Fleck haben!» Wie dieser blinde Fleck aussieht, konnte sie nicht sagen. Ich beendete diese Diskussion sehr schnell und zog mich zurück. Oft wird in solchen Diskussionen die Aussage gemacht: «Der Geist sagt es mir!» Das macht einen missbräuchlichen Satz jedoch nicht glaubhafter.

Religiöser Missbrauch kann in persönlichen Begegnungen stattfinden. Es gibt auch Strukturen religiösen Missbrauchs. Sie können sich beispielsweise so äussern:

- Wenn du ein bestimmtes Problem ansprichst, wirst du selbst zum Problem gemacht. Dies führt dazu, dass dein angesprochenes Anliegen nicht angegangen wird. Es kann so weit gehen, dass die Leiter dir den Glauben absprechen, dich als psychisch krank oder sogar besessen, vielleicht sogar als Werkzeug Satans betiteln.

- Wenn du einen Leiter/Pastor hinterfragst, wird dir gesagt, du hättest ein Autoritätsproblem.

- Mentoring wird zur Kontrolle missbraucht. Leiter besprechen persönliche Details aus seelsorgerlichen Gesprächen und versuchen, die Untergebenen damit zu manipulieren bis hin zu Erpressung. Inhalte in vertraulichen Gebetsgruppen oder in der Seelsorge werden in der Gemeinde erzählt.

- Die Leitung nimmt sich das Recht, über dein Privatleben zu bestimmen. Sie ist mehr an deinem Lebensstil als an dir als Person interessiert. Hier ist nicht eine Anregung über deinen Lebenswandel gemeint, sondern der damit verbundene Druck und die Kontrolle.

 

Es ist nicht alles religiöser Missbrauch

Falsche Anschuldigungen führen in jedem Fall zu Verwundungen, aber nicht zwingend zu einem religiösen Missbrauch. Ein wiederholter «falscher Alarm» kann aber zur Nichtbeachtung von einem späteren tatsächlichen Missbrauch führen. Deshalb ist Vorsicht angebracht, vorschnell von religiösem Missbrauch zu reden.

Kein religiöser Missbrauch liegt vor, wenn

1. ... ein religiöser Leiter nach Prüfung eine Entscheidung trifft, mit der ich nicht einverstanden bin, solange er den geistlichen Stand der Andersdenkenden dabei nicht infrage stellt.

2. … die Leitung jemanden mit einem Fehlverhalten konfrontiert, das Ziel dabei Heilung oder Hilfe ist, und wenn dabei berücksichtigt wird, dass es unterschiedliche Ansichten über dieses «Fehlverhalten» geben kann.

3. … ein religiöser Leiter wegen gravierender Problemen gebeten wird, von einem Amt zurückzutreten.

4. … unterschiedliche Lehrmeinungen öffentlich geäussert werden, solange sie mit Respekt vor Andersdenkenden vorgetragen werden.

5. … an bestimmten Massstäben des Gruppenverhaltens festgehalten wird, solange Andersdenkende nicht geistlich bewertet, degradiert oder beschämt werden.

6. … ein religiöser Leiter eine starke Persönlichkeit mit viel Entschlossenheit ist.

 

Was zeichnet eine Gemeinde als einen sicheren Ort aus?

In einer Gemeinde, die ein sicherer Ort ist, herrscht eine Atmosphäre des Zuhörens und des Interesses an meiner Person. Hier dürfen die Gläubigen sich selber sein und ihr inneres Erleben ausdrücken. Auch in sehr schmerzvollen Momenten finden sich Menschen, die zuhören, ohne zu verurteilen.

Die hier vertretene Theologie hält Räume offen, in denen inneres Erleben sein darf und nicht wegtheologisiert wird. Hier gibt es nicht nur die Guten und alle anderen sind die Bösen. Es ist nicht alles Schwarz oder Weiss. Die Theologie reflektiert über die Nasenspitze der eigenen Bedürfnisse hinaus und orientiert sich am wertschätzenden Umgang Jesu mit den Menschen.

Die christliche Gemeinde soll ein Ort sein, in dem die Glieder einander unterstützen im Suchen nach Gott. Jeder darf seinen Weg mit Gott gehen, der anders sein darf als meiner!

Die Menschen werden gefördert und zur Mündigkeit geführt. Sie werden eingebunden, ohne vereinnahmt zu werden. Es herrscht Transparenz über die gelebten Werte und diese dürfen hinterfragt werden. Eigene Grenzen werden respektiert, und es besteht eine Sensibilität über die Gefahr von religiösem Missbrauch. Diese wird von den Leitenden thematisiert. Mit dieser Offenheit ist nicht «anything goes» gemeint. Eine Gemeinde darf biblische Werte vertreten und Inhalte des Evangeliums verkünden. Sie darf zum Glauben einladen. Sie darf Traditionen pflegen, solange auch hinterfragt werden darf und die Gemeinde für kritische Rückfragen offenbleibt.

 

0 https://www.charta-praevention.ch/index.php/de/

1 Matthäus 7,15; weitere Stellen im Neuen Testament: Matthäus 7,15.16.21-13; 23, v.a. 4-12; 24,45-51; Lukas 11,43-46; Apostelgeschichte 20,29-35; Römer 16,17-18; 2. Korinther 11,30; Philipper 1,17; 1. Petrus 5,2-3; 2. Petrus 2,1-3; 3. Johannes 9-10; Offenbarung 2,2

2 Hesekiel 34,2ff; weitere Stellen im Alten Testament:  Jesaja 5,20; Jeremia 6,13-14; Hesekiel 22,24-29.

3 Tempelmann Inge (2007): Geistlicher Missbrauch. Auswege aus frommer Gewalt. S. 22

4 Markus 2,27 (Hoffnung für alle)

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