Überraschende Offenheit für soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit unter evangelikalen Christen

An der kürzlichen Stopp-Armut-Tagung in Biel wurden die Resultate einer wissenschaftlichen Studie über die Einstellungen von «religiösen und hochreligiösen Menschen» zu Fragen rund um die soziale Gerechtigkeit und die ökologische Nachhaltigkeit präsentiert. Dabei zeigte sich, dass diese Themen nicht nur bei den jungen, sondern auch bei älteren Christen einen hohen Stellenwert haben, auch in theologisch konservativen Kreisen. Was bleibt, ist aber oft die Kluft zwischen Wissen und Handeln.

(Lesezeit: 9 Minuten)

Matthieu Dobler Paganoni, Geschäftsleiter der Arbeitsgruppe «Interaction» von der Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA), war Hauptverantwortlicher der Konferenz. Er äusserte seine positive Überraschung angesichts dieser Studienergebnisse so1: «Ich habe nicht direkt mit einer so hohen Zustimmung gerechnet, dass der Glaube zum Einsatz für Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit motiviert und sich die Kirche hier engagieren soll.» In der Sensibilisierungsarbeit mit der Stopp-Armut-Kampagne in den Kirchen erlebe er, dass das Thema in der Praxis manchmal einen schweren Stand habe.

Reisessen zum Start der Stopp-Armut-Kampagne auf dem Berner Bärenplatz beim Bundeshaus (Bild: Fritz Imhof)

Denn sie tun nicht, was sie wissen

Auch Nationalratspräsident Eric Nussbaumer, zur Zeit also der höchste Schweizer, machte in seinem Grusswort die Lücke zwischen Wissen und Handeln zum Thema. Die Studie zeige, dass viele der sozialen Gerechtigkeit eine hohe Bedeutung beimessen würden. Der Glaube ermutige sie, sich für soziale Gerechtigkeit einzusetzen. Dennoch räume die Mehrheit ein, sich im Alltag nicht immer entsprechend zu verhalten. Dasselbe zeige sich auch im Bereich der Nachhaltigkeit.

Tobias Faix und Anna-Lena Moselewski, die beiden Autoren der Studie, die von der CVJM Hochschule in Kassel durchgeführt worden war, präsentierten an der Tagung die wichtigsten Ergebnisse2. Die Studie war eine Gelegenheitsstichprobe aus der Zielgruppe von religiös motivierten Menschen, soziologisch als Religiöse und Hochreligiöse (rund 20% der Bevölkerung) bezeichnet, bei denen der Glaube im Alltag eine Rolle spielt.

Die Studie bestätigte, dass der Glaube bei hochreligiösen Menschen im Alltag eine wichtige Rolle spielt. Die beiden Fragen in der Studie «Ermutigt dich der christliche Glaube, dich für soziale Gerechtigkeit einzusetzen» und «Soll sich die Kirche für Nachhaltigkeit einsetzen» hätten 90% und mehr Zustimmung erzielt. Das Engagement zeige sich vor allem im ganz privaten Bereich, etwa beim Recycling, dem Energiesparen oder beim Konsum. In der Regel beschränke sich die Kirche auf theologische Themen und greife nicht in das Privatleben ein, indem sie etwa auffordert, auf das Auto zu verzichten. In der Studie sei die Erwartung, dass eine wörtliche Bibelauslegung zu einem kleineren Engagement für die soziale Gerechtigkeit führe, nicht bestätigt worden. Je stärker aber die Schöpfungsspiritualität theologisch gewichtet worden sei, desto nachhaltiger sei auch das Verhalten der Gemeindeglieder geworden, auch im gesellschaftlichen Engagement.

Leona Eckert, seit 2023 Co-Präsidentin der Jungen EVP Schweiz, zeigte sich irritiert, dass sich laut der Studie junge Christinnen und Christen im Zusammenhang mit dem Klimawandel nicht mehr Sorgen machen als ältere Gemeindeglieder. Offensichtlich gebe es hier einen Unterschied zwischen der säkularen Klimajugend und den frommen Jugendlichen. Vielleicht gerade deshalb kommen die Autoren der Studie zum Schluss, dass soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in der christlichen Gemeinde stärker vorkommen müssen, «damit die Jugend gehalten werden kann».

 

Ökotheologie oder Schöpfungsspiritualität?

Zumindest für das nachhaltige Handeln scheint das Bewusstsein für die Schöpfungsspiritualität, für die Tatsache also, dass Gott die Welt erschaffen hat und erhält, eine wichtige Rolle zu spielen. Sarah Bach, Pfarrerin der Evangelisch-methodistischen Kirche Schweiz (EMK), war Referentin an der Tagung. Sie forscht teilzeitlich an der Uni Zürich zum Verhältnis von Ethik und Spiritualität in der «Ökotheologie». Auf unsere Frage, was damit gemeint sei, sagte sie: «Der Begriff Ökotheologie wird seit etwa 50 Jahren verwendet. Darunter werden alle theologischen Gedanken zusammengefasst, die sich rund um das Thema Ökologie ergeben. Mir gefällt der Begriff, weil er das Ganze betont. Während der Begriff Umwelt auf den Menschen zentriert und der Naturbegriff von philosophischen Konzepten geprägt ist, löst die ökologische Theologie instinktiv die richtigen Bilder aus. Eine wichtige Anschlussfrage wäre etwa, was die Klimakrise für den Glauben bedeutet.» Der Begriff Schöpfungstheologie werde oft nur auf die Schöpfungsgeschichten konzentriert. Die Bibel mache aber mehr Aussagen über die gesamte Gemeinschaft als nur über die Schöpfung. Die Psalmen und auch das Reich Gottes zeigten ökologische Zusammenhänge. «Die Ökotheologie ist breiter als die Schöpfungstheologie und anschlussfähiger für andere religiöse Konzepte wie den Islam oder den Buddhismus.» Schöpfung sei ein christliches Wort, das für Menschen, die nicht christlich aufgewachsen sind, unverständlich sei.

Die Spiritualität darf laut Sarah Bach nicht unterschätzt werden, wenn das nachhaltige Handeln von Christinnen und Christen untersucht wird. «Sie kann uns helfen zu erkennen, was gut und was falsch ist.» Dabei werde sie zu einer Ressource zum Handeln: «Beides gehört zusammen.»

 

20 Jahre Stopp Armut

Laut Salomé Richir-Haldemann, Kampagnen-Koordinatorin in der Westschweiz, war die Studie bewusst angefragt worden, um der Sensibilisierungskampagne «Stopp Armut» einen Hintergrund und eine Motivation für die Zukunft zu geben: «Wir wollten wissen, wie sich Christinnen und Christen zu den Themen positionieren, für die wir seit 20 Jahren sensibilisieren3

An der Tagung wurde denn auch der 20-jährigen Geschichte von Stopp Armut gedacht. Dies weckte bei mir auch persönliche Erinnerungen. Bei meinen Kontakten mit der International Fellowship of Evangelical Students (IFES) in meiner Zeit als Mitarbeiter der Vereinigten Bibelgruppen (VBG) lernte ich einige herausragende Vertreter einer linksevangelikalen Theologie kennen, darunter Ruth Valerio. Die anglikanische Theologin ist heute Leiterin von Tear Fund Grossbritannien. Sie ist die Tochter des lateinamerikanischen Befreiungstheologen René Padilla. Ihre Impulse veränderten meine Sicht auf die Fragen rund um die soziale Gerechtigkeit. In der Folge lud ich den IFES-Apologeten Vinoth Ramachandra zu einer Nord-Süd-Tagung in die Schweiz ein, dies im Rahmen der VBG, aber schon damals auch mit Kontakt zur SEA. Daraus entwickelten sich die heutigen Stopp-Armut-Konferenzen. Geblieben ist mir der Kampagnenstart mit einem öffentlichen Reisessen der Initianten auf dem Bundesplatz (Bild). 

Die Ziele der Kampagne fasste Fritz Imhof im Oktober 2004 wie folgt zusammen4: «StopArmut2015 will in der Schweiz gute Projekte initiieren, Christen zu Akteuren gegen die Armut ausbilden und motivieren, politisches Lobbying betreiben und zum Gebet für Veränderungen aufrufen, welche Armut abbauen. Zur Arbeitsgemeinschaft Nord-Süd der SEA gehören die Hilfswerke Tear Fund Schweiz und Interserve, die Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Missionen (AEM), das Netzwerk ChristNet und die VBG.»

Heute ist die Stopp-Armut-Kampagne Teil von Interserve5. Die diesjährige Tagung dokumentierte in berührender Weise, was aus den Anfängen geworden, aber auch, was noch zu tun ist. Und: Nicht zufällig gehören Stopp-Armut und Interaction bis heute zu den Partnern der insist consulting gmbh, die diesen Newsletter herausgibt6.

 

1 Medienmitteilung der Veranstalter

2 Details zur Studie: https://ge-na-studie.net

3 Medienmitteilung der Veranstalter

4 Livenet vom 19.10.2004

5 Zu den aktuellen Hilfsmitteln für christliche Gemeinden gehören der «Just People Kurs» (https://stoparmut.ch/justpeoplekurs/), das Analyse-Tool «Eco Church» (https://ecochurch.ch) und der «Sonntag für unsere Nächsten» (https://stoparmut.ch/sonntag-fuer-unsere-naechsten/)

6 siehe: https://www.insist-consulting.ch/wir/partner.html

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