Architektur: Preisgünstige Wohnungen für Frauen mit niedrigem Einkommen

In den 1950er Jahren gab es kaum Wohnungen für alleinstehende Frauen. In dieser schwierigen Situation trat eine Sozialarbeiterin auf: Gertrud Niggli. Sie wollte diese Situation ändern. Eine Erfolgsgeschichte – bis heute.

(Lesezeit: 5 Minuten)

Gertrud Niggli begegnete in ihrer Arbeit der Not vieler Frauen, die sich nirgends daheim fühlten und sich von den Wohnungsbesitzerinnen, bei denen sie ein Zimmer mieteten, vieles bieten lassen mussten. Gerade die Frauen über 40 Jahren hatten ein starkes Bedürfnis nach einer eigenen Kleinwohnung. Im Januar 1955 meldeten sich für 48 Ein-Zimmer-Wohnungen in einer städtischen Siedlung in Zürich 950 Frauen!

Rötelstrasse 96 (Bild:  Anne-Lise Diserens)

Erste Häuser für alleinstehende reformierte Frauen

So gründete Gertrud Niggli zusammen mit anderen Gleichgesinnten den Verein «Gemeinnütziger Verein für alleinstehende reformierte Frauen Zürich».

Sie schrieben Briefe an Kirchenpfleger, Pfarrer (Pfarrerinnen gab es damals noch nicht), Pfarrfrauen, Gemeindehelferinnen und Diakone, veröffentlichten Artikel im Kirchenboten, veranstalteten Gartenfeste, um Mitglieder für den Verein zu werben und Geld für mögliche Kaufobjekte zu generieren.

Als erste Liegenschaft konnte 1957 ein Haus an der Birchstrasse 16 gekauft werden. Der Verein erhielt zu einem niedrigen Zins Geld von der Zentralkirchenpflege, Darlehen und Hypotheken.

1963 folgte ein Neubau an der Rötelstr. 96 in Zürich. Dessen Architekt war Robert Constam, der den Vereinigten Bibelgruppen (VBG) nahestand; später übernahm Paul Bissegger sein Büro. Mit Paul verbindet mich das jahrelange Engagement im Leitungsteam des VBG-Fachkreises Architektur. Die Kirchgemeinde Wipkingen gewährte für den Neubau einen sehr günstigen Baurechtszins.

1969 vermachte ein Besitzer sein Haus an der Thurwiesenstrasse 18 dem Verein, mit der Auflage, dass es bei einem möglichen Abbruch wieder im gleichen Volumen und Stil gebaut werden musste. Das geschah dann auch, weil das Haus baufällig war.

Im Vorstand waren und sind sechs bis zehn Vorstandsmitglieder. Ich stiess 1991 dazu. Später konnte ich drei Kolleginnen dafür gewinnen, alle aus dem VBG-Netzwerk.

 

Im Laufe der letzten 30 Jahre gab es an der Rötelstrasse einen grossen Umbau, in dem ein Teil der Kleinstwohnungen zu 2-Zimmer-Wohnungen zusammengelegt wurden und das Haus für neue 1 ½-Zimmer-Wohnungen aufgestockt wurde. Die Bauten an der Birch- und Thurwiesenstrasse wurden saniert. Seither gibt es Sonnenkollektoren auf allen drei Liegenschaften, und bei der Rötelstrasse wurde zusätzlich eine Photovoltaik-Anlage installiert.

Bis 2022 wurden von uns Frauen im Vorstand alle anfälligen Arbeiten freiwillig bewältigt. Aber dann mussten viele ihre Vorstandstätigkeit altershalber aufgeben, und wir zogen eine Verwaltung bei, als eine wichtige Ergänzung zur Vorstandsarbeit. Ab diesem Zeitpunkt wurde ich Präsidentin und Karin Fehr vom VBG-Architekturkreis Vizepräsidentin.

Wir sind ein gemeinnütziger Verein, es wird viel Freiwilligenarbeit geleistet, und wir müssen nicht einen Gewinn erwirtschaften. Deshalb sind unsere Wohnungen immer noch sehr günstig und in der heutigen Zeit der Wohnungsnot sehr begehrt. Wir erhalten viele Anfragen, auch von Frauen, die sich in einer persönlichen Notlage befinden. So werden viele schwierige Frauen-Schicksale plötzlich sichtbar. Alle drei Liegenschaften sind ausschliesslich von Frauen bewohnt und bieten so auch einen gewissen Schutz und Geborgenheit.

 

In der heutigen Wohnungsnot doppelt gefragt

Letztes Jahr haben wir die Statuten etwas abgeändert. Der Verein nennt sich nun «Frauenwohnhilfe Zürich»1 . Im Vorstand sind auch heute noch Christinnen, die sich mit viel Herzblut und Engagement für preisgünstige Wohnungen einsetzen. Heute gibt es in unseren drei Liegenschaften drei 4 Zimmer-WG-Wohnungen und 27 Kleinwohnungen.

Interessant ist, dass heute wieder vermehrt kleinere Wohnungen angeboten werden – sogenannte Mikrowohnungen. Viele Mieterinnen und Mieter können sich grössere Wohnungen nicht leisten – es betrifft alle. Investoren springen auf diesen Zug auf, aber vermieten diese Mikrowohnungen im Gegensatz zu uns zu recht hohen Mietzinsen.

Es ist wunderbar zu sehen, was aus der Vision von Gertrud Niggli, einer Privatperson und Christin entstanden ist. Wir staunen über das, was Gott, auch durch viele Veränderungen hindurch, bewirkt hat. Und wir sind dankbar, dass wir unseren Auftrag, günstige Wohnungen für Frauen mit einem niedrigen Einkommen anzubieten, bis heute erfüllen können.

 

1 siehe: https://frauenwohnhilfe.ch

Schreiben Sie einen Kommentar