Auch für den Beobachter ohne Fachwissen wird klar: Was mit «Künstlicher Intelligenz» (KI) auf uns zukommt, können wir nicht abschätzen. Nachdem das Internet grosse Teile der Welt vernetzt und unseren Alltag unüberblickbar verändert hat, fährt nun KI ein. In den letzten zwei Jahren sind so viele Anwendungen praxisreif geworden, dass es mir als einem, der IT-Neuerungen erst mal kritisch gegenübersteht, die Haare sträubt.
Künstliche Intelligenz: bald überall?
Internet-Freaks scheinen fasziniert vom Anspruch, mit KI die Tür zu neuen, virtuellen Dimensionen aufzustossen. Und das in immer mehr Bereichen, u.a. bei Banken, in der Forschung und Kriegsführung. KI gibt es auch zu Hause: Photoshop will mir die Hemmungen nehmen, Bilder zu erschaffen. Super, wenn ich die Pracht mehrerer Momente oder Orte kombinieren kann. Doch was ist in der medialen Berichterstattung über kontroverse Themen und Konflikte zu erwarten? Was wird uns künftig vorgegaukelt werden?
KI in der Schule: Wer wird noch Aufsätze selbst schreiben, wird noch üben wollen, Gedanken zu entwickeln und ihnen eine ansprechende sprachliche Form zu geben? Läuten bei Aufklärern der alten Schule mit der Losung «sapere aude – wage zu denken!» die Alarmglocken?
Der Physiker Eduard Kaeser hat in der NZZ1 ein von George Dyson formuliertes Gesetz zitiert: «Ein System, das intelligentes Verhalten manifestiert, ist zu komplex, um vollständig verstanden zu werden.» Kaeser hält fest: «Künstliche Intelligenz bleibt uns zutiefst fremd.» Die Technologie mache den Menschen immer maschinenkompatibler.
Doch die Wirtschaft hat sich auf KI eingestellt: Der Verlockung, mit künstlich generiertem Material die Arbeit rascher erledigen zu können, Profit zu machen, Konkurrenten in den Schatten zu stellen, neue Zusammenhänge aufzuzeigen oder sensationelle Bilder zu generieren, wird die Mehrheit nicht widerstehen können oder wollen.
Und so ergibt sich, wie mein Freund Daniel Stoller-Schai2 sagt, neben dem «Digital Divide» eine zweite Kluft, ein «AI Divide»: Anwenderinnen und Anwender von KI stehen solchen gegenüber, die sie nicht nutzen können oder nicht nutzen wollen. Damit dies nicht geschieht, müssten Zugänge zu KI-Tools und Ausbildungsmöglichkeiten für alle geschaffen werden. Daniel Stoller-Schai ist überzeugt: Nur so können Chancen und Risiken erfahrungsbasiert besser verstanden und eingeschätzt werden.
KI in der Kirche?
Was kann, was soll KI in der Kirche? Der KI-Spezialist Jonas Simmerlein gab ChatGPT im Frühjahr 2023 den Auftrag, für den Kirchentag in Nürnberg eine Predigt schreiben. Sie befriedigte nicht: «Es wirkt seltsam, wenn eine Maschine über Erfahrungen spricht, die nur Menschen machen können», sagte Simmerlein dem Internetportal «ref.ch».
Für die Jugendseite von «wort+wärch», dem Magazin des Evangelischen Gemeinschaftswerkes EGW, liess Linda Steiner im Herbst 2023 dasselbe Programm skizzieren, wie junge Christen KI sinnvoll nutzen können. Der generierte Text trug in der ursprünglichen Version den Titel «Die KI und Ich: Ein göttlicher Tanz der Technologie» und endete mit «In Demut und mit Segen: die Künstliche Intelligenz». Das Programm betonte, es gelte «Technologie in den Dienst des Glaubens und der Menschlichkeit zu stellen. Sie ist ein Werkzeug, das wir nutzen können, um Gottes Schöpfung zu ehren und die Liebe zu verbreiten.» Dieser betörenden Eigenwerbung werden sich viele nicht entziehen können, zumal sie Ur-Sehnsüchte aufnimmt, auch fromme.
IT-affine Pragmatiker unter den Theologen fragen nach den Risiken und den Chancen von KI. Der Zürcher reformierte Kirchenrat Andrea Marco Bianca nahm im Juni in der Fragestunde der Kirchensynode Stellung. Er warnte vor einer «Automatisierung ohne menschliche Interaktion». Doch könnte KI in der Internet-Seelsorge bei Erstkontakten eine Triage vornehmen? Und auch helfen, die Bedürfnisse von Mitgliedern besser zu erfassen? Zwar gebe es Risiken auf vier Feldern: Vertrauen, Entfremdung, Ungleichheit und Missbrauch. Doch die Kirchen verschliefen oft neue Möglichkeiten, äusserte der Theologe. Daher: «Unbedingt ausprobieren … Die Chancen sind etwas grösser als die Risiken.»
Hat die Kirche mehr zu sagen?
Ich möchte gleichsam zwei Schritte zurücktreten und eine theologische Einschätzung wagen. Und dabei an den Turmbau zu Babel erinnern3, der durch eine gemeinsame Sprache möglich wurde. Babel mag weit hergeholt sein. Doch immerhin sind die Protagonisten und Entwickler heute weltweit geeint durch eine Sprache und eine Technologie. Diese Technologie verändert unser Menschsein auf eine Weise, die wir nicht abschätzen können. Trotzdem wird sie enthusiastisch begrüsst. Transhumanistische Illusionen – die Entgrenzung des Menschseins – nähren sich von ihr. Der Turm besteht aus Maschinen, die unabsehbar Neues hervorbringen und sich wohl auch zunehmend selber reproduzieren.
Der Weltkirchenrat in Genf stellte an der Europäischen Christlichen Internetkonferenz (ECIC) in Genf im September die Frage: Was ist Wahrheit? Nicht ohne Grund wird befürchtet, dass die Wahrheit unter die Räder der digitalen Manipulation gerät und damit das Vertrauen, das Lebenselixier der Demokratie, verfällt.
Christen trägt der Glaube, dass Gott durch sein Wort alles geschaffen hat und alles erhält. Sein Wort ist Wahrheit; es durchdringt und vertreibt die Finsternis, welcher Menschen durch ihren Eigensinn Raum geben. Gott offenbart Wahrheit und ist durch sein Wort und seinen Geist unter uns gegenwärtig.
Ich vermute, dass eine der KI hingegebene Gesellschaft, vorsichtig ausgedrückt, unsensibler wird für Wunder und für das Reden des Schöpfers. Wenn unsere Wirklichkeit zunehmend durch KI verfremdet und umgestaltet wird, wird Gott noch Gott bleiben und zu uns reden können?
Was brauchen wir in dieser Zeit? Paulus betete4, «dass der Gott unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Herrlichkeit, euch gebe den Geist der Weisheit und der Offenbarung, ihn zu erkennen. Und er gebe euch erleuchtete Augen des Herzens, damit ihr erkennt, zu welcher Hoffnung ihr von ihm berufen seid.»
1 NZZ vom 22.6.2023
3 1. Mose 11
4 Epheser 1,17f
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