Medizin: Gefährliche Verengung in unseren Diskussionen – über die Medizin hinaus

Die Theologin und Medizinethikerin Ruth Baumann-Hölzle hat sich über Jahrzehnte in der Stiftung Dialog Ethik für ergebnisoffene und respektvolle Diskussionen im Bereich der Medizin eingesetzt. Sie stellt fest, dass diese Offenheit in unseren gesellschaftlichen Diskussionen zunehmend verlorengeht. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die Medien. Es ist eine Verengung, die unser friedliches Zusammenleben gefährdet. Wir haben mit ihr ein Gespräch geführt. Die folgenden Ausführungen sind eine Zusammenfassung dieses Gespräches.

(Lesezeit: 12 Minuten)

Wir bewegen uns heute zunehmend mit Gleichgesinnten in abgegrenzten «Blasen». Das ist nicht ganz neu, sondern typisch menschlich. Wir umgeben uns gerne mit Menschen, die unsere Meinungen und Wertevorstellungen teilen. Neu ist, dass wir uns auch im Bereich der öffentlich rechtlichen Medien zunehmend in Blasen bewegen. Heute werden Themen seltener kontrovers dargestellt. Es wird stärker auf die Person und weniger auf die Inhalte fokussiert. 

(Bild: ashish choudhary auf Pixabay)

Inszenierung statt Auseinandersetzung

Das zeigt sich etwa in den Auseinandersetzungen zwischen Kamala Harris und Donald Trump rund um die US-Präsidentschaftswahlen vom November. Hier geht es weniger um eine inhaltliche Auseinandersetzung, sondern vielmehr um die Inszenierung von Personen.

Das führt zu einer gefährlichen Entwicklung: Die Person, die etwas anderes vertritt, hat nicht nur eine andere Meinung, sie wird zunehmend zu einem fremden Menschen, zu einem Feind und schliesslich zu einem Hassobjekt. Stattdessen sollten wir uns aber mit den von dieser Person vertretenen Inhalten auseinandersetzen.

Öffentlich rechtliche Medien haben zweierlei Aufgaben: Einerseits haben sie die Aufgabe, die unterschiedlichen naturwissenschaftlichen Einschätzungen der Faktenlage, die sogenannte «Perspektivenvielfalt» abzubilden. Dabei stellt sich stets auch die Frage, welche Fakten überhaupt thematisiert und welche ausgelassen werden. Die Versuchung ist gross, nur Fakten auszuwählen, die die eigene These stützen und andere Fakten auszublenden. Andererseits geht es darum, unterschiedliche explizite und implizite normative Bewertungen einer Faktenlage aufzuzeigen, d.h. die unterschiedlichen Moralvorstellungen, welche explizit oder implizit ausgedrückt werden, darzustellen. Nur so können sich die Leserinnen und Leser, respektive die User und Userinnen, informiert eine eigene Meinung zu einem bestimmten Sachverhalt bilden.

Hier lehne ich mich an die Medizinethik an. Damit Patientinnen oder Patienten eine informierte Entscheidung hinsichtlich des vorgeschlagenen Therapieplans treffen können, müssen sie die Diagnose und die Prognose vor dem Hintergrund ihrer psychosozialen Situation einschätzen und dann mit ihrem Lebensentwurf bewerten können. Darüber hinaus müssen sie einen Willen bilden und umsetzen können. Nur so werden sie als urteilsfähig hinsichtlich einer bestimmten Fragestellung erachtet. Egal ob im medizinischen oder in politischen und gesellschaftlichen Bereichen, es gelten immer dieselben Voraussetzungen in der Entscheidungsfindung, die erfüllt sein müssen, damit die Betroffenen entscheidungsfähig sind.

Entsprechend ist es wichtig, dass wir nicht nur eine Einschätzung der Fakten und nicht nur eine Moralvorstellung ins Gespräch bringen, um einen Sachverhalt einzuschätzen und zu bewerten. Im Qualitätsjournalismus sollten verschiedene Blickwinkel und Standpunkte beleuchtet werden. Das wird heute aber immer mehr ersetzt durch eine Moralisierung, die auf Personen zielt und nicht mehr auf die Sache.

 

Personen kommen ins Schussfeld

Die GLP-Politikerin Sanija Ameti hat mit ihren veröffentlichten Schiessübungen auf ein Marienbild mit Jesus, also auf eine Mutter mit ihrem kleinen Kind auf dem Arm, einen schwerwiegenden Fehler gemacht, das ist unbestritten. Dass sie sich damit zuerst noch inszeniert hat, ist verstörend.

In den Medien ist seither aber genau dasselbe mit ihr passiert: Sie «schiessen» nun auf sie als Person. Das führt bei Sanija Ameti dazu, dass sie unter Polizeischutz gestellt werden musste. Das Beispiel zeigt typisch, wie wir heute miteinander umgehen. Wir schiessen eine Person ab. Es liegt aber nicht an den Medien, eine Person «abzuschiessen», sondern die Faktenlage genau zu recherchieren und darzulegen. Über die Person Sanja Ameti hinaus müsste eine Diskussion über die Grenzen der Toleranz und der Religionsfreiheit und die Notwendigkeit des Respekts gegenüber Glaubensinhalten und anderen Menschen ganz allgemein geführt werden. Die Diskussion wird stattdessen – wenn überhaupt – mit Worthülsen und Plattitüden geführt. Was erschreckt, ist, wie gross die unterschwellige Aggressivität bei Sanja Ameti selbst und auch bei ihren Kritikern ist, und in diesem Fall zum Vorschein kommt.

Ähnliches zeigt sich eklatant in der Politik beispielhaft in Deutschland und den USA. Es gibt einen starken Moralismus auf Seiten derjenigen, welche die Macht innehaben, begleitet von einer Cancel-Kultur. Dabei werden unangenehme Fakten oder nicht genehme Meinungen ausgeblendet. Ohne inhaltliche Auseinandersetzung mit Rede und Gegenrede führt dieses Vorgehen zum gegenteiligen Effekt, sodass die tabuisierten Haltungen und Meinungen gestärkt werden, indem sie unwidersprochen im Raum stehen bleiben und so ihre Kraft in den Sozialen Medien entfalten können.

Journalistinnen und Journalisten müssten ergebnisoffen und mit genügend Ressourcen recherchieren können. Mit dem Entlassen von Journalisten kann die Qualität einer Zeitung nicht gesteigert werden, wie dies unlängst die Leitung einer Zeitung in der Schweiz dreist behauptete. Eine demokratisch verbriefte Gesellschaft braucht eine informierte Öffentlichkeit. Die Tageszeitungen verengen sich immer mehr auf eine bestimmte Meinung und bringen wenig kontroverse Beiträge. Je weniger aber der Meinungsaustausch in den Medien geschieht, umso schwieriger wird das friedliche Zusammenleben mit Andersdenkenden.

 

Vom Muster im Kopf zum Dialog

Wir alle haben unsere Denkmuster im Kopf, nach denen wir Fakten gewichten und bewerten. Deshalb sind wir aufeinander angewiesen – zur gegenseitigen Korrektur. Und deshalb braucht es die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden, mit Leuten, die die Fakten anders einschätzen und andere Wertvorstellungen vertreten.

Guter Qualitätsjournalismus hat ähnliche Aufgaben wie die Moderation eines runden Tisches für die Besprechung von Patientensituationen in der Medizin. Die Moderation muss dafür sorgen, dass alle Aspekte auf den Tisch kommen und debattiert werden. Wenn eine Gruppe dazu neigt, nur noch eine Meinung zu vertreten, müssen zwingend auch noch andere Standpunkte und Aspekte eingebracht werden, welche die Gruppe reflektieren kann, um zu einer Lösung zu kommen. Nur mit dieser Kritikfähigkeit, mit nachvollziehbaren, überprüfbaren Argumenten und mit Transparenz kommt es zu einem echten Dialog. Grundvoraussetzung dazu ist, dass sich die Gesprächsteilnehmer gegenseitig respektieren und auf Augenhöhe begegnen wollen. Gerade dies ist in der Politik aber oft nicht der Fall. Stattdessen geht es mit Hilfe der Medien um die Manipulation des Gegenübers. Öffentlich rechtliche Medien sind dabei oft willfährige und kritiklose Helfer.

 

Das Verhalten der Bevölkerung steuern

In der deutschen Regierung gibt es eine grosse Abteilung für die Verhaltenssteuerung der Gesellschaft. Diese Idee kommt aus der Verhaltensökonomie, die derzeit einen Boom erfährt. Faktisch ist dies Werbung, unterschwellig verbunden mit der Frage: Wie kommt man von einem freien Bürger zu einem manipulierten Bürger, der die Ideen kauft, die ich verkaufen will?

Die Demokratie wird nicht mehr als Raum für unterschiedliche Meinungen gesehen, als gemeinsamer Weg zu einer optimalen Lösung für alle Beteiligten, sprich die ganze Bevölkerung. Es geht nur noch um Machterhalt. Ein deutscher Politiker sagte zu einer seiner Initiativen zum Heizungsgesetz, er habe dies nur gemacht, um zu sehen, wie weit er bei der Bevölkerung gehen könne.

Diese Aussage ist verräterisch. Die Bevölkerung wird hier nur noch als Gruppe von Objekten gesehen, die gesteuert werden muss und auch kann. Das widerspricht jedem Demokratieverständnis und führt zu einer Eskalationsspirale der Gewalt, was sich an vielen Beispielen zeigen lässt.

Dahinter steht ein bestimmtes Menschenbild. Hier ist nicht mehr jeder Mensch ein mit Würde begabtes Weesen mit dem Anspruch, ein Subjekt, eine Person zu sein, die respektiert werden muss. Eine Person, die es Wert ist, dass wir uns mit ihr auseinandersetzen. Hier muss die Gesellschaft Gegensteuer geben.

 

Perspektivenvielfalt in der Politik

Unsere Regierung – der Bundesrat in der Schweiz – ist bewusst in einer Perspektivenvielfalt zusammengesetzt. Es ist allerdings die Frage, ob dieser Dialog im Bundesrat dann auch so stattfindet. Vom System her hätten wir in der Schweiz gute Voraussetzungen. Das Problem ist, dass die Medien oft sehr selektiv informieren und zunehmend Lobbyarbeit betreiben, wie die beiden folgenden Beispiele zeigen.

Zur Zeit befindet sich die Transplantationsverordnung in der Vernehmlassung. Es geht um die Frage, wie bei unserm Tod mit unseren Organen umgegangen wird. Hier sind Interessen im Spiel, die in der Diskussion kaum genannt werden. In der Transplantationsmedizin gibt es einen starken Lobbyismus. Wenn transplantiertes Material zur Verfügung steht, kann damit viel gemacht und Geld verdient werden.

Auch das Heilmittelgesetz wird aktuell geändert. Gemäss dem Vernehmlassungstext könnten neu aus überzähligen Embryonen medizinische Produkte wie Heilmittel hergestellt werden. Das wird in den Medien nirgends gross thematisiert. Patientinnen und Patienten, die solche Heilmittel einnehmen, müssten jedoch darüber Bescheid wissen, um informiert entscheiden zu können, ob sie solche Produkte konsumieren wollen.

 

Auf der Suche nach Wahrheit

Bei uns Menschen ist sowohl unsere Erkenntnisfähigkeit als auch unsere Ethikfähigkeit begrenzt. Bei der Suche nach Wahrheit und guten Entscheidungen sind wir deshalb aufeinander angewiesen. Qualitativ hochstehender Journalismus ist daher unabdingbar für das Funktionieren einer Demokratie. Diese Art von Journalismus ist aufwändig und kostet. Aber die Wahrheitssuche verpflichtet zu dieser Breite im Aufzeigen der Perspektiven und Moralvorstellungen.

Natürlich kann auch ein bewusst moralorientierter Journalismus betrieben werden, der einen Sachverhalt rein aus einer zum Beispiel christlichen oder antichristlichen Moralvorstellung heraus beschreibt und bewertet. Aber dies ist transparent zu machen. Auch einem moralorientierten Journalismus tut es gut, wenn er sich mit anderen Stimmen auseinandersetzt. 

An einen öffentlich rechtlichen Sender in einem säkularen Staat gibt es aber andere Ansprüche. Dieser muss der Perspektivenvielfalt und der moralischen Vielfalt verpflichtet sein und so die Demokratie und das friedliche Zusammenleben unterstützen. So muss sich auch der säkulare Journalismus zwingend mit den ethischen Voraussetzungen humanen Zusammenlebens auseinandersetzen. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Menschenbildern. Denn der völkerrechtlich verbriefte Anspruch jedes Menschen auf Würde und Autonomie ist formaler Natur und bildlos. Die christliche Religion orientiert ihr Menschenbild dagegen an der Vorstellung des Menschen als Gottes Ebenbild und am Verhalten von Jesus Christus. 

Es ist Aufgabe der christlichen Kirchen, dieses Menschenbild den Medien zu vermitteln, und es ist Aufgabe der öffentlich rechtlichen Medien, dieses Menschenbild in Diskurs mit anderen Menschenbildern zu bringen. Es liegt dann an den Leserinnen und Lesern, sich dazu eine eigene Meinung dahingehend zu bilden, inwieweit das jeweilige Menschenbild dazu beiträgt, alle Menschen als liebenswert und würdevoll zu betrachten. Dies aber ist die Grundvoraussetzung für ein friedliches Zusammenleben und für ein gutes Leben.

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