Ob die Lage ernst, aber nicht hoffnungslos oder doch hoffnungslos, aber nicht ernst ist, vermag ich nicht abschliessend zu beurteilen. Oft finden sich im Diskurs starke Meinungen, die sich sicher scheinen. Blickt man auf die Extrempole, beschwören die einen die wehrhafte freie Welt, die mit allen Mitteln Russland besiegen müsse, sonst stünden Putins Truppen schon bald in Berlin. Die anderen sehen in der Konsequenz ein nukleares Inferno, wenn man nicht die angeblichen Interessen Russlands respektiere.
Mir fehlt zugegebenermassen die Expertise, beide spekulativen Extremszenarien zu evaluieren. Starke ideologische Positionen scheinen aber einer Komplexitätsreduktion zu dienen, die angesichts des realen Leides ethisch bedenklich wirkt.
Gesinnungsethik und Verantwortungsethik
Max Weber stellt hier einer «Gesinnungsethik» die «Verantwortungsethik» gegenüber. Erstere hält an moralisch absoluten Prinzipien fest im Sinne Immanuel Kants: «Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.» Da ich unmöglich wünschen kann, in einer Welt zu leben, in der alle stets lügen, sollte ich niemals lügen. Immer die Wahrheit zu sagen wäre also ein absolutes Prinzip. Die Verantwortungsethik stellt hingegen die Frage nach der Konsequenz. Gesetzt, man hat zur Nazi-Zeit jüdische Menschen versteckt und die Gestapo klopft an die Tür. Nach Kant müsste man der Wahrheit treu bleiben und die Verfolgten der Gestapo ausliefern. Die Verantwortungsethik sieht es hier aber geboten zu lügen, wenn es dem Guten dient.
Dies ist ein Extrembeispiel. Mit Extremszenarien lassen sich viele Positionen aushebeln, weshalb Analogien zur Nazizeit in polarisierten Debatten so häufig bedient werden und so wenig helfen. Sich komplexen Situationen unvoreingenommen zu stellen, ist schwierig. Viele der heute zu findenden starken Meinungen bedienen sich dabei häufig opportun mal des einen, mal des anderen ethischen Pols, ohne sich auf eine Güterabwägung einzulassen, welche die Komplexität der Situation abverlangen würde.
Werte und Konsequenzen
Die Begriffe «Verantwortung» und «Gesinnung» sind moralisch aufgeladen. Daher bietet sich an, zwischen deontologischer und konsequentialistischer Ethik zu unterscheiden. Deontologisch heisst hier die von einer «Pflicht» abgeleitete Ethik. Beurteilt wird Verhalten danach, ob es Werten verpflichtet ist oder nicht. Die konsequentialistische Ethik fragt dagegen, ob die Konsequenz einer Handlung dem Guten oder Schlechten dient.
Weber sieht in ersterem ein Vorrecht der Heiligen. Sie müssten sich nur Gott gegenüber verantworten. Glaubt man sich aber sicher in einem abstrakten Begriff des «Guten» ohne Rücksicht auf die Konsequenz, droht man sich der realweltlichen Verantwortung für die Welt und dem Nächsten zu entziehen. Umgekehrt führt eine rein konsequentialistische Ethik zu einer Haltung, in der der «Zweck die Mittel heiligt». Geht dies auf, preist man die Weitsicht, scheitert sie – wie zum Beispiel die westlichen Interventionen in Afghanistan – dann erscheint dieses Denken im Rückblick als zynisch. Die konsequentialistische Ethik wünscht die Zukunft im Blick zu haben, kann aber das Unverfügbare nie in allen Aspekten vorhersehen.
Um es am Beispiel des russischen Krieges gegen die Ukraine zu verdeutlichen: Indem Putin zu Hitler wird und der Untergang der freien Welt droht, wenn Russland nicht besiegt werde, wird ein starkes konsequentialistisches Bild gezeichnet. Gleiches gilt für die Behauptung, eine westliche Unterstützung der Ukraine führe geradewegs in den Atomkrieg. Umgekehrt führt auch eine stark deontologische Herangehensweise, die eine bedingungslose Unterstützung «aus Prinzip» fordert, oder im gegenteiligen Fall jedwede militärische Unterstützung gemäss dem Prinzip des Pazifismus ablehnt, zu einer Position, die nicht in der Lage scheint, die realen Gegebenheiten, Eventualitäten und möglichen Kosten nüchtern einzuschätzen. Der von der komplexen Situation überforderte Laie kann dies noch weit weniger einschätzen. Das Wesen der Informationsgesellschaft fordert uns heraus, nicht dem Impuls nachzugeben, uns polarisieren zu lassen.
Unterscheidung der Geister
Die ignatianische Praxis der «Unterscheidung der Geister» ist hier im persönlichen Leben wie auch in allem, was darüber hinausgeht, ein durchaus hilfreicher Ansatz. Im Leitsatz der Jesuiten «Ad maiorem Dei gloriam» – «zur grösseren Ehre Gottes» – steht das «Wie?», der Weg, im Vordergrund.
Damit ist ein vermittelndes Prinzip gegeben, das intellektuelle wie spirituelle Anstrengung abverlangt, sich selbst in der «Unterscheidung der Geister» die Frage zu stellen, auf welche Art und Weise und mit welchen Konsequenzen man die deontologisch erscheinende Pflicht, Gott zu gehorchen, verwirklichen will. Es entspringt einer tiefen Einsicht in die Unzulänglichkeiten des menschlichen Wissens, dem Wirken identitärer1 und psychologischer Verspannungen in jedem Menschen, der gelegentlichen Unschärfe unserer Motive, zu denen oft auch Selbstgerechtigkeit gehört. Es verlangt ein Durchleuchten unserer inneren Prozesse, ein Abwägen der Möglichkeiten und ein achtsames Abtasten einer möglichst umfassend verstandenen Situation.
Das Doppelgebot der Liebe
Christliche Ethik muss an dieser Stelle immer Jesu Doppelgebot der Liebe ins Herz nehmen – die Liebe zu Gott und zum Nächsten: «In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten2.» Anstatt das ganze Gesetz als deontologisches Prinzip zu präsentieren, formuliert Jesus hier einen Schlüssel zum Herzen des Gesetzes. Er überlässt uns damit aber auch der Verantwortung, sorgsam aufzuspüren, ob die unsere Handlungen rechtfertigende Ethik in Übereinstimmung steht mit dem Gebot. Jesus weicht auf diese Weise die Herzen jener auf, die sich selbstgerecht hinter dem Gesetz verschanzen. Ihm ist dabei die innere Haltung derer, die er ethisch in die Pflicht ruft, aber nicht gleichgültig. Menschenverachtendes Verhalten, das mutmasslich einem höheren Guten dienlich scheint, ist in diesem Sinne selbstverständlich nicht im Einklang mit dieser Ethik.
Dies im Kleinen wie im Grossen stets auszuhandeln, ist herausfordernd wie auch mühevoll in Zeiten «starker Meinungen». Es verlangt nach Demut. Nötig ist die Einsicht in die eigenen Wissenslücken, Vorsicht gegenüber identitären Verlockungen, die signalisieren, man stünde gewiss auf der «richtigen Seite der Geschichte», Empathie beim Anhören gegenteiliger Meinungen sowie Vorsicht bei den vielfältigen Stimmen in uns, deren Motive uns auf der Oberfläche verhüllt erscheinen.
1 Wir Menschen benötigen Identität als Selbstbild, um uns selbstwirksam und verantwortungsvoll zu entfalten. Als soziale Wesen erfahren wir jedoch auch Identifikationsmöglichkeiten über verschiedene soziale Gruppen, deren Werte und Ansichten wir unreflektiert übernehmen, weil wir innerhalb einer Gruppe dadurch Bestätigung erfahren. Diese Gruppenidentität kann Intoleranz und Vorurteile gegenüber anderen Gruppen/Menschen ausserhalb der Gruppe erzeugen.
2 Matthäus 22,40
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