Ernährung: Weniger ist mehr

Das Motto «Weniger ist mehr» ist heute in aller Munde, wenn es um das Thema Ernährung geht. Unser Autor hinterfragt dieses Patentrezept – sowohl im Blick auf die weltweite Ernährungssituation wie auch im Zusammenhang mit übergewichtigen Menschen. Er legt sein Augenmerk auf den Zuckerkonsum.

(Lesezeit: 8 Minuten)

Wenn man im Zusammenhang mit der Ernährung behauptet, dass weniger mehr ist, dann kommt es ganz auf den Zusammenhang und den Ort an, ob das stimmt oder nicht. Für die etwa 828 Millionen Menschen, die aktuell unter Hunger leiden, wäre diese Behauptung schlicht zynisch und falsch. Ganz bestimmt wäre es besser, wenn weniger Menschen Hunger erleiden würden. Dies wäre bei einer vernünftigeren Bewirtschaftung und einer gerechteren Verteilung durchaus möglich, denn die Erde gäbe immer noch genug her für ihre gut acht Milliarden Bewohner.

Einfach weniger zu essen, weil es besser wäre, ist auch als generelle Ernährungsempfehlung für die Milliarden übergewichtigen oder fettleibigen Menschen weltweit kein wirksames Patentrezept. «Einfach» ist dies nämlich nicht. In der Schweiz sind übrigens etwa jeder zweite erwachsene Mann und jede dritte Frau von Übergewicht betroffen.

Worauf ich in diesem Beitrag anspiele ist der Anteil von (freiem) Zucker in der Nahrung. Unter freiem Zucker versteht man Formen von Zucker, die nicht in zellulären Strukturen enthalten sind. Dazu gehören Formen von Zucker (Mono- und Disaccharide), die durch den Hersteller, den Koch oder die Konsumenten dem Essen oder den Getränken beigefügt werden oder Formen von  Zucker, die natürlicherweise in Honig, Sirupen oder Fruchtsäften vorkommen.

Vom freien Zucker unterschieden werden Formen von Zucker, die natürlicherweise in intakten Pflanzenzellen vorkommen – eingebaut in die Zellwand von Getreiden, intakten Früchten und Gemüsen – sowie Laktose und Galaktose in Milch.

(Bild: Günther auf Pixabay)

Zucker macht krank

Der erhöhte Konsum von Zucker steht mit einer ganzen Reihe von Krankheiten in Beziehung. Eine kürzlich in einem der renommiertesten Fachjournale erschienene Übersichtsarbeit1 nennt bedeutsame schädliche Auswirkungen auf verschiedenste Organsysteme: Auswirkungen auf das Herzkreislaufsystem (Koronare Herzkrankheit, Herzinfarkt, Hirnschlag, hoher Blutdruck u.a.), auf das Hormonsystem und den Stoffwechsel (Adipositas, Metabolisches Syndrom, Diabetes Typ II, Fettstoffwechselstörungen u.a.), Krebs (Leberzellkrebs, Bauchspeicheldrüsenkrebs, Brustkrebs u.a.) und verschiedene andere Auswirkungen auf Zähne, Knochen, Gehirnerkrankungen (zum Beispiel Depressionen, ADHS) und Allergien. Von einer Reduktion des freien Zuckers würden wohl alle, unabhängig vom Gewicht, profitieren. Das Ziel gemäss WHO ist weniger Zuckeraufnahme als 10% der Gesamtkalorien. Bei 2000kcal/Tag wären das 50g oder rund 12 Teelöffel Zucker. In der Schweiz konnte in den letzten 10 Jahren der Konsum um 10g/Tag reduziert werden. Er ist aber mit 100g/Tag aktuell immer noch doppelt so hoch wie gewünscht.

Da es nicht wirklich neu ist, dass weniger Zucker konsumiert werden sollte, weichen einige Hersteller und Konsumenten auf künstliche (oder nicht zuckerhaltige) Süssstoffe aus. Leider ist dies nicht wirklich eine gute Lösung, denn es zeichnet sich zunehmend ab, dass diese Ersatzstoffe höchstens ganz kurzfristig günstige Wirkungen (zum Beispiel auf das Gewicht) haben, längerfristig aber mindestens ebenso schädlich sind wie Zucker, erhöhen sie doch das Risiko für Diabetes Typ II, Herzkreislauferkrankungen und die Gesamtsterblichkeit. Einige dieser Stoffe scheinen auch die Krebsentstehung zu begünstigen.

Die WHO rät deswegen in einer kürzlich erschienenen Leitlinie davon ab, solche Stoffe zur Gewichtskontrolle oder zur Risikoreduktion von Diabetes, Herzerkrankungen oder Krebs zu verwenden.

 

Zucker versklavt

Wie kommt es, dass wir so viel Zucker konsumieren? Im Altertum war das Zuckerrohr zwar bereits bekannt, Zucker war aber ein sehr seltenes Produkt, welches meist der medizinischen Anwendung vorbehalten blieb. In der Bibel kommt das Wort Zucker gar nicht vor. Sie kennt zwar «Süsses», verwendet es aber zweideutig. Süss meint angenehm, gut, schön, «Luxus», aber auch süsse, verführerische Worte. Etwas, was wohlklingend, aber schädlich ist. Gut bekannt ist die Verheissung vom Land, wo Milch und Honig fliessen. Allerdings war eine eigentliche Bienenzucht damals wahrscheinlich noch nicht bekannt. Honig stammte entweder von Wildbienen oder war wohl eher eine Art Sirup aus süssen Früchten. In Sprüche 25,16 steht die Warnung: «Findest du Honig, so iss davon nur, soviel du bedarfst, dass du nicht zu satt wirst und speist ihn aus.»

Lange Zeit blieb Zucker dann ein richtiges Luxusgut für die Reichen, auch noch nach dem Jahr 1500, als über Jahrhunderte Millionen von Menschen aus Schwarzafrika entrechtet und verschleppt wurden, um auf den Zuckerrohrplantagen zu arbeiten. Die Zuckerproduktion war sehr arbeitsintensiv und einer der grossen Treiber des Sklavenhandels. Zum Allgemeingut wurde Zucker erst ab etwa 1850, nach Beginn der industriellen Produktion. Zucker als wesentlicher Bestandteil der Ernährung ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Der weitverbreitete Einsatz in der Lebensmittelindustrie hat zu einer Vervielfachung des Konsums geführt, mit den bekannten schädlichen Folgen.

Dem Zucker zugute kam die für uns nachteilige Tatsache, dass Babys von Natur aus eine Vorliebe für Süsses, Salziges und Umami (ein fünfter Geschmackssinn) haben. Bitteres und Saures ist ihnen meist zuwider. Natürlich enthält auch die Muttermilch Zucker, allerdings auch noch andere Geschmacksrichtungen. Wenn nun aber Kinder mit meist süsser Flaschenmilch ernährt werden, dann verstärkt sich ihre Vorliebe für Zucker. Kinder, welche früh mit Zucker ernährt wurden, bevorzugen auch noch viele Jahre später zuckerhaltige Speisen. Man geht davon aus, dass der zugeführte Zucker die Freisetzung körpereigener Opioide im Nucleus accumbens fördert und das dopaminerge Belohnungssystem stimuliert, welches eng mit dem Empfinden von Glücksgefühlen, aber auch mit dem Entstehen einer Sucht verbunden ist. Da im Tierversuch das plötzliche Absetzen von Zucker mit den gleichen Entzugserscheinungen verbunden ist wie beim Entzug von Morphium oder Kokain, sprechen viele Autoren auch von einer Zuckersucht. Süsse Erfahrungen, die gemacht worden sind, müssen wiederholt werden, unabhängig von den negativen Auswirkungen, die damit verbunden sind. Auch heute noch ist deshalb Zucker eng mit der Sklaverei verbunden. Während früher Millionen für die Produktion versklavt wurden, sind heute Milliarden «Sklaven» ihrer Abhängigkeit.

 

Gibt es Auswege?

Wie also können wir unsere Freiheit wiedererlangen? Meines Erachtens sind hier verschiedene Schritte nötig, welche von verschiedenen Akteuren teilweise nacheinander, teilweise aber auch parallel angegangen werden sollten:

1. Awareness, das heisst Schaffen eines Problembewusstseins: Wir essen zu viel Zucker. Dies könnte durch öffentliche Informationskampagnen über die Folgen von zu hohem Zuckerkonsum geschehen.

2. Steigerung der Gesundheitskompetenz: Uns und andere befähigen, gute, gesunde Entscheidungen zu treffen. Voraussetzung hierfür sind auch klare Angaben bzw. Deklarationen auf den Lebensmitteln bezüglich der enthaltenen Menge von freiem Zucker.

3. Zusammenarbeit mit der Industrie zur freiwilligen Reduktion der Zuckerbeimengung.

4. Allenfalls staatliche Massnahmen wie Einschränkungen für Marketing und Werbung für Nahrungsmittel mit freiem Zucker oder gar das Erheben einer Zuckersteuer.

Ich meine: Auch hier gilt «Less is more» (weniger ist mehr). Je weniger Zeit wir verstreichen lassen, bis wir die für uns wichtigen Entscheidungen treffen und die entsprechenden Schritte gehen, desto grösser wird unser persönlicher Nutzen sein.

 

1 Dietary sugar consumption and health: umbrella review; BMJ 2023;381:e071609

siehe: https://doi.org/10.1136/bmj-2022-071609

 

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