In unserer Bundesverfassung steht, dass wir die Neutralität bewahren sollen. Gleichzeitig finden wir auch den Auftrag in der Verfassung, das Völkerrecht zu beachten. Wir sollten also alle rechtsverbindlichen Regeln auf internationaler Ebene einhalten – und diese verbieten u.a. einen Angriffskrieg. Wer also die Neutralität der Schweiz auf Grund des Völkerrechts relativiert, verletzt nicht die Verfassung, sondern nimmt im Gegenteil das Spannungsfeld zwischen völkerrechtlichen Normen und dem Neutralitätsprinzip wahr.
Der Rahmen des Völkerrechts
Das Völkerrecht gibt bloss einen minimalen Rahmen für neutrale Staaten vor. Damit hat der Neutrale rechtlich einen grossen Spielraum, solange er nicht aktiv eine Kriegspartei militärisch unterstützt. Das Neutralitätsrecht selbst ist über 100 Jahre alt und stammt aus einer Zeit, in der es noch keine UNO-Charta gab. Und weil damals Angriffskriege nicht verboten waren, durfte der Neutrale keine Partei bevorzugen. Heute dürfen Angreifer und Verteidiger rechtlich auf Grund der UN-Charta nicht mehr gleichbehandelt werden. Parteinahme für den angegriffenen Staat ist somit auch für Neutrale geboten. Was gleichgeblieben ist: Neutrale Staaten liefern Kriegsparteien keine Waffen; diese Einschränkung gilt allerdings für Staaten, nicht für Private, also die Rüstungsindustrie, sofern kein anderes Recht dies einschränkt (zum Beispiel das Kriegsmaterialgesetz).
Der Bundesrat hätte aus Sicht des Völkerrechts also längst agieren können, ja agieren müssen. Der Spielraum wäre auch für die Schweiz gegeben. Und das Kriegsmaterialgesetz sieht Ausnahmen für ausserordentliche Umstände vor, was eine Wiederausfuhr aus meiner Sicht ermöglichen würde. Die entscheidende Frage ist daher, ob man aktiv werden will. Das ist die politische Dimension der Neutralität.
Das Anliegen der Guten Dienste
Mein persönliches Hauptargument für eine strikte Neutralität war ursprünglich, die Guten Dienste durch die Schweiz nicht zu gefährden: Ich meinte, nur ein neutraler Staat habe die nötige Reputation für Friedensverhandlungen und Schutzmachtmandate. Und ich glaubte auch, die internationale Bedeutung von Genf mit UNO, IKRK und vielen weiteren Organisationen wäre ohne Neutralität nicht möglich. Aber nur schon ein Blick nach Skandinavien hätte mich eines Besseren belehren können: Schweden ist bündnisfrei, aber nicht neutral, hat jedoch mehr Schutzmachtmandate als die Schweiz. Norwegen ist sogar weder neutral noch bündnisfrei – es hat aktuell die operative Führung der NATO inne – hat aber nicht im Geringsten eine schlechtere Reputation als die Schweiz bezüglich Guter Dienste, Friedensförderung und humanitärer Tradition.
Eine differenzierte Neutralität leben
Bereits seit mindestens 30 Jahren lebt die Schweiz nicht eine integrale, sondern eine differenzierte Neutralität . Schon vor unserer UNO-Mitgliedschaft vertrat der Bundesrat in seinem Bericht von 1993 die Auffassung, dass die Neutralität nicht für UNO- oder EU-Sanktionen gelte. Schauen wir zurück in die Geschichte, stellen wir zudem fest: Sanktionen gegen Kriegsparteien sind nichts Neues.
Wir produzieren und exportieren Waffen, die im schlechtesten Fall in Kriegssituationen eingesetzt werden. Nur ein generelles Verbot von Kriegsmaterialexporten würde dies verhindern. Das aber wäre das Ende unserer eigenen Rüstungsindustrie und damit unserer Verteidigungsfähigkeit. Aber wenn wir schon Waffen exportieren, dann sollten sie zumindest am richtigen Ort zum Einsatz kommen: nämlich möglichst bei Staaten, die Menschenrechte respektieren und demokratisch regiert werden. In Zukunft sollten wir uns daher den Verpflichtungen des Völkerrechts besser bewusst sein und weiterhin eine differenzierte Form von Neutralität leben: Wir privilegieren dann denjenigen, der sich gegen einen Angriffskrieg verteidigen muss und ein System verteidigt, das demokratisch ist und die Menschenrechte respektiert. Daher sollten wir aktuell alles ermöglichen, was im Rahmen unserer differenzierten Neutralität zulässig ist. Einzig das direkte Eingreifen mit militärischen Mitteln ist uns untersagt. Daran halte ich mich, darauf habe ich meinen Eid abgelegt.
Schreiben Sie einen Kommentar