Konsum: Ein Konsum-Experiment für Mutige

Es gibt, vereinfacht gesagt, zwei unterschiedliche Gruppen von Menschen: Die erste Gruppe möchte, dass wir mehr aus uns und aus unserer Welt machen. Das heisst: Mehr in Urlaub fahren. Uns vielseitiger ernähren. Einen zusätzlichen Master-Abschluss erwerben. Intensiver an den kirchlichen Angeboten teilnehmen. Pointiert gesagt: Diese Gruppe möchte mehr konsumieren. Die zweite Gruppe möchte, dass wir weniger kaufen. Genügsam sind. Regional einkaufen. Kaum motorisiert unterwegs sind. 

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Wer aber sind die Akteure dieser beiden Gruppen? Wer sind die «Guten»? Und wer die «Bösen»? Geht es hier um Gegensätze wie Wirtschaft oder Hilfswerke? Megachurches gegenüber einem kontemplativen Kirchenstil? Egoisten gegen Sozialaktivisten? Diese Gegenüberstellungen lassen sich beliebig weiterführen.

(Bild: Michael Gaida auf Pixabay)

Oberflächliche Einstufungen

Das Frappierende ist, dass diese Einteilungen tatsächlich einen Funken Wahrheit haben. Ein Beispiel aus der frommen Welt: Dem Autor dieses Artikels ist kaum eine Megachurch bekannt, die Vorbildcharakter bezüglich eines schlichten Lebensstils hat. Vielmehr leben die Predigtbeispiele in diesen Gottesdiensten von Golfplätzen, vielen Flugreisen und erfüllten Gebetsanliegen.

Das Erstaunliche an dieser Kategorisierung ist, dass sie vor allem an der Oberfläche wunderbar zutrifft. Diese Gegensätze lassen sich in einer auseinanderdriftenden Gesellschaft herrlich vermarkten. Fakt ist aber, dass die Welt zum Glück ein wenig komplizierter ist. Auf einer tieferen Ebene sind wir uns in beiden Gruppen ähnlicher als wir denken, leider zu ähnlich. Wir stemmen uns vielleicht mit aller Kraft dagegen, ähnlich zu sein wie die «Anderen», unterscheiden uns aber auf einer tieferen Ebene kaum von ihnen.

 

Was uns allen gemeinsam ist

Warum ist das so? Ein Grund dafür ist, dass wir in einer sogenannten Konsumgesellschaft leben. Wenn wir das ändern wollen, müssen wir die Konsumgesellschaft zuerst auf einer übergeordneten Ebene analysieren. Und das wollen die meisten von uns im Zeitalter von leicht verfügbaren Inhalten wie «Netflix» und «20 Minuten» wohl kaum.

Bei dieser Analyse müssten wir uns beispielsweise mit der Pest des 14. Jahrhunderts auseinandersetzen. Wie die Erziehungswissenschaftlerin und Autorin Marianne Gronemeyer schreibt, veränderte die Pest das Selbstverständnis des Menschen tiefgreifend: «Dieser im Pestinferno entstandene Tod ist es, der das Lebensgefühl der Moderne entscheidend prägte. Die ungeheure Anstrengung der Weltverbesserung, die die Moderne auf sich nimmt, ist eine Kampfansage an diesen Tod1.» Für eine Analyse des Konsums sind weitere Werke wichtig, wie etwa diejenigen von René Descartes anfangs des 17. Jahrhunderts, der das Individuum als Ausgangslage und sicheren Anfang des Denkens definierte. Ein anderes prägendes Schwergewicht war John Locke in der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts, der als Philosoph zentral für das Recht auf Eigentum war.

Sehr stark vereinfacht gesagt: Unter anderem aufgrund dieser Denker kann der heutige Konsum begründet werden.

Aber auch wenn wir das Interesse und das Vermögen haben, uns mit der Entstehung unserer Konsumgesellschaft auseinanderzusetzen, wollen wir sie dann wirklich auch verändern? Die Konsumgesellschaft funktioniert heute vor allem deswegen, weil wir unser Verständnis gegenüber dem Besitzen verändert haben. Diese Veränderung, die von unterschiedlichen Denkern eingeführt worden ist, setzte sich nur langsam, aber stetig durch. Einzelne Theoretiker haben das Denken vieler verändert und nach und nach hat sich auch die Lebensweise verändert. Unser über die Jahrhunderte gewachsenes Konsumdenken können wir nicht einfach von heute auf morgen verändern. Aber: Es ist schon mal gut, sich bewusst zu sein, dass der Konsum uns alle prägt: Hilfswerke, Kirchen, Wirtschaft, die «Guten» und die «Bösen». 

 

Unser Handeln hinterfragen

Mit dem Wissen, dass wir alle im selben Boot sitzen, können wir versuchen, unsere Handlungsweisen zu hinterfragen und auszuprobieren, mutige Schritte zu gehen. Für Kirchen könnte die Frage lauten: Hat der Konsum uns so tiefgreifend verändert, dass wir in unserm Handeln meinen, wir seien biblisch unterwegs, unsere Agenda aber eher einer Produktion von Konsumgütern gleicht? Verhalten wir uns möglicherweise wie Produzenten, wenn wir neue Mitglieder erreichen wollen und dafür ein gutes «Produkt» anpreisen? Ähnliche Fragen könnten sich auch Hilfsorganisationen, Wirtschaftsakteure und Medienschaffende stellen.

Weil wir alle im selben Boot sitzen und unser Handeln auch gegen unsern Willen zum Konsum führt, sollten wir versuchen, neue Wege zu beschreiten, im Wissen, dass wir nicht so rasch aus dem Strickmuster des Konsums aussteigen können. In der SEA-Arbeitsgruppe2 von StopArmut versuchen wir beispielsweise an einem Erlebniswochenende3 auf einem Bauernhof, gemeinsam den Wurzeln unseres Konsums in der Natur nachzugehen und die Spiritualität dabei einzubeziehen. Es ist bloss ein Tropfen auf einen heissen Stein, aber das Denkmuster der Konsumgesellschaft hat auch klein begonnen. Wo sind die «Bösen» und die «Guten», die bereit sind, nicht gegeneinander, sondern miteinander ein neues Denken und Handeln zu testen?

 

Gronemeyer, Das Leben der letzten Gelegenheit, Sicherheitsbedürfnis und Zeitknappheit. Darmstadt, 1996. Seite 15

2  StopArmut ist eine Arbeitsgruppe der Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA), siehe: www.each.ch

3  StopArmut, Erlebniswochenende vom 23.-25. Juni auf dem Biohof Egggraben im Emmental am 18. Mai 2023, siehe: https://stoparmut.ch/erlebniswochende

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