Psychologie: Von der Scham zur Würde – Wie Jesus entschämt

Mächtige Politiker und viele Nutzer der sozialen Medien haben eines gemeinsam: Sie verweigern sich oft einer würdigen inhaltlichen Diskussion und ziehen lieber die Würde des Gegenübers in den Dreck. Erleben wir zurzeit den Wechsel von der abendländischen Schuld- zu einer Schamkultur? Unser Kolumnist zeigt, wie uns das Wirken von Jesus auch hier weiterhelfen kann.

(Lesezeit: 13 Minuten)

Ich wundere mich, wenn ich die Zeitung aufschlage. Mächtige Politiker gehen mit Wahrheiten und Menschen beliebig um. Viele verweigern eine würdige inhaltliche Diskussion und ziehen stattdessen gezielt, direkt und schamlos die Würde des Gegenübers in den Dreck. Ihre Mimik drückt dabei tiefe Verachtung aus. Menschen werden instrumentalisiert und dienen den eigenen Zielen. Noch mehr wundere ich mich, dass diese Politiker in einer Demokratie ernstzunehmende Unterstützung erhalten, obwohl sie sich offensichtlicher Lügen bedienen.

Gleichzeitig werden wir in den Medien oft bombardiert mit kriegerischen Worten. Auch eine sehr pflichtbewusste Person kann jemanden in den sozialen Medien mit unflätigen Ausdrücken eindecken. Sie tut dies, weil sie während des Schreibens kein Gesicht vor sich hat. Sähe sie einem Gegenüber in die Augen, würde sie sich zurückhalten. Die Gesichtslosigkeit enthemmt. Diese Dynamik hat schon manchem Menschen die psychische Gesundheit oder sogar das Leben gekostet. 

(Bild: Anita S. auf Pixabay) 

Von der Schuld- zur Schamkultur

Die Schamlosigkeit, mit der Verachtung und Beschämung zelebriert wird, löst bei mir Betroffenheit aus. Ich bin froh darüber, weil ich mich offensichtlich nicht daran gewöhnen kann.

Soziologen diskutieren, ob sich die abendländische Schuldkultur zu einer Schamkultur entwickelt. Das westliche Abendland ist geprägt von der Frage, wie man etwas richtig macht. In der orientalischen und afrikanischen Kultur stehen Fragen um Ehre und Schande im Vordergrund. Diese haben mehr Gewicht.  

In einer Schamkultur kommt ein gravierender Kreislauf in Gang: Erniedrigungen und Demütigungen verletzen die Würde der Beschämten. Diese Kränkungen führen wiederum dazu, dass sie andere beschämen. Nicht umsonst braucht es drei bis vier Generationen, bis ein durch Krieg gedemütigtes Volk wieder zu einem relativen psychischen Gleichgewicht findet.

 

Jesus handelt anders

In diesem Zusammenhang fasziniert mich Jesu Umgang mit Menschen. Der Titel «Wie Jesus entschämt» ist herausfordernd und hat etwas Widersprüchliches in sich. Wir gehen intuitiv schamlosen oder unverschämten Personen aus dem Weg. Daniel Hell, emeritierter Professor für Psychiatrie der Universitätsklinik in Zürich, sagt aber in seinem Buch «Lob der Scham»: «Nur wer sich achtet, kann sich schämen.» Echte Scham setzt ein Gespür für Würde voraus. Es gibt keine Kultur, kein Volk, keine Zeitepoche, in der Scham und Würde nicht eine grosse Rolle spielen. Beides ist mit der menschlichen Existenz tief verwoben.

Wie geht Jesus mit Scham um? Nimmt er uns die Scham? Nein. Aber er hilft, konstruktiv mit ihr umzugehen. Wo entschämt denn Jesus? Jesus enthemmt Menschen nicht zur Hemmungslosigkeit. Er entschämt Beschämte. Er gibt Menschen einen Schutzraum, in dem trotz der Scham ihre Würde geschützt bleibt. Damit durchbricht er den oben erwähnten Teufelskreis. Dem möchte ich mit einigen Gedankensplittern nachgehen.

 

Scham und Selbsterkenntnis

Schon in den ersten Kapiteln der Bibel steht die Scham im Zentrum. Adam und Eva verstecken sich im Gebüsch, weil sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben. Sie erleben das erste Mal Scham. Die Augen gehen ihnen auf. Es wird ihnen bewusst, dass sie in diesem herrlichen Garten nicht einfach sorglos aufblühen, ihn pflegen und spielen können, sondern dass Gott sie von aussen beurteilt.

Entwicklungspsychologen sagen, dass ein Kind erst dann Scham empfindet, wenn es sich im Spiegel erkennt, sich also von aussen sieht. Scham setzt Erkennen voraus. Ohne Selbstbewusstsein gibt es keine Scham. Vorher hatte Adam und Eva ihre Nacktheit nicht gestört. Jetzt nehmen sie eigene Flecken von aussen wahr. Sie sehen sich wie in einem Spiegel. Sie fürchten sich, von Gott negativ beurteilt zu werden. Deshalb verstecken sie sich.

 

Zur Psychologie der Scham

Scham treibt uns die Röte ins Gesicht, das Herz beginnt zu pochen und zu rasen. Tatsächlich gehört Scham zu den stärksten unangenehmen Regungen eines Menschen. Wer sich schämt, fühlt sich im Innersten betroffen. Kein Wunder vermeiden viele Menschen dieses Gefühl. Ich erlebe es hin und wieder, dass Menschen ihr Gesicht hinter ihren Händen vergraben, weil sie mit dem, was sie erzählen, in ihrem Gesicht nicht erkannt werden wollen. Sie halten dem Blick des Gegenübers nicht stand. Es versteht sich von selbst, dass ich als Zuhörer dies respektiere und meinen Blick woanders hinwende.

Scham zu spüren ist unangenehm. Prüderie – eine übertrieben empfindliche Einstellung und Engherzigkeit gegenüber Sitte und Moral – ist eine mögliche Strategie, der Scham aus dem Weg zu gehen. Eine andere Strategie ist die klassische Projektion, von der schon Jesus spricht: «Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr1?» Mit Projektionen beginnt der verhängnisvolle Kreislauf der Gewalt, aus der eigenen Verletzung heraus andere wiederum zu verletzen und zu beschämen. Angst, Ärger und Ekel sind Basisemotionen, die uns vor Gefahren schützen, die von aussen kommen. Scham macht uns darauf aufmerksam, dass tief in unserer Seele etwas nicht in Ordnung ist. Scham zeigt an, dass wir unserem Ideal nicht entsprechen. Und die Schuld erinnert uns daran, dass wir Erwartungen anderer, der Gesellschaft oder von Gott nicht entsprechen.

Scham ist sehr wichtig für unsere Hirnentwicklung. Beim Schämen lernen wir, mit peinlichen Situationen konstruktiver umzugehen. Anfangs der Pandemie vergass ich, die Maske ins Tram mitzunehmen und wurde prompt von vielen fragenden Augen angeschaut. Ich verkroch mich deshalb zuhinterst im Tram und hielt die Hand vor den Mund. Ich schämte mich, denn ich wollte die anderen Fahrgäste nicht verunsichern. Von da an vergass ich nie mehr, die Maske in den Zug mitzunehmen. Durch dieses Erlebnis waren bei mir neue neuronale Verknüpfungen entstanden.

Interessanterweise wird Adams und Evas Erleben meist aus der Schuldperspektive interpretiert und weniger mit dem Fokus der Scham – auch wenn Scham und Schuld oft miteinander verwoben sind.

 

Scham braucht Schutz

Wie reagiert Gott auf die ersten beiden Menschen in ihrem Versteck? Zuerst geht er genau dorthin, wo sich Adam und Eva befinden. Er sucht sie. Wir beschämen manchmal Menschen, ohne dass wir uns getrauen, dorthin zu gehen, wo sich diese Personen befinden. Es ist leicht, aus Distanz über sie zu reden, sie zu beurteilen, zu verurteilen oder ihnen Ratschläge zu geben.

In einem zweiten Schritt fragt Gott: «Adam, wo bist du?» Das will heissen: «Was erlebst du? Wie geht es dir? Was treibt dich?» Hoch therapeutische Fragen! Adam findet keine Worte. Er versteckt sich auch psychologisch. Er ist in sich zerrissen. Als Ablenkungsmanöver verweist er auf Eva: «Die Frau, die du mir …» Es ist für ihn einfacher, über andere – seine Frau und Gott – zu reden als über sich. Dabei möchte Gott ihm einen Schutzraum bieten, in dem er sich selbst in die Augen sehen und Worte für seine Zerrissenheit finden kann. Eva reagiert auf gleichem Niveau: «Die Schlange betrog mich …»

Die innere Zerrissenheit ist manchmal so gross, dass eine Person vorerst einfach nur Schutz braucht. Deshalb gibt Gott beiden einen Mantel. Scham braucht viel Schutz, damit wir den Mut finden, uns ihr stellen.

Es ist sehr eindrücklich zu sehen, wie schnell sich in der biblischen Urgeschichte eine eigentliche Rachekultur und damit eine Beschämungskultur entwickelt2. In Zeiten des Alten Testaments wird viel von Schande und Ehre gesprochen. Diese Empfindungen nahmen auch religiöse Formen an. Die Freunde Hiobs beschämten diesen in langen theologischen Diskursen wegen seiner Schicksalsschläge und bezweifelten seine religiöse Integrität. Hiob wehrte sich eindrücklich dagegen und Gott bekannte sich zu ihm.

 

Entschämung richtet auf

Jesus stellt sich nach den Berichten der Evangelien entschieden gegen die Beschämungskultur. Er durchbricht den Diskurs von Schande und Ehre und verteidigt die Beschämten. 

Dies kommt schon in der Bergpredigt, der Charta des Reiches Gottes, welche die Grundwerte Jesu beschreibt, deutlich zum Ausdruck. Daniel Hell bringt es folgendermassen auf den Punkt: «Die Bergpredigt ist eine einzige Seligpreisung der Beschämten jener Zeit.» In den Seligpreisungen könnte «selig» mit «richtet euch auf!» übersetzt werden. Mit dem griechischen Begriff «makarios» für «selig» wird in der griechischen Literatur eine Frau beschrieben, wie sie über den Marktplatz einer Stadt schreitet, für deren Gemeinwesen ihr Mann etwas sehr Wichtiges erreicht hat. Diese Frau bewegt sich aufrecht in der Stadtöffentlichkeit. Ihre Körperhaltung drückt Würde aus. So dürfen sich Gottes Kinder in dieser Welt bewegen: «Richtet euch auf, die ihr hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn ihr sollt satt werden.» Es lohnt sich, die Seligpreisungen aus dieser Perspektive zu lesen.

Mir fällt auf, wie würdevoll Jesus in seinen Reden und in der Begegnung mit jeder Person umgeht, die sich an ihn wendet. Da gibt es eine zwielichtige Frau, die ihm in aller Öffentlichkeit mit teurem Öl, einer damaligen Kapitalanlage, die Füsse wäscht. Die anwesenden Männer fühlen sich sichtlich gestört durch die Anwesenheit dieser Frau. Ihnen ist das peinlich. Die Frau ergibt sich ihren Tränen, sie zeigt sich emotional. Das ist aus Männersicht vielleicht hysterisch. Die Gelehrten wollen mit Jesus über tiefe Theologie parlieren. Es ist erstaunlich, wie entspannt und würdevoll Jesus mit der Situation umgeht. Die Gelehrten beschämen, Jesus entschämt und führt die Frau wieder in ihre Würde zurück.

Da kommt eine leidende Frau auf ihn zu und will Jesus einfach berühren. Ihre Erwartung hat etwas Magisches. Das wirkt peinlich, alle tuscheln, die Jünger ärgern sich und wollen Jesus vor dieser unreinen, nervenden Frau mit ihrem Gejammer bewahren. Nur Jesus geht ruhig und würdevoll mit ihr um. Er gibt ihr die not-wendige Aufmerksamkeit in aller Öffentlichkeit.

Die Jünger wollen Jesus vor lärmenden Kindern verschonen. Jesus heisst sie willkommen und herzt sie. Jesus hat die Freiheit, die Frau am Jakobsbrunnen anzusprechen, die, um den beschämenden Blicken des Dorfes zu entgehen, es nur unter der stechenden Sonnenhitze wagt, zum Brunnen zu gehen.

Und natürlich ist da auch an die Ehebrecherin zu denken. Sie soll mit den beschämenden Händen der Pharisäer gesteinigt werden. Jesus konfrontiert diese Männer mit ihrer eigenen Scham. So lassen diese ihre Steine in den Staub fallen. Darauf bringt Jesus die Frau in einem kurzen Gespräch in Berührung mit ihrer eigenen Würde.

Und da ist schliesslich Zachäus. Er hat mit Schwindeleien Karriere gemacht und ist damit reich geworden. Zachäus setzt sich dem Gespött der Menge aus, weil er unbeholfen auf einen Maulbeerbaum klettert, um Jesus zu sehen. Seine Sehnsucht nach Würde ist stärker als die Angst vor Beschämung.

Vielleicht kommt es nicht von ungefähr, dass mir zuerst Begegnungen Jesu mit Frauen in den Sinn kommen. Sie wurden von Männern so oft beschämt. Es sind jedoch auch Männer von Beschämung betroffen. Es lohnt sich, die vielen Begegnungen Jesu mit Menschen unter dem Blickwinkel der Scham und der Würde zu meditieren.

 

Entschämung bringt Menschen in Berührung mit ihrer Würde

Jesu Umfeld beschämt, Jesus jedoch entschämt die Beschämten. Jesus gibt ihnen ihre Würde in aller Öffentlichkeit zurück – in aller Ruhe, mit berührender Achtsamkeit und ohne sich dabei zu verlieren. Bei Jesus wird es nie peinlich! Wer Menschen mit Tiefe begegnet und sie sorgsam begleitet, trifft auf Personen, die beschämt wurden und sich danach sehnen, entschämt zu werden. Sie brauchen ein Gegenüber, das ihnen einen Zugang zu ihrer Würde eröffnet: mit Worten und vor allem auch durch das Verhalten.

Ich frage mich manchmal, ob Nachfolger Jesu eher Beschämer oder Entschämer sind und inwieweit sie Menschen achtsam in Berührung mit ihrer Würde als Kinder Gottes bringen.

 

Wie also entschämt Jesus?

  • Gott sucht Menschen in ihrer Scham. Er geht dorthin, wo sich diese befinden. Er nimmt das Gespräch auf und möchte helfen, die Zerrissenheit zu heilen. Er gibt Menschen einen äusseren wie auch einen inneren Schutzraum. Er fragt: «Wo bist du?» und gibt ihnen Schutzkleider, die ihnen eine gewisse Sicherheit geben.
  • Jesus klopft leise an unsere Tür. Er geht mit uns respektvoll und taktvoll um. Er entschämt Beschämte in würdevollen Begegnungen. Bei ihm wird es nie peinlich.

Ich möchte mich an Jesu Umgang mit Beschämten orientieren. Für mich hat sein Vorbild eine tiefe spirituelle Dimension.

 

1  Lukas 6,41

2  1. Mose 4,23

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