Philosophie: Zwischen Narrativ und Wahrheit

Als ich Anfang 2000 das erste Mal den Begriff «Narrativ» in einer Seminararbeit verwendete, strich der Professor dies als Neologismus (1) an, für den es im Deutschen das Wort «Erzählung» gäbe. Der in der englischsprachigen Kulturwissenschaft etablierte Begriff fasst jedoch etwas, das weit über die literarische Bedeutung von «Erzählung» hinausgeht – er meint das anthropologische Bedürfnis des Menschen nach Sinnzusammenhängen, die Anfang, Mitte und Ende im Blick haben und kulturell wirkmächtige Konstruktionen hervorrufen.

(Lesezeit: 7 Minuten)

Das Wort «Narrativ» hat sich – wie «Diskurs» – als akademisches Modewort popularisiert. Die durch poststrukturalistische Theorien seit den 60er Jahren vorangetriebenen geisteswissenschaftlichen «Wenden» (turns) erfassen menschliches Weltdeuten als Zeichensystem. 

(Bild: Yuliya Harbachova auf Pixabay)

Sprachspiele: Das Deuten von Zeichen

Zwischen Zeichen und Bezeichnetem klafft dabei eine Lücke. Das Wort «Tisch» und der reale Tisch, an dem ich gerade schreibe oder den ich reserviert habe, sind verschieden. Ohne nähere Beschreibung könnte er zwischen rund und eckig vieles sein.

Suchte der platonische Idealismus die Idee des Tisches in einer metaphysischen Sphäre, interessieren sich heutige Ansätze für die innere Dynamik der Zeichensysteme bei der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit. Wer kontrolliert diese? Lassen sich noch Aussagen über die «Welt an sich» treffen? Und wer sind wir, wenn nicht bereits das Resultat all dieser sich uns entziehenden Sprachspiele?

 

Verlust der grossen Erzählungen

Die erkenntnistheoretisch wie logisch problematischen Fragestellungen der «linguistischen Wende» (linguistic turn) richteten sich bald auf die Kultur als Zeichensystem (cultural turn). Schliesslich geriet das Streben des Menschen als «homo narrans» nach erzählerischen Sinnzusammenhängen in den Blick (narrative turn). Der Philosoph Lyotard sah das Ende der «grossen Erzählungen» von Religion und Ideologie als Ausdruck der Postmoderne. Der Historiker Hayden White begründete eine postmoderne Lesart der Geschichtsschreibung: Nach welchen narrativen Prinzipien erfolgt unsere Auswahl von Quellen und deren Interpretation?

Eine Tragödie zeichnet sich etwa durch tragische Helden aus, die, ohne es zu wissen (dies ist dem Publikum zum Zwecke kathartischer2 Erkenntnis vorbehalten), Fehler begehen und daran scheitern. War nun das Ende der UdSSR ein Fortschritt der Menschheit auf dem Weg zur Freiheit oder war es eine Tragödie? Letzteres ist die Lesart Putins. Wenn das eigene Weltbild nicht den freien Menschen mit seinen Rechten ins Zentrum setzt, sondern eine russisch dominierte Supermacht mit globalen Hegemonieanspruch zum Subjekt der Geschichte macht, dann ist dies narrativ möglich. Menschenrechte gehen dabei aber unter.

 

Die Wahrheit nicht falsch vereinfachen

Kognitive Psychologen wie Jerome Bruner und Daniel Kahneman konnten nachweisen, dass wir im unbewussten Streben nach Komplexitätsreduktion die Welt häufig narrativ erschliessen. Dies zu verstehen ist wichtig, da wir sonst Gefahr laufen, im Kleinen (persönlich, zwischenmenschlich) wie im Grossen (Politik und Gesellschaft) Ursachen und Wirkungen falsch einzuschätzen, Wunschvorstellungen zu unterliegen und falsche Schlüsse zu ziehen. Wir verwechseln Korrelation und Kausalität, unterstellen Motive, projizieren Konsequenzen unseres Handelns und ignorieren andere, vielleicht überzeugendere Interpretationen der Wirklichkeit. In interkulturellen, interreligiösen aber auch in politischen Prozessen führt dies schnell zu kognitiven Dissonanzen3.

Diese Einsicht führt zu mehr Flexibilität. Wir können unsere Sichtweise besser abwägen, unser Verhalten entsprechend anpassen, unsere eigene Geschichte weit besser integrieren, wenn wir den eigenen Sinnstiftungsprozess besser verstehen.

Zeitgleich werden diese Einsichten genutzt, um das Weltgeschehen möglichst opportun4 zu deuten. Als ich Mitte der Nullerjahre mit meiner Arbeit bei einem politischen Beratungsinstitut anfing, wurde mühelos davon gesprochen, ein Narrativ so zu gestalten, wie es der politischen Lobbyarbeit am meisten nützte. Der Begriff war zum Euphemismus für das geworden, was als «Propaganda» zu bezeichnen unschön klang.

 

Bröckelnde Wahrheiten

Unterstellt man Narrative anderen, dann, um deren Manipulativität hervorzuheben. Schon 2013 beschrieb Peter Pomerantsev das Russland Putins als «Postmoderne Diktatur», in der sich mit Hilfe sozialer und öffentlicher Medien sowie scheinbar liberal-demokratischer Institutionen eine neue Form des Autoritarismus etabliert habe, der das alte Metanarrativ des Kommunismus nicht mehr bräuchte.

Der seitdem oft gehörte Vorwurf, Russland nutze sozialen Medien, um im Westen russische Narrative zu verbreiten, ist sicher nicht falsch, unterschlägt aber, wie sehr der postmoderne Zeitgeist sowie das konsumkulturelle Streben, alles in eine vermarktbare Ware zu verwandeln, genug dazu beitragen, dass die Wahrheit abhandengekommen scheint. Die erwähnten kulturwissenschaftlichen «Wenden» bezogen sich ja nicht auf die jüngeren Entwicklungen in Russland, sondern auf die Erosion des Wahrheitsbegriffs in der Postmoderne.

Eine radikal postmoderne Lesart, die in Ansätzen auf Nietzsches Schrift «Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn» zurückgeht, entsorgt die Idee der Wahrheit ohne weiteres. Auch das Subjekt wird am Ende zum Fabrikat der eigenen Geschichtsschreibung, die selbst wiederum Resultat undurchdringlicher semantischer Diskurse ohne Autor sind.

 

Kritisch nachdenken

Alle Seiten mögen sich narrativer Elemente bedienen. Das heisst nicht, dass die objektive Wahrheit in der Mitte oder nirgendwo liegt. Es ist kein Zeichen der Toleranz, jede Form narrativer Sinnstiftung als gleichwertig zu betrachten. Ein Begriff von Wahrheit kann nur halten, wenn nicht beliebig alles zum Narrativ wird, weil es uns Menschen eigen ist, uns und unser Leben narrativ zu erfassen und dabei oft Unpassendes passend zu machen.

Die Fähigkeit zur kritischen Reflexion ist uns ebenso gegeben. Folgt man hier Teresa von Avila – für sie war Gotteserkenntnis untrennbar mit Selbsterkenntnis verwoben –, dann hiesse dies, an einer objektiven Wahrheit auch dann festzuhalten, wenn wir unser eigenes Unvermögen, sie vollständig zu sehen, und unsere Vorurteile, unsere ideologischen Prägungen, unser Wunschdenken beim Deuten der Welt immer reflektieren – im Bemühen, darüber hinauszugelangen. 

 

1 Ein Neologismus ist laut der Definition im Internet «eine innerhalb einer Sprachgemeinschaft in den allgemeinen Gebrauch übergegangene sprachliche Neuprägung, das heisst: ein neu geschaffener sprachlicher Ausdruck, also ein Wort oder eine Wendung».

2 reinigende, befreiende Wirkung

3 Widersprüche im Denken

4 angemessen

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