Arbeit: Den Armen noch das Wenige wegnehmen – was ist in den Nationalrat gefahren?

Gott möchte, dass alle Menschen ein Auskommen haben. In 5. Mose 15,4 heisst es gar «Es sollte überhaupt kein Armer unter Euch sein». Das Ziel einer Wirtschaftspolitik sollte also sein, diesen Zustand herzustellen, zumindest für alle Menschen guten Willens. Der Nationalrat hat nun aber im Dezember den Bundesrat beauftragt, die kantonalen Mindestlöhne dort zu abzuschaffen, wo nationale Gesamtarbeitsverträge bestehen. Dies kommt einer Lohnsenkung für diejenigen gleich, die schon sehr wenig haben, und bringt viele von ihnen in Not.

(Lesezeit: 6 Minuten)

Ein Lohn sollte für eine Familie zum Leben reichen. Müsste man meinen. Doch für viele Familien in der Schweiz ist dies heute nicht der Fall. Nach den Zahlen des Bundesamtes für Statistik lebten im Jahr 2020 über 150'000 Erwachsene trotz entlöhnter Arbeit in Armut. Mit der starken Inflation im Jahr 2022 ist ihr Spielraum inzwischen noch enger geworden. In diesen Haushalten lebten auch knapp 100'000 Kinder. Nach dem Bundesamt für Statistik1 war bereits im Jahr 2014 jedes 20. Kind in der Schweiz von Einkommensarmut betroffen und jedes sechste Kind armutsgefährdet. Dies auch deshalb, weil alleinerziehende Frauen in dieser Statistik überdurchschnittlich oft vertreten sind. 

(Bild: Ricardo Gatica auf Pixabay)  

Drohende Lohnsenkungen

Besonders viele der bereits armutsbetroffenen Menschen arbeiten in Bereichen, wo wegen der erwähnten Aushebelung der kantonalen Mindestlöhne Lohnsenkungen drohen. Das gilt etwa für die 15'000 Menschen in der Gastronomie, wo die GAV-Mindestlöhne tiefer sind als die kantonalen Mindestlöhne. Im teuren Kanton Genf verdienen diese Angestellten heute 4000 Franken im Monat, in Neuenburg 3687, in Basel-Stadt 3728. Viele von ihnen riskieren mit der neuen Regelung eine Lohnsenkung auf den GAV-Mindestlohn von 3582 Franken und damit ein Abgleiten in die Armut. Bei den Coiffeuren und Coiffeusen sieht es sehr ähnlich aus.

Damit wird das Gegenteil des eigentlichen Ziels erreicht. Oder ist das Wohlergehen der Menschen, insbesondere derjenigen, die es am meisten brauchen, für die Parlamentsmehrheit gar kein Ziel? Worum geht es diesen Vertreterinnen und Vertretern des Volkes eigentlich?

 

Besser hinschauen statt ideologisch denken

Die Parlamentsmehrheit argumentierte, dass kantonale Mindestlöhne ein Eingriff in private Abmachungen von Sozialpartnern seien. Diese Argumentation ist erstaunlich angesichts der Tatsache, dass im Grunde die gesamte Gesetzgebung auf nationaler und kantonaler Ebene den Rahmen für private Abmachungen setzt. Was ist eigentlich wichtiger? Das Wohlergehen der Armen oder die Ideologie des Nichteingreifens? 

Die Befürworter betonten die Stärkung der Sozialpartnerschaft durch die neue Regelung. Ein Schelm, wer Böses denkt, in der heutigen Zeit, wo auf Grund des abnehmenden Organisationsgrades die Gewerkschaften in dieser Partnerschaft regelmässig den Kürzeren ziehen.

Der Gewerbeverband meinte auch, dass sich viele Betriebe die Mindestlöhne nicht leisten könnten und dass dadurch viele Arbeitsplätze verloren gehen könnten. Die Wirtschaftswissenschaft hat diese Denkweise schon längst widerlegt: In Grossbritannien wurde 1999 ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt, der jährlich erhöht wurde. Wissenschaftliche Untersuchungen2 zeigten, dass dadurch insgesamt keine Arbeitsplätze vernichtet, sondern tendenziell eher mehr geschaffen wurden. Dies deshalb, weil die wenig Verdienenden das zusätzliche Geld nicht horten können, sondern meist grad wieder vor Ort ausgeben. Auch in den USA3 wurden ähnliche Erfahrungen gemacht; und in Genf haben sich ebenfalls keine negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt gezeigt. 

 

Die Wirtschaftspolitik neu ausrichten

Unsere Wirtschaftspolitik sollte auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und nicht auf Ideologien gründen. Und sie muss die Gesamtzahl der Arbeitsplätze im Auge behalten. Durch Mindestlöhne werden mehr davon geschaffen. Wenn die Wirtschaftspolitik irgendjemandem zu Gute kommen soll, dann doch vorerst denjenigen, die es am meisten brauchen. Wenn das nicht erreicht wird, oder wenn wie im vorliegenden Fall den Ärmsten das Wenige, das sie haben, gar weggenommen wird, dann muss das als Totalversagen der Politik gewertet werden.

Dann ist es höchste Zeit, über die Bücher zu gehen und die Wirtschaftspolitik neu auszurichten: Die Ziele müssen neu definiert und den Akteuren verständlich gemacht werden. 

Vielleicht stellt sich aber auch die Frage, wie weit wir als Gesellschaft die Nächstenliebe ernst nehmen. Inwiefern ist uns das Leben der Benachteiligten in der Gesellschaft überhaupt noch ein Anliegen? Vielleicht ist das gar die entscheidende Frage!

 

1 https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home.assetdetail.1320142.html

2 https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-grossbritannien-loehne-und-jobs-stabilisiert-10342.htm

3 https://www.letemps.ch/economie/six-enseignements-salaire-minimum

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Kommentare

René Müller schreibt
am 10. März 2023
Traurig, dieses Gesellschaftsbild. Das Gewerbe lobt die freie Wirtschaft und drängt die Leute mit Tiefstlöhnen in die Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen. Dort können sie mit Reglementen gegängelt werden wie Sklaven. Die Wirtschaft lässt sich also Mitarbeiter vom Staat mitbezahlen, sprich: subventionieren.
Umgekehrt ist wohl wahr, dass der Konsum bei gerechten Mindestlöhnen etwas teurer wird. Aber vielleicht regelt sich damit ein klein wenig der Überfluss, was auch nicht so schlecht wäre.