Migration: Ein Plädoyer für Fairness und Anstand in der Asyldebatte 

Geraten Flüchtlinge häufiger mit dem Gesetz in Konflikt als Schweizer? Sind sie weniger arbeitsam als die einheimische Bevölkerung? Wer genauer hinsieht, merkt rasch, dass bei der Beantwortung dieser Fragen Vorurteile mit Fakten vermischt werden.

(Lesezeit: 11 Minuten)

Der Berner Integrationsdirektor Pierre Alain Schnegg äusserte sich Ende des vergangenen Jahres in Zeitungs- und Radio-Interviews zur Frage der Arbeitsintegration wie folgt: «Aber es ist ein Fiasko für unsere Integrationspolitik, wenn man schaut, wie viele Menschen auch nach fünf oder sieben Jahren in der Schweiz noch immer nicht arbeiten. Wer gesund ist und nach so langer Zeit – trotz Vollbeschäftigung – noch immer keine Arbeitsstelle hat, der will doch einfach nicht arbeiten1

Ausserdem erklärte er im Zusammenhang mit der gemischten Unterbringung von ukrainischen und aussereuropäischen Flüchtlingen, dass sich beide Gruppen stark unterscheiden. Dies nicht nur aufgrund der Sozialstruktur: hier Familien, oft Mütter mit Kindern, dort junge Männer. Bei der aussereuropäischen Flüchtlingsgruppe sah er ein erhöhtes kriminelles Potenzial: «Die Kriminalitätsstatistik ist doch eindeutig. Die Journalisten wollen darüber nur nicht schreiben2.» Was ist wahr an diesen Aussagen?

(Bild: Ralph auf Pixabay)

Überrepräsentation von Ausländern in der Kriminalstatistik

Tatsächlich ist es so, dass unter der ausländischen Bevölkerung, die ungefähr 25% Anteil an der Gesamtbevölkerung stellt, ein viel grösserer Teil straffällig wird. Bei den Gewaltstraftaten wurden im Jahr 2021 7367 Personen verurteilt, davon 3‘911 mit einem ausländischen Pass und 3‘456 mit Schweizer Staatsbürgerschaft3. Wie lässt sich diese erhöhte Delinquenz erklären?

André Kuhn, Professor für Kriminologie und Strafrecht an den Universitäten Lausanne, Neuenburg und Genf hat sich mit der Überrepräsentation von Ausländern in der Kriminalitätsstatistik befasst. Dabei hat er die Variablen für Straffälligkeit herausgearbeitet. Es sind dies das Geschlecht, das Alter, der sozioökonomische Status – also die Armutssituation –, das Bildungsniveau und in seltenen Fällen die Staatsangehörigkeit. Junge Männer, schlecht situiert und mit tiefem Ausbildungsstand werden von allen Gruppen am häufigsten kriminell. Die Wahrscheinlichkeit, dass nun ein junger, mittelloser Ausländer ohne Bildung ein Verbrechen begeht, ist ziemlich gleich hoch wie bei einem Schweizer mit den gleichen Voraussetzungen. Tatsache ist nun aber, dass verhältnismässig viel mehr Ausländer als Schweizer die obigen Merkmale erfüllen, denn die Migration betrifft vor allem junge und weniger oft ältere Menschen, zudem eher Männer als Frauen. Fakt ist, wie diese Ausführungen zeigen: Die Nationalität ist nicht wirklich ausschlaggebend für kriminelles Verhalten.

Die Staatsangehörigkeit kann in seltenen Fällen ein erhöhtes Kriminalitätsrisiko erklären. Wenn Geflüchtete direkt aus Kriegsgebieten kommen und selbst am Kriegsgeschehen partizipiert haben, besteht die Möglichkeit einer grösseren Gewaltbereitschaft, die sie sozusagen ins Gastland mitbringen4. Bei den in den vergangenen Jahren in die Schweiz geflüchteten Gruppen aus Eritrea, Iran, Syrien, Tibet oder der Türkei gibt es diesen direkten Kriegskontext eher selten. Viele sind wegen der Gefahr eines Krieges oder dem Einzug in die Armee geflüchtet. Es ist ausserdem anzumerken, dass aussereuropäische Flüchtlinge mit einer hohen Anerkennungsquote viel seltener kriminell werden als Geflüchtete aus Staaten mit einer tiefen Flüchtlingsanerkennung, wie beispielsweise Menschen aus Nord- oder Zentralafrika. Wer nach einer lebensgefährlichen Flucht als Asylsuchender abgewiesen wird, ist enorm frustriert und desillusioniert. Nur in diesen Gruppen erhöht sich das Potenzial für kriminelles Handeln, was sich auch in der Statistik niederschlägt.

 

80% der Menschen aus dem Asyl- und Flüchtlingsbereich leben von der Sozialhilfe

Das Bundesamt für Statistik (BFS) erhebt im Auftrag des Staatssekretariats für Migration die Sozialhilfequote im Asyl- und Flüchtlingsbereich. Für das Jahr 2021 gibt das BFS die Sozialhilfequote im Asylbereich mit 78,4%, im Flüchtlingsbereich mit 82,1% an. Mehr als ein Drittel der Sozialhilfebeziehenden sind im Übrigen Kinder. Bei Flüchtlingsfamilien besteht somit ein massiv erhöhtes Sozialhilferisiko.

Im Jahr 2022 sind ungefähr 100'000 Flüchtlinge in die Schweiz gekommen, davon 75'000 aus der Ukraine. Wer im Erhebungsjahr mindestens einmal eine finanzielle Sozialhilfe beansprucht hat, findet Eingang in die Sozialhilfestatistik. Dieser Fall – ein mindestens einmaliger Sozialhilfebezug – wird für eine Mehrheit der 100'000 Geflüchteten eintreffen. Und das wird auch die Sozialhilfequote im Jahr 2022 weiter erhöhen. Auch wer sich Wochen nach seiner Ankunft mit herausragenden Sprachfähigkeiten und einem sehr guten Ausbildungsstand im ersten Arbeitsmarkt wiederfindet, wird in der Erhebungsperiode in der Sozialhilfestatistik geführt. Macht eine statistische Auswertung Sinn, wenn das Resultat dermassen undifferenziert ist?

Die hohe Quote ist aber auch sonst zu erwarten: Wer in die Schweiz flüchtet, hat in der Regel nicht die nötigen Sprachkenntnisse und ein entsprechendes Bildungsniveau, um sich rasch im ersten Arbeitsmarkt zu etablieren. 

Eine Ausnahme bilden Geflüchtete aus der Ukraine, die über einen sehr hohen Anteil an akademisch gebildeten Personen verfügen und zudem ein grosses Wohlwollen bei der Wohnungs- und Arbeitssuche erfahren. Aber auch in dieser Gruppe wachsen die Bäume nicht in den Himmel. Während der Flüchtlingskrise von 2014/2015 mussten viele aussereuropäische Asylsuchende lange Zeit auf ihren Asylentscheid warten. Diese zermürbende Situation hat Integrationsschritte gehemmt. Rasch gute Deutschkenntnisse zu erwerben, gelingt nicht jedem gleich gut.

Eine weitere Herausforderung sind anspruchsvolle und zeitintensive Ausbildungen. Danach müssen Betriebe gefunden werden, die bereit sind, beispielsweise vorläufig aufgenommene Personen zu beschäftigen, die auf dem Papier wenig Planungssicherheit versprechen, obwohl de facto die grosse Mehrheit in der Schweiz bleibt. Mit diesen Hürden ist der Schritt in den ersten Arbeitsmarkt kein Sonntagsspaziergang und ein Prozess, der selbstredend einige Jahre in Anspruch nimmt. Die Aussagekraft der Zahl 80% Sozialhilfequote im Asyl- und Flüchtlingsbereich ist ähnlich wertlos wie eine Studie zur Alphabetisierungsquote von Drei- und Vierjährigen. Man weiss im Vornherein, dass Drei- und Vierjährige noch nicht lesen und schreiben können, Ausnahmen vorbehalten.

Ein weiterer bedeutsamer Aspekt ist die Frage des Teilsozialhilfebezugs. Es gibt viele Geflüchtete mit Familien, die den Schritt in die vollständige Sozialhilfeunabhängigkeit noch nicht geschafft haben. Sie arbeiten, obwohl sie bei Untätigkeit etwa gleich viel Geld zur Verfügung hätten. Sie wollen aber arbeiten, weil es zu ihrer Würde gehört. Kein gesunder Mensch will Tag für Tag die Beine vor dem Fernseher hochlagern oder Däumchen drehen.

 

Das Beispiel Riggisberg BE nach 7 Jahren

Nach der Schliessung der Asylunterkunft im Januar 2016 blieben ungefähr 25 Flüchtlinge in unserem Dorf. Wir haben sie von Seiten «riggi-asyl» auf dem Weg in den ersten Arbeitsmarkt begleitet. Zu den heute 22 mehrheitlich aus Eritrea geflüchteten Personen gehören sechs Frauen, sieben Männer, vier Jugendliche in Ausbildung und fünf Kinder. Vier Frauen arbeiten im ersten Arbeitsmarkt, davon zwei in einer Küche, eine in der Wäscherei, eine im Pflegebereich. Von vier Männern im ersten Arbeitsmarkt sind zwei in einer Küche angestellt und zwei im Pflegebereich beschäftigt. Diese acht Erwachsenen sind allesamt sozialhilfeunabhängig und arbeiten in Riggisberger Institutionen. Zwei Familien sind teilsozialhilfeabhängig. Die beiden betroffenen Väter arbeiten in der Küche einer Institution in Riggisberg. Die beiden Mütter verbessern ihre Deutschkenntnis und suchen im Moment erfolgreich Anstellungen im Reinigungsdienst mit dem Ziel, als Familien völlig sozialhilfeunabhängig zu werden. Ein junger Mann ist noch in Ausbildung im Gastrobereich. Aufgrund einer starken Lernschwäche ist es unsicher, ob er seine Ausbildung bestehen wird. Arbeitslos ist aus dieser Gruppe im Moment niemand.

 

Schlussfolgerungen – und eine theologische Reflexion

Um die Kriminalitätsrate zu senken und die Sozialhilfequote zu verbessern, sind soziale Massnahmen und Bildungsanstrengungen nötig. Die Begleitung von Geflüchteten kann dabei nicht nur den Behörden überlassen werden. Der Einbezug zivilgesellschaftlicher Gruppen für die Unterstützung des Integrationsprozesses ist ein Erfolgsmodell. Eine wichtige Aufgabe fällt hier den Kirchen zu. Für sie ist es eine Kernaufgabe, die Schwächsten der Gesellschaft zu begleiten. Dazu gehören unter anderen auch Flüchtlinge.

Am Ende eines Gottesdienstes hören wir häufig die Worte aus dem aaronitischen Segen: «Gott wende sein Angesicht dir zu und lasse leuchten sein Angesicht über dir … 5.»  Zuwendung, ein freundliches Gesicht: Was in der Beziehung von Gott zu uns gilt, das soll auch für unser menschliches Zusammenleben gelten. Es ist eine menschliche Grunderfahrung, dass wir uns erst dann wirklich als Mensch fühlen, wenn wir angeschaut werden. Wer gesehen wird, hat Ansehen, und wer von niemandem angeschaut wird, kommt sich unansehnlich vor. Unsere Lebensstimmung und unsere Lebenshaltung sind wesentlich davon abhängig, wer uns wie in die Augen schaut. Wer nicht angeschaut wird oder wer, aufgrund von Vorurteilen, grundlos in hasserfüllte Augen schaut, reagiert mit Angst und Abwehr.

Das erleben heute viele Flüchtlinge in unserer westlichen Welt. In ihnen potenziell kriminelle oder faule Menschen zu sehen, sind Ansichten, die aus dem Giftschrank populistischer Parteien stammen. Sie fördern Pauschalurteile und Kollektivverdacht. Menschen auf ihre Gruppenzugehörigkeit zu reduzieren, macht sie gesichtslos und entmenschlicht sie als einzelne Person. Ein solches Verhalten widerspricht den Grundwerten der Bibel, die jedem Menschen, unabhängig seiner Herkunft, seiner Hautfarbe und seiner Gesinnung, eine einmalige Würde zuspricht.

 

1 SRF Regionaljournal, 1.12.2022

2 Berner Zeitung, 22.11.2022

3 Quelle: Bundesamt für Statistik

4 Quelle: Revue Vivre Ensemble, März 2013

5 4. Mose 6,24ff

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Kommentare

Elisabeth Stucki schreibt
am 22. Februar 2023
ich wünsche mir, dass viele Menschen diesen Artikel lesen, er ist wichtig, und gibt Lesenden, die nicht im Migrationsbereich arbeiten Informationen für ein besseres Verständnis. Ich pflichte Daniel Winklers Plädoyer vollumfänglich bei und danke ihm dafür
Susanne Meier schreibt
am 13. Februar 2023
Ich kann mich Herr Winkler nur anschliessen. Wir erleben es genau gleich. Alle Frauen, die seit 2013 bei uns wohnten sind inzwischen im ersten Arbeitsmarkt tätig oder in Ausbildung. (Die Frauen kommen aus Eritrea, Äthiopien, Kongo und Somalia). Die Frauen mit Kindern beziehen Teilsozialhilfe. Ich bin überzeugt, dass wenn wir die MigrantInnen menschenwürdig behandeln, sie unterstützen im Erlernen der Sprache und bei der Suche einer angemessenen Arbeit, viel weniger Probleme hätten. Integration von Anfang an ist gefragt, stattdessen überlassen wir die Menschen auf dem Gurnigel oder weiss wo sich selber. Dass dies zu Mehrkosten und oft auch zu Kriminalität führt ist wohl allen klar.
Maya Leu schreibt
am 1. Februar 2023
Lieber Daniel
Herzlichen Dank für diesen Artikel!
Schön wäre es, wenn er auch in Kirchenboten (reformiert.) oder sogar in einer grossen Tageszeigung publiziert würde.
Auch ich begegne immer wieder Äusserungen wie diejenigen von Pierre Alain Schnegg. Sogar durch das Radio werden manchmal solche Halbwahrheiten verbreitet, die dann die Zustimmung unkritischer Hörer finden und eine fremdenfeindliche Haltung fördern.
Danke für das Berichten von den Früchten Eures Einsatzes von riggi-asyl.
Wir erleben hier im Appenzellerland dasselbe. Von den zehn Familien, die wir seit 2016 begleiten, ist gerade noch eine in der Sozialhilfe (eine alleinerziehende Mutter mit ihren drei Kindern). Alle anderen sind (zum Teil seit Jahren) selbständig. Die Jugendlichen sind in einer Lehre oder im Gymnasium. Einer sogar am Studieren an der HSG. Sie sind wirklich bei uns angekommen und freuen sich über ihre Eigenwirksamkeit und Unabhängigkeit. Von Kriminalität sind sie weit entfernt.
Die Annahme, die meisten zugewanderten Leute seien faul oder kriminell ist eine bösartige Verleumdung. Danke, dass Du sie (statistisch und real) widerlegt hast.
Liebi Grüess
Maya