Das Buch Hiob vermittelt ein Gottesbild, das dieser skandalösen Vorstellung in nichts nachsteht. Im Buch Hiob würfelt Gott nicht, sondern er wettet. Er schliesst mit dem Teufel eine Wette ab, und zwar auf Hiobs Familie und seine Gesundheit1. Die Wette lautete: Hiob wird an Gott festhalten, auch wenn Satan ihn mit unsäglichem Leid schlägt.
Während Einsteins Satz die Frage nach Gottes Allmacht aufwirft, stellt sich bei Gottes Wette die Frage nach seiner Güte. Das unsägliche Leiden Hiobs ist die Folge der göttlichen Wette. Oder ist die Wette teuflisch? Ist es moralisch vertretbar, an einen Gott zu glauben, der auf die Gesundheit seiner Kinder wettet? Kann man einem solchen Gott vertrauen?
Ein faszinierendes Buch
Trotz der schwerwiegenden Fragen, die es aufwirft, fasziniert das Buch Hiob seit Jahrhunderten. Nicht nur Christen lesen es gerne, auch säkulare Philosophen, Schriftsteller und Atheisten kommentieren es immer wieder.
Das Buch Hiob ist in vielerlei Hinsicht einzigartig. Es ist voller schlechter Nachrichten, gleichzeitig ist es voller Anmut, Tiefe und Schönheit. Keines der Bücher der Welt, die über das Leiden geschrieben wurde, ist von gleicher poetischer Kraft. Nirgends wird schonungsloser über das Leid gesprochen, nirgends wird ehrlicher gebetet, nirgends reichen die Antworten tiefer. Das Buch Hiob ist das Meisterstück der Weltliteratur, wenn es um das Leiden geht.
Der Schlüssel zum Verständnis des Buches liegt in der Grösse Gottes. Gottes Souveränität erhält einen so starken Ausdruck, dass sich seine Güte dahinter fast ganz verbirgt. Gott ist der Unverfügbare, der alles kann und alles darf. Er schliesst mit dem Teufel eine Wette ab und gibt Hiob in die Hand des Bösen. Hiobs Leid treibt ihn fast in den Wahnsinn. Er verzweifelt an sich selbst, an seinen Freunden, vor allem aber an seinem Gott. Aber Hiob gibt seinen Glauben nicht auf, und am Ende gewinnt Gott die Wette.
Eine Ungeheuerlichkeit
Ein Gott, der wettet, ist eine Ungeheuerlichkeit. Das empfindet nicht nur der moderne Mensch so. Für Hiobs Freunde war der Gedanke, Gott lasse Hiob grundlos leiden, unerträglich. Das Gottesbild des Buches Hiob ist rätselhaft und provozierend. Es scheint so gar nicht in das Bild zu passen, das man sich im Christentum von Gott im Allgemeinen macht. Erstaunlicherweise ist es genau das skandalöse Gottesbild dieses ausserordentlichen Buches, an dem man sich zuerst einmal wundreiben muss. Erst dann erweist es sich als die beste Medizin gegen das Leiden.
Das Buch Hiob ist voll von poetischen Streitgesprächen zwischen Hiob und seinen Freunden – mit Elifas als Wortführer2. Hiobs Freunde behaupten, Hiob werde bestraft wegen seiner Sünden. Hiob bestreitet hartnäckig seine Schuld und behauptet, Gott mache einen Fehler, ihn grundlos leiden zu lassen: «Seht ihr nicht ein, dass Gott mir Unrecht tut»3? Zu Gott sagt Hiob: «Du kannst mich doch nicht einfach schuldig sprechen! Was bringt es dir, dass du so grausam bist»4? Darf man so mit Gott reden? Ist das noch beten?
Eine dicke Überraschung
Das Buch endet mit einer dicken Überraschung. Obwohl Hiob seinen Gott angeklagt und «im Unverstand geredet» hat5, wird am Schluss nicht Hiob getadelt, sondern Elifas und mit ihm seine Freunde. «Mein Zorn ist entbrannt gegen dich und deine beiden Gefährten», sagt Gott, «denn ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob»6.
Hiobs Freunde hatten während des langen Streits beständig erklärt, Gott strafe den Sünder. Das Problem mit ihrer Ansicht war nicht, dass die Sünde Gottes Strafe nach sich ziehen kann. Tatsächlich sagt Gott in der Bibel selbst, dass er den Schuldigen nicht ungestraft lässt7. Das Problem war, dass die Freunde hinter jedem Übel eine Schuld orteten, die von Gott heimgesucht wird. Sie hielten sich für Männer von Welt mit einem besonderen Durchblick. Jetzt wurde klar, dass es sich um drei Kleingeister handelte, die meinten, mit ihren klugen Ansichten über Gott verfügen zu können. Ihr Gott passte in den vorgefertigten Rahmen ihrer philosophisch klingenden Erklärungen und war berechenbar: Gott sitzt im Himmel und verteilt Krankheiten an Sünder!
Dieses Gottesbild war falsch. Es ist richtig, dass Gott der Gerechte ist, der Schuld heimsucht, aber Gott ist auch der Barmherzige, der vergibt. Gott ist der Souveräne, dessen Handeln sich nicht ergründen lässt. Gott ist der ganz Andere, der sich menschlichem Zugriff entzieht. Der Unverfügbare lässt nicht über sich verfügen.
Im Gegensatz zu seinen Freunden hatte Hiob dagegen «recht von Gott geredet»8. Tatsächlich? Hiob hatte doch Gottes Plan angezweifelt. Er hatte von Dingen gesprochen, die er gar nicht verstehen konnte, weil sie für einen Menschen nicht zu ergründen sind! Trotzdem nannte Gott ihn jetzt schon fast zärtlich «mein Knecht»9. Mit dieser Ehrenbezeichnung wird Hiob in die Hall of Fame der biblischen Glaubenshelden aufgenommen, wo Mose10, David11 und Daniel12 ihren Platz haben.
Ein Mensch, der Gott sucht
Was hat Hiob anders gemacht als seine Freunde? Seine Freunde haben über Gott geredet wie über ein philosophisches Thema, Hiob hat mit Gott geredet wie mit einem Gegenüber. Hiob hat nie um Heilung gebeten, stattdessen hat er seine Rechtfertigung eingefordert. Das ganze lange Streitgespräch war nichts anders als ein Tribunal. Die drei Freunde klagen Hiob an, er habe gegen Gott gesündigt, und Hiob klagt Gott an, er tue ihm Unrecht. Hiob wünscht, ein «Schiedsmann» würde zwischen ihm und dem Allmächtigen Recht sprechen, weil Gott ihm sein Recht verweigert13. Hiob ist überzeugt, der Unparteiische würde ihm Recht und Gott Unrecht geben!
Die dicke Überraschung besteht darin, dass der Mann, der die Unverfrorenheit besitzt, Gott Uninformiertheit und Ungerechtigkeit vorzuwerfen, am Ende der Geschichte vom Allmächtigen selbst ausgezeichnet wird. Der Unterschied zu seinen Freunden besteht darin, dass Hiob Gott nicht erklärt, sondern gesucht hat. Sein ganzer seelischer Schmerz besteht darin, dass Gott sich von ihm abgewandt hat. So jedenfalls musste es Hiob erscheinen. Hiob wünscht sich nichts mehr als dass Gott ihm wieder sein uneingeschränktes Ja gibt. Deshalb betet er aus der Tiefe seines Herzens, klagt und hört nicht auf damit. Hiobs Unverfrorenheit ist ein Schrei nach dem lebendigen Gott. Wer so mit Gott ringt und an ihm hängt, der liebt ihn.
Hiob findet durch die Klage hindurch zur höchsten Form der Liebe, welche die Bibel kennt: Hiob liebt Gott um seiner selbst willen. Im Vergleich mit diesem herausragenden Akt des Vertrauens erscheint der Glaube der drei Freunde steril, kleinkariert und berechenbar. Hiob hat in seiner Klage Gott geliebt, so wie die Dichter der Klagepsalmen Gott liebten und suchten. Diese Suchbewegung findet Gottes Zustimmung, so dass Hiob am Schluss gerechtfertigt und wiederhergestellt wird14. Gott gibt Hiob seinen Besitz doppelt zurück. Seine Söhne und Töchter, die ihm nach dem grossen Unglück geboren werden, sind eine Quelle des Glücks. Wie sehr Hiob die Freude am Leben wiederfindet, drückt er in den Namen aus, die er seinen drei Töchtern gibt. Die erste nennt er Täubchen, die zweite Zimtblüte und die dritte Schminktöpfchen15.
Ein unverfügbarer Gott
Das skandalöse Gottesbild vom Anfang des Buches wird am Schluss nicht zurückgenommen. Gott rechtfertigt sein Handeln gegenüber Hiob nicht. Es gibt kein «Sorry, Hiob, ich musste unbedingt diese Wette gewinnen»! Dass der moderne Mensch Mühe mit diesem Gottesbild bekundet, ist nicht erstaunlich. Er erwartet, dass Gott dafür sorgt, dass es dem Menschen gut geht. Ein Gott, der über seine Geschöpfe verfügt, wie der Töpfer über den Ton16, ist für viele unannehmbar. Dieser Gott stellt Ansprüche, er ist unberechenbar, und er schränkt unsere Selbstbestimmung ein. All das passt nicht in das Weltbild des modernen Menschen.
Das Buch Hiob stellt uns die Frage, ob wir Gott das Verfügungsrecht über unser Leben zugestehen. Was geschieht mit unserem Glauben, wenn wir leiden? Was, wenn Gott uns allen Zeichen seiner Liebe enteignet, so als wären wir verlassen? Darf Gott uns formen, wie der Töpfer den Ton? Bei näherem Hinsehen erweist sich das sperrige Gottesbild des Buches Hiob als die beste Medizin gegen das Leiden. Gott das uneingeschränkte Verfügungsrecht über unser Leben zu gewähren, ist das einzige, das wirklich Trost und Halt gibt, wenn das Leben hart wird.
Dass Gott im Buch Hiob eine Wette eingeht, ist eine Erinnerung daran, dass sein Handeln unergründlich ist. Wir sind nicht das Zentrum des Universums, dieser Platz gehört dem allmächtigen Gott. Gott kann alles und Gott darf alles. Aber Gott würfelt nicht. Es gibt keine unvorhergesehenen Kapitel, weder in der Geschichte Hiobs noch in unserem Leben. Gott ist nie überrascht, es geschehen keine dummen Zufälle und Gott verliert nie die Kontrolle. Diesem Gott kann man vertrauen.
1 Hiob 2,1-7
2 Kapitel 3-37
3 Hiob 19,6
4 Hiob 10,2
5 Hiob 42,3
6 Hiob 42,7
7 2. Mose 23,7
8 Hiob 42,7
9 Hiob 42,7-9
10 5. Mose 34,5
11 1. Könige 14,8
12 Daniel 6,21
13 Hiob 9,33
14 Hiob 42,10-17
15 Hiob 42,12ff
16 Römer 9,21
Hinweis:
Dieser Artikel ist ein Auszug aus Roland Hardmeiers neuestem Buch, das am 1. Mai 2023 unter dem Titel «Du bist da in meinem Schmerz. Wie Gott in unserem Leiden wirkt» im Fontis Verlag Basel erscheinen wird (350 Seiten, CHF 26.90).
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