Praxis: Warten weitet den Blick

Warten – an der Kasse. Warten – auf einen Bescheid. Warten – beim Arzt. Was tun in erzwungener Wartezeit? Ein paar Textnachrichten auf Threema beantworten. Die NZZ lesen auf dem Smartphone. Mit dem Atemgebet «Du in mir – ich in Dir» versuchen, ganz in der Gegenwart zu sein. 

(Lesezeit: 5 Minuten)

(Bild: Pexels auf Pixabay)

So nehme ich meine Umgebung bewusster wahr. Die Menschen, die auch warten – auf den Arzt, auf einen Bescheid. Ich bete für sie: «Herr, erbarme Dich.» Aus der Wartezeit wird eine Zeit, die meinen Blick weitet.

 

Warte-Räume

Sie sind meistens nicht gewollt, nicht gesucht. Beim gemeinsamen Warten denke ich an die kommende Adventszeit. Zeit der Erwartung. «Sei stille dem Herrn und warte auf ihn1

Erwartung: Welch ein schönes, doppeldeutiges Wort. Ich warte auf etwas oder jemanden. Warten erfordert Geduld. Die Spannung des Noch-warten-Müssens aushalten, durchhalten, er-dulden: Darin steckt ein Stück Leiden. Aber auch: «Warten auf Gott ist eine gesegnete Zeit2Warten kann auch «pflegen» bedeuten. Eine Maschine kann nur gewartet werden, wenn sie nicht in Betrieb ist.

Ich erinnere mich an Texte zu verschiedenen Aspekten des Wartens, die ich jeweils während stillen Tagen aufhänge:

Niemand besitzt Gott so, dass er nicht mehr auf ihn warten müsste. Und doch kann niemand auf Gott warten, der nicht wüsste, dass Gott schon längst auf ihn gewartet hat3.

Der Mensch kann von Natur mehr empfangen als wirken, mehr nehmen als geben. Deshalb sollte er sich der Ruhe überlassen und sich frei machen und inwendig stille halten und auf das Wirken Gottes in seinem Innern warten4.

 

Wie warten wir auf Gott?

Wir warten mit Geduld. Geduld bedeutet aber nicht Passivität, Untätigsein.

Geduldiges Warten ist deshalb etwas anderes als das Warten auf den nächsten Bus, das Warten auf das Ende des Regens oder den Aufgang der Sonne.

Es ist ein tätiges Warten, bei dem wir den gegenwärtigen Augenblick in ganzer Fülle leben, um in ihm die Anzeichen dessen zu erkennen, auf den wir warten.

Wie das entsprechende lateinische Tätigkeitswort «patior» = «erleiden», leitet sich auch das deutsche Wort «Geduld» von «dulden», «erdulden», «ertragen» ab.

Geduldiges Warten bedeutet demnach: den gegenwärtigen Augenblick durchleiden, erdulden, seine Fülle erfahren und auskosten und den Samen, der in den Boden gesät ist, auf dem wir stehen, zu kräftigen Pflanzen heranwachsen zu lassen.

Geduldig warten bedeutet immer, auf das zu achten, was vor unseren Augen geschieht, und darin das erste Aufleuchten des Kommens Gottes in Herrlichkeit zu sehen5.

 

Warten ist eine Grundhaltung geistlichen Lebens

Das Warten eines Jüngers Jesu ist aber kein leeres, sinnloses Warten.

Es ist ein Warten mit einer Verheissung im Herzen, das uns stets vor Augen hält, worauf wir warten.

Im Advent erwarten wir die Geburt Jesu, während der vierzig Tage nach Ostern warten wir auf die Sendung des Heiligen Geistes, und nach der Himmelfahrt des Herrn erwarten wir sein Wiederkommen in Macht und Herrlichkeit. Immer warten wir, doch in der Überzeugung, dass wir Gottes Fussspuren schon gesehen haben.

Das Warten auf Gott ist ein tätiges, wachsames und frohes Warten. 

Indem wir warten, erinnern wir uns an den, auf den wir warten, und indem wir uns an ihn erinnern, stiften wir eine Gemeinschaft, die bereit ist, ihn zu empfangen, wenn er kommt6.

 

Ich werde erwartet

Und da gibt es den, der auf uns alle hier wartet! Der Prophet Jesaja schrieb: «Darum wartet der HERR darauf, euch gnädig zu sein, darum erhebt er sich, um sich eurer zu erbarmen7

Das Warten im ärztlichen Wartezimmer weitet meinen Blick, indem es mir erneut die Sehnsucht Gottes in Erinnerung ruft: Diese Sehnsucht, allen Menschen – ausnahmslos – seine Zuwendung, ja in Jesus Christus sein Leben zu schenken. «Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen8

Das geschieht nicht einfach so, es braucht Wartesituationen. Es braucht Menschen, die warten und Menschen, die davon erzählen, was zu erwarten sein wird. So ein Mensch will ich sein, nicht nur, aber ganz besonders in dieser Adventszeit. Denn es gibt nicht nur das Warten auf Gott, es gibt auch das Warten Gottes auf uns Menschen. «Darum wartet der HERR darauf, euch gnädig zu sein, darum erhebt er such, um sich eurer zu erbarmen9Ich werde erwartet.

Übrigens: Diesen Text schrieb ich, wartend auf die Grippeimpfung.

 

1 Psalm 37,7

2 Edith Stein

3 Dietrich Bonhoeffer

4 Johannes Tauler

5 Henri Nouwen in: «Leben im hier und jetzt»

6 dito

7 Jesaja 30,18

8 Johannes 3,16

9 Jesaja 30,18

Schreiben Sie einen Kommentar

Kommentare

Hans Zaugg schreibt
am 1. Dezember 2023
Liebe Ruth Maria, herzlichen Dank für den feinen Artikel, der gut in meine Lebenssituation, aber auch in die Adventszeit passt. Deine Worte tun gut und öffnen mir die Augen, um über den Tellerrand meiner kleinen Welt hinaus zu blicken.
Frohe Grüsse Hans Zaugg