Theater: «Johanna» nach Schiller

«Volltreffer zum Jahresende» überschrieb die Hamburger Morgenpost in ihrer gewohnt boulevardhaften Art die Kritik zur Premiere von «Johanna» am Schauspielhaus der Hansestadt. Gezeigt wurde vor einem Jahr im sogenannten Malersaal, der Studiobühne dieses legendären Theaters, eine Inszenierung von Leonie Böhm als Versuch über das klassische Grossdrama «Die Jungfrau von Orléans». 

(Lesezeit: 6 Minuten)

27 Personen treten in Schillers «romantischer Tragödie» auf: Ritter, Herzöge, Offiziere, der König von Frankreich und der Erzbischof von Reims. It’s a man’s world, in der sich Johanna mit ihrer übermenschlichen Mission zu behaupten hat.

Bei Böhm sind die Männer gestrichen, übrig bleibt Johanna. Es ist eine Johanna, die sich nicht auf den Schlachtfeldern des zu Ende gehenden Hundertjährigen Krieges bewegt, sondern Unterschlupf gefunden hat in einer Art Märchenwald, als ob sie sich ausruhen müsste von der Kakophonie der Interpretationen ihrer Geschichte, ihrer realen Geschichte und ihrer fiktionalen Geschichte. Der realen, die Johanna zuerst zur Heldin werden liess, dann auf den Scheiterhaufen brachte, und sie schliesslich vor hundert Jahren zur Heiligen machte; und der schillerschen Erzählung, die von politisch progressiven Kräften ebenso benutzt wurde wie von konservativen.

Szene aus «Johanna» (Bild: Sinje Hasheider)

Unterschiedliche Ansichten

Auf Jeanne d’Arc beriefen sich während des zweiten Weltkriegs sowohl das nationalsozialistisch beherrschte Vichy-Regime, wie auch der französische Widerstand. Schillers Stück wird gelesen als weibliche Selbstermächtigung oder aber als frommes Beispiel der absoluten Hingabe.

Diese divergierenden Ansichten sind kein Zufall. Schillers «Johanna» ist eine Vorbotin der Romantik. Das Zweifelnde und Widersprüchliche, das Unsagbare und Unerklärbare ist dem Text eingeschrieben. Und so steht in Hamburg dann auch keine eindeutige Johanna auf der Bühne, es sind drei. Begleitet von der Musikerin Fritzi Ernst werden sie gespielt von Wiebke Mollenhauer, Maja Beckmann und Josefine Israel; sie gehören zweifellos zu den zur Zeit gefragtesten Darstellerinnen im deutschsprachigen Theater. Ein Volltreffer zum Jahresende.

Eine wundersame Inszenierung

Doch gerade diese kriegerische Metapher des Volltreffers passt so gar nicht zu dem, was auf der Bühne zu sehen ist. Bis auf einen ebenso komisch-absurden wie verstörenden Ausbruch von Retter(innen)-Wahn als Versuch, der atemlosen Pathos-Geste von Schiller auf die Schliche zu kommen, ist der Abend ein vorsichtig suchendes, hochmusikalisches, berührendes, intelligentes Nachdenken über das Sich-Zurechtfinden in einer Welt, die sehr wohl auf Rettung angewiesen wäre. Aber wie soll sie gerettet werden? Und müssen die Menschen, die sie retten wollen, nicht zuerst vor sich selbst gerettet werden, vor der eigenen Überhebung?

Das Wunder dieser «Johanna»-Inszenierung ist, dass diese zurückhaltende, verspielte Art mit diesem monströsen Stoff umzugehen, nicht nur auf der kleinen Studiobühne des Hamburger Schauspielhauses funktioniert, sondern auch auf der Hauptbühne des vollbesetzten Schauspielhauses Zürich1. Da, wo man immer wieder versucht hat und wohl weiter versuchen wird, mit klaren und möglichst genialischen Setzungen der Theaterklassiker Herr zu werden, mit einem überraschenden Zugriff wie man sagt – so, wie das französische Heer unter der Führung Johannas Zugriff auf das englische bekommt.

 

Konflikte kombiniert mit der Ästhetik des Theaters

Das Produktionsteam um Leonie Böhm will der «Johanna» nicht Herr werden, im Gegenteil, es stellt genau solche Mechanismen in Frage. Sowohl in der Art und Weise des Spiels als auch durch die Einbettung des Schillertextes in improvisierende und kommentierende Passagen, arbeiten die Menschen hinter «Johanna» eine Metaebene in die Aufführung ein, welche zum einen die Frage nach dem Umgang mit Konflikten stellt, zum andern aber auch die Frage nach der Ästhetik der Kunstform Theater. Und es gelingt dem Abend darüber hinaus, nicht nur Fragen zu stellen, sondern auch eine Gegenrealität zu erschaffen. Eine, die geprägt ist von Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme, vom empathischen Nachfragen statt Behaupten, von Solidarität statt Eigennutz. Die Utopie eines verantwortlichen Zusammenlebens findet in den Johanna-Aufführungen einen Ort, an dem man als Zuschauer oder Zuschauerin gern verweilt, von dem man sich gerne anstecken lässt.

Dass dies ohne gefühligen Kitsch und ohne falsches Pathos gelingt, aber dafür mit grosser heiterer Ernsthaftigkeit, ist die hohe Kunst dieser Arbeit. Wie schrieb die Morgenpost? Ein Volltreffer.

 

1 Die Inszenierung ist eine Koproduktion zwischen den Schauspielhäusern von Hamburg und Zürich, am 16. Dezember ist sie in Zürich zum vorerst letzten Mal zu sehen.

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