Mit dem Wahlzettel politisieren

«In (Frei-)Kirchen ist jede und jeder willkommen», sagte kürzlich ein Zürcher Politiker und Parteikollege, und «alle werden freundlich aufgenommen: Straftäter, Alkoholiker, queere Menschen, Drogensüchtige und Verbrecher; doch Politiker – dafür gibt es bei ihnen keinen Platz.» Er hatte eben einen aufwändigen Wahlkampf hinter sich und war mehr als irritiert, wie wenig sich engagierte und bekennende Christen auf politische Themen einlassen oder Gleichgesinnte zu wählen bereit sind. Ist Polit-Abstinenz nicht ein Eigengoal?

(Lesezeit: 7 Minuten)

Das machte mich hellhörig, was heisst das konkret? Mit meinen insgesamt 29 Behördenjahren, wovon auch 8 Jahre im kantonalen Parlament, gab mir das zu denken. Wie war das jeweils bei früheren Wahlkampagnen und auch dieses Jahr, wo ich zahlreiche Kolleginnen und Kollegen unterstützte? Flyers verteilen in oder vor der Kirche war kaum je  erwünscht und eine Wahlempfehlung und persönliche Vorstellung von Kandidierenden in der Gemeinde scheint vielerorts überhaupt nicht Brauch zu sein.  

Gleichzeitig hörte ich dieses Mal von vielen Stimmberechtigten, wie schwierig es war, sich ein Bild zu machen. Die unglaublich vielen Wahlzettel haben verwirrt. Oft wurde gesagt: «Ich kenne die Leute nicht, also gehe ich lieber nicht wählen.» Oder: «Die machen ja doch, was sie wollen!»

Wer sind denn «die»? Es sind gewählte Politikerinnen und Politiker. Oftmals solche, die ich nie gewählt hätte und die auch in keiner Weise meine Anliegen vertreten. Sie wurden gewählt, weil andere Kandidatinnen und Kandidaten nicht genug  Stimmen erhielten. Den Wahlzettel nicht einzuwerfen ist ein Eigengoal. Damit öffne ich Tür und Tor für die Lauten, für Polterer und für Politiker, die sich – vielleicht nicht einmal bewusst – einer Welle von Fremdenfeindlichkeit, Menschenverachtung und Geldgier verschrieben haben und Werte wie Nächstenliebe, Respekt und Menschenwürde entweder nicht kennen oder sie nach dem Wahlsonntag wieder im Schrank versorgen.

(Bild: Tumisu auf Pixabay)

Das demokratische (Wahl-)Recht nutzen

An Standaktionen der Evangelischen Volkspartei (EVP) erlebe ich oft wunderbare Begegnungen. Das macht den Wahlkampf ja so spannend. Neben Prospekten und einem Glas Most wird zuweilen auch ein aktuelles Thema diskutiert, es werden Fragen gestellt zu den Positionen, zum Wahlsystem, oder es wird gefragt, was denn eigentlich «evangelisch» heisse und was ich darunter verstehe.

Das regt beidseits zur Auseinandersetzung an und ist oft auch eine Ermutigung. Doch was sollen wir anfangen mit der Aussage «Ich gehe nicht wählen, denn ich bin Christ, und ich bete für die Politik?» So sehr ich auch dankbar bin über alle, die für eine ethisch vertretbare Politik beten und für Politikerinnen und Politiker, die unsere Geschicke mutig, ehrlich und verantwortungsvoll bestimmen, so sehr stimmt mich diese Aussage auch traurig.

Warum machen oft auch Christen von ihrem demokratischen Recht nicht Gebrauch? Mit «Smartvote» können alle herausfinden, welche Kandidatin oder welcher Kandidat ihrer eigenen Position am nächsten ist, ihre Werte teilen und denen sie deshalb vertrauen können. Es gibt auch tiefgläubige Christen in der Politik, Menschen, die guten Willens sind, die Geschäfte differenziert betrachten, sich am «E» orientieren und das Gemeinwohl über den Eigennutz stellen. Sie brauchen unsere Unterstützung. Und wenn es mehr davon in den Exekutiven und Parlamenten gäbe, würde das auch in politischen Entscheidungen greifbar, davon bin ich überzeugt.

 

Die Mehrheit bestimmt

Ich erinnere mich an eine Begegnung in der S-Bahn: Auf dem Heimweg nach einer intensiven Kantonsrats- und anschliessenden Fraktionssitzung kam ein Passagier vom gegenüberliegenden Abteil mit erhobenen Händen auf mich zu und schrie mich an: «Frau Müller, was haben Sie heute wieder beschlossen!» Die Nebentöne dieses Gesprächs möchte ich nicht wiederholen.

Ich versuchte, ruhig zu bleiben und fragte ihn, um welches Thema – von 157 Traktanden (!) – es ihm denn gehe. Und konnte ihm dann erklären, dass ich, zusammen mit meinen Fraktionskollegen, genau in seinem Sinne votiert und für das Anliegen gekämpft hatte. Doch wir hatten in der Abstimmung verloren – die Mehrheit im Rat bestimmt das Resultat.

Dass dies auch mich gewurmt hatte, sagte ich ihm ganz offen. Doch das ist unsere Demokratie. Die Politik verändern können wir nur über den Wahlzettel. Es liegt an jedem Stimmbürger und an jeder Stimmbürgerin, die «richtigen» Menschen in die hohen Ämter zu wählen, diejenigen nämlich, die ihre Werte teilen.

 

Politik ist die öffentliche Dimension der Liebe

Ist Politik wirklich ein «Drecksgeschäft», wie da und dort zu hören ist? Geschichten wie der Niedergang der CS oder das Swissair-Grounding mögen dieser Einschätzung vielleicht Vorschub leisten. Doch Politik heisst einfach, dass Menschen versuchen, das öffentliche Leben in Gemeinde, Kanton und Bund nach ihren Vorstellungen und Interessen zu gestalten. Die Interessen sind unterschiedlich und die Vorstellungen darüber, was gut und was Böse, was richtig und falsch ist, ebenfalls. Da ist das Wertesystem entscheidend, an dem wir Politikerinnen und Politiker uns orientieren. Das macht den Unterschied.  

Wenn zum Beispiel Hilfswerke in ihren Projektgebieten auf verheerende Missstände stossen, die durch Schweizer Konzerne mitverursacht worden sind und die eine sinnvolle Aufbauarbeit zunichte machen, ist es folgerichtig, dass sie sich an der Konzernverantwortungsinitiative beteiligen. Auch das ist Politik. Da kann es doch nicht sein, dass genau dieses Engagement durch die Kirche gerügt und verboten wird. Dass die Werte des Hilfswerkes der Evangelischen Kirchen (HEKS) nicht immer mit den Werten der grossen Konzerne übereinstimmen, liegt auf der Hand.

 

Gemeinschaft über die Parteigrenzen hinweg

Da waren die früheren überparteilichen Polittagungen in Rasa – dem «VBG-Dorf» im Centovalli – echt wertvoll. Ich nahm daran während meiner Kantonsratszeit mit Genuss teil. Die gemeinsame Auseinandersetzung und Vertiefung in politische Grundthemen, verbunden mit enger Gemeinschaft, erlebte ich als inspirierende Auszeit, aus der ich stets «genährt», gestärkt und ermutigt heimkehrte.

Noch heute erinnere ich mich an das Fazit der ersten Tagung: Die drei Grundversuchungen Macht, Besitz und Beliebtheit sind (auch) in der Politik eine stete Herausforderung. Da tut es unendlich gut, sich an klaren Werten zu orientieren und diese auch ins politische Handeln einfliessen zu lassen. Der Umgang mit den Schwachen der Gesellschaft, mit Armut, Gerechtigkeit, Menschenwürde in jedem Lebensalter und auch das Bewusstsein, dass Umwelt und Klima etwas mit der Bewahrung der Schöpfung zu tun haben, fordern uns heraus. Das prophetische Motto «Tue das Beste für die Stadt» ist dabei ein guter Leitspruch. 

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