Wie gefährlich sind die Evangelikalen?

Kürzlich zeigte SRF Sternstunde Religion eine Dokumentation mit dem Thema «Evangelikale – mit Gott an die Macht?» Die Sendung wurde von Arte France produziert. Sie zeichnet ein recht präzises Bild der Evangelikalen in den USA und weltweit. Allerdings gibt es einige Lücken und Zuspitzungen, die zu einem einseitigen Bild führen können. Trotzdem sollte die geäusserte Kritik an gewissen evangelikalen Ausprägungen ernst genommen werden.

(Lesezeit: 20 Minuten)

«Eine Lösung Ihres Problems? Die Last soll abfallen? Sie wollen sich nicht mehr ärgern, nicht länger grübeln? Sie wollen inneren Frieden? Wollen Sie das? Wirklich? Das geht. Sofort. Lassen Sie Christus in Ihr Herz!»

So wird der junge Billy Graham im Teaser des SRF-Dokumentarfilms zitiert1. Die hier mitschwingende Kritik: Hier wird das Evangelium auf eine Werbebotschaft reduziert, verbunden mit einem manipulativen Ruf zu einer raschen Entscheidung. 

(Bild: Dadion Gomez auf Pixabay)

Der Evangelikalismus – eine Gegenbewegung zum religiösen Abbruch

Die Dokumentation erinnert an die Tatsache, dass der christliche Glaube aller Konfessionen weltweit an Bedeutung verliert. Mit Ausnahme der Evangelikalen. Heute bezeichnen sich laut dem Film 660 Millionen als evangelikal, und damit jeder zwölfte Bewohner unserer Welt. Dahinter stehe ein spiritueller Kampf mit dem Ziel, die Menschheit zu retten und gleichzeitig die moralischen Werte der Bibel zu verteidigen.

Robert Jeffress, Pastor der First Baptist Church Dallas, und damit der Heimatkirche von Billy Graham, wird wie folgt zitiert: «Unser Glaube muss die Kultur an die Wirklichkeit des Glaubens anpassen. Die Kultur, die Menschen, die Zivilisation ändern sich. Aber Gottes Wort ändert sich nicht.»

Die Aussage wird musikalisch und bildlich mit einem Ausschnitt aus einem Worship-Gottesdienst untermalt. Die dortige Leiterin fordert ihre Leute auf: «Erhebt eure Hände und jubelt.» Und dann, eingeleitet mit einem Schrei: «Hey, das ist der Klang des Sieges. Hey. Los. Der Sieg kommt.» Im Kommentar dazu heisst es: «Die Radikalen unter ihnen fordern eine Gesellschaft, in der alle sozialen, kulturellen und politischen Regeln der absoluten Wahrheit der Bibel unterworfen werden.»

Und das scheint zu funktionieren. 2016 hätten 81% der weissen Evangelikalen Donald Trump gewählt. Ihre Vertreter seien ins Weisse Haus eingezogen und hätten Trump durch die ganze Amtszeit begleitet. Dem entsprechend wird ein Gebet für Trump gezeigt, das an einem biblischen Zitat anknüpft. Das wird im Film aber nicht transparent gemacht und könnte deshalb auch auf den Präsidenten übertragen werden: «Du wirst sie nicht vergessen und Heilung bringen. Wir danken dir für Jesu Liebe und beten, dass deine Kirche diese Liebe ausstrahlt, für immer.» 

Zwei Jahre später sei in Australien ein evangelikaler Christ an die Macht gekommen und im selben Jahr Jair Bolsonaro zum Präsidenten gewählt worden. Es gebe einen langsamen Wandel des Christentums, bei dem die Karten neu gemischt werden, meint ein Fachmann dazu. Nach dem zweiten Weltkrieg habe die Bewegung alle fünf Kontinente erobert.

 

Vier Grundprinzipien

Die Dokumentation nennt vier Grundprinzipien der Evangelikalen: die individuelle Bekehrung, die Unfehlbarkeit der Bibel – des alten und neuen Testamentes –, den Sühnetod Jesu und den missionarischen Eifer.

Der Historiker Darren Dochuk begründet den missionarischen Eifer mit folgender Überzeugung: «Das Opfer Jesu am Kreuz hat allen Menschen die Erlösung gebracht ... als Gegenleistung für dieses Opfer haben die Evangelikalen die Pflicht, das Evangelium zu verkünden, also zu missionieren.» Dieses Missionieren wird in der Dokumentation verbunden mit Bildern eines Heilungsgottesdienstes in Afrika, geleitet von Ladonna Osborn, der Tochter des bekannten Evangelisten. Da wird Heilung verkündet und zelebriert, Krücken werden in die Höhe gestreckt, verbunden mit der Botschaft: «Auch die Kranken sind willkommen, denn Jesus heilt ... Unsere Botschaft ist wahr und nicht nur eine weitere Religion. Die Wunder sind der Beweis.»

 

Unterschiedliche Ausprägungen

Die Wurzeln der Evangelikalen werden in den beiden Reformatoren Martin Luther und Jean Calvin gesehen, die sich aufgrund ihres Bibelstudiums «der allmächtigen katholischen Kirche» widersetzt haben. Daraus sei dann eine Fülle von Gruppen wie Täufer, Baptisten und Puritaner entstanden, die sich in ganz Europa verbreitet haben. Diese Gruppen seien aber verfolgt worden. Dabei wird auf die Religionskriege in Europa verwiesen.

Roger Williams wird genannt, der nach Amerika ausgewandert und dort die erste baptistische Kirche gegründet habe, «später eine der einflussreichsten Konfessionen in den USA». Wichtig sei seinen Leuten die Religionsfreiheit und der Respekt gegenüber den Ureinwohnern gewesen, aber auch die Gewissensfreiheit und die Trennung von Kirche und Staat.

Die Puritaner hätten diese Trennung als Garant der Gewissensfreiheit aber abgelehnt. Im Mayflower-Vertrag sei das Leben in der neu gegründeten Kolonie detailliert geregelt und die USA als das gelobte Land gepriesen worden. Hier wolle man sich nun auf die Wiederkunft Christi vorbereiten. Der Soziologe Philippe Gonzalez von der Uni Lausanne verdeutlicht dies so: «Nur die Puritaner waren gute Bürger, der Baptist Roger Williams hatte kein Wahlrecht, weil er kein guter Christ war.»

Neben der Idee der religiösen Toleranz und Freiheit sei so eine ultrakonservative Ausprägung entstanden, die versucht habe, dem Pluralismus in der Gesellschaft entgegenzuwirken. Während im 18./19. Jahrhundert drei Erweckungsbewegungen einen sozialen Evangelikalismus hervorgebracht hätten, sei die Moderne des frühen 20. Jahrhunderts als Bedrohung der christlichen Werte und der wissenschaftliche Fortschritt – insbesondere mit der Evolutionstheorie – als Ketzerei gesehen worden. So sei der protestantische Fundamentalismus entstanden, verbunden mit einer Abschottung in «evangelikalen Enklaven», insbesondere im Süden der USA.

Den Angriff auf Pearl Harbor am 7.12.41 hätten die Fundamentalisten dann als Zeichen empfunden, die Stimme zu erheben und die Nation vor den Auswüchsen des Liberalismus und Materialismus zu retten. Mit der Gründung der National Association of Evangelicals sei dann «der moderne Evangelikalismus» geboren worden.

 

Billy Graham als Wortführer der Evangelikalen

Nun sei der Versuch gestartet worden, aus dem Ghetto auszubrechen. Bei der Suche nach einem Wortführer, der die fundamentalistische Theologie unverkrampft vertreten und ihre moralischen Werte national umsetzen, dabei die nationalen Institutionen ins Boot holen und so die amerikanische Gesellschaft erobern konnte, sei Billy Graham gerade richtig gekommen.

Der junge, charismatische und gutaussehende Evangelist schlug laut dem Historiker Darren Dochuk einen neuen Ton an: «Als Evangelikale müssen wir optimistischer sein und die Gesellschaft verändern.» Er sei in der Folge über ein halbes Jahrhundert hinweg zum wichtigsten evangelikalen Vertreter geworden, nicht in Kirchen, sondern in Zelten und Sportstadien. Sein Sohn Franklin unterstreicht, dass es für seinen Vater am wichtigsten gewesen sei, «dass Jesus als unser Erlöser von den Sünden» gepredigt werde. Und der Historiker Randale Balmer betont die Wichtigkeit der Aufrufe Grahams am Schluss der Evangelisationen, nach vorne zu kommen «als Zeichen der Selbstverpflichtung, wiedergeborene Christen zu sein». Mit seiner individualistischen Theologie sei der Evangelikalismus sehr anziehend gewesen.

In der Folge kam es erstmals zu Massenevangelisationen, sogenannten «Kreuzzügen». London war die erste Station in Europa. In drei Monaten lauschten seinen Predigten zwei Millionen Briten. Billy Graham wurde zum Medienstar. Die Evangelikalen «hatten ihren Papst». Er wurde zum Inbegriff des neuen Amerika – mit weisser Bilderbuchfamilie sowie wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Erfolg.

Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges entstanden zwei Blöcke – die freie westliche Welt und der Ostblock. Die Kreuzzüge Grahams seien nun politischer geworden. Graham habe im Kalten Krieg nun auch für die Werte der freien Welt gekämpft. Er baute sich dafür ein Medienimperium auf: die Radiosendung «Stunde der Entscheidung», die wöchentlich von 20 Millionen Amerikanern gehört wurde, eine Spendenorganisation, die christliche Zeitschrift Christianity Today und das Filmstudio World Wide Pictures.

Philippe Gonzalez erwähnt, dass dieser «spirituelle Krieg» vor allem durch Ölmagnaten finanziert worden sei. Tatsächlich zeigt einer der ersten Billy-Graham-Filme einen skrupellosen Ölmagnaten, der sich zum Glauben bekehrt. Viele dieser reichen Leute hätten es nun als ihre Aufgabe angesehen, mit ihrem Geld christliche Einrichtungen zu unterstützen und so den Staaten der Dritten Welt zu einer besseren Wirtschafts- und Sozialordnung zu verhelfen, die im Einklang mit der christlichen Demokratie stand. Billy Graham kämpfte also quasi mit Ölgeld für einen ethischen Kapitalismus.

Und er wurde zum spirituellen Berater mehrerer amerikanischer Präsidenten. Laut Gonzalez ermutigte er Dwight D. Eisenhower, Präsident zu werden, sich taufen zu lassen und auf die Dollarnoten «In God we trust» drucken zu lassen.

Darren Dochuk stellt fest, dass Grahams Wirken zur Einheit von Protestanten, Katholiken und Juden geführt habe. Graham gründete dementsprechend das nationale Gebetsfrühstück unter dem Motto «Amerika als eine Nation unter Gott».

 

Der Kampf gegen die Rassentrennung

Billy Graham sprach sich als einer der ersten geistlichen Führer gegen die Rassentrennung aus. Seine Enkelin Jerushah Duford berichtet, dass ihr Grossvater bei einer Veranstaltung einen Ordner bat, die Seile zu entfernen, die Schwarz und Weiss trennen sollten. Das sei gegen die Vorschriften, habe der Ordner geantwortet. Darauf habe Billy die Seile eigenhändig entfernt: Er wolle nicht vor einem getrennten Publikum auftreten. Viele weisse Kirchen hätten sich deshalb von Graham distanziert, meint der Kommentator dazu.

 

Es sei eine enge Freundschaft mit Martin Luther King entstanden. Als es aber später zu Unruhen kam und Luther King festgenommen wurde, habe Graham dazu geschwiegen. Die Frage wird aufgeworfen, was geschehen wäre, wenn Graham am Marsch auf Washington mit der berühmten Rede Kings «I have a dream» teilgenommen hätte. Als Martin Luther King am 4.4.68 ermordet wurde, sei Graham geschockt gewesen und habe kommentiert, dass die amerikanische Gesellschaft krank sei.

Mit seiner Halbherzigkeit habe Billy Graham eine historische Chance verpasst, heisst es im Dokumentarfilm. Bei den Protesten gegen den Vietnamkrieg habe er einmal mehr die republikanische Partei und zudem die Wahl seines Freundes Richard Nixon unterstützt. Als dieser dann über die Watergate-Affäre stolperte, sei Graham tief erschüttert gewesen. Er habe sich als Freund und Ratgeber verraten gefühlt und sich in der Folge aus der Innenpolitik zurückgezogen. In der Folge habe er als Botschafter gewirkt, der das erschütterte Image der USA wieder aufpolieren wollte.

Seine Reise nach Südkorea im Juni 1973 sei zu seinem grössten Triumpf geworden. Nach dem grausamen Krieg zwischen Nord- und Südkorea sei Gott als einzige Hoffnung übriggeblieben. Viele junge Leute seien zum Glauben gekommen, die zersplitterte Kirche habe sich zum Evangelisieren zusammengetan. In fünf Tagen habe Graham in Korea 3 Millionen Menschen erreicht, an der letzten Veranstaltung 1,1 Millionen. Darauf seien in Südkorea erste Mega-Churches entstanden, die später auch in den USA und in Afrika beliebt wurden. Die Christen wurden so zur grössten Glaubensgruppe in Südkorea.

 

Kongress für Weltevangelisation

Billy Graham rief 1974 in Lausanne den ersten Kongress für Weltevangelisation ins Leben. 2700 evangelikale Führungskräfte aus 150 Ländern aller Kontinente kamen zusammen. Während die Referenten aus dem globalen Süden die soziale Frage betonten, hätten andere die Säkularisierung, die Gefahren des Kommunismus und den Verlust christlicher Werte kritisiert. 

Der Apologet und christliche Vordenker Francis Schaeffer habe einen Vortrag von historischer Tragweite gehalten: Christi Herrschaft gelte für sämtliche Lebensbereiche, während diese Generation glaube, dass alles relativ sei und es keine absolute Wahrheit gebe. An diesem Kongress setzten sich laut dem Dokumentarfilm die Fundamentalisten und Konservativen durch. Das vorrangige Ziel war, die Welt zu evangelisieren und die christlich-jüdische Zivilisation zu retten.

50 Jahre nach der Verabschiedung sei die Lausanner Verpflichtung immer noch die wichtigste Referenz für viele evangelikale Gruppierungen. Darunter auch für die Heimatkirche von Billy Graham, die First Baptist Church von Dallas. Einer ihrer Leiter, Jim Wicker, sagt: «Als Evangelikale verstehen wir die Bibel wörtlich, nicht im übertragenen Sinn. Wir glauben an die buchstäbliche Wiederkunft Christi, die uns bevorsteht.» Im Film wird diese Haltung als Gegensatz zur Auslegung im historisch-kritischen Sinn gesehen, welche im protestantischen Fundamentalismus abgelehnt werde.

François Clavairoly vom französisch-evangelischen Kirchenbund betont, der Bezug zu den biblischen Texten sei unabdingbar. Die Frage sei aber, in welchen historischen Kontext man sie einordne. Wer die Bibel ohne historischen Kontext zitiere, riskiere, «dass die Bibel für etwas Anderes instrumentalisiert wird».

Shane Claiborne, Prediger und Mitbegründer der Red Letter Christians, formuliert sein Bibelverständnis als oberste Lebens- und Glaubensgrundlage so: «Jesus ist das Brennglas, durch das wir die Bibel und die Welt verstehen, das Wort wird buchstäblich Fleisch. Wenn wir wissen wollen, wer Gott ist, blicken wir auf Jesus, er gibt uns etwas, das greifbar ist.» Und ergänzt später: «In einer schlechten Theologie benutzen die Menschen Bibelverse, um Jesus zu interpretieren statt die Bibel durch die Linse Jesus zu interpretieren.»

Laut dem Dokumentarfilm eint der Kampf für das Leben die Evangelikalen überall auf der Welt. Man sei für Familienwerte, gegen die Abtreibung und die Sterbehilfe und die gleichgeschlechtliche Ehe. Der Evangelikalismus sei nicht nur zahlenmässig, sondern auch finanziell eine Erfolgsgeschichte. Die Yoido Full Gospel Church in Soeul steht dort, wo Billy Graham erstmals in Korea gepredigt hat. Sie sei eine der reichsten und mächtigsten Megakirchen der Welt. Sie umfasst 12'000 Plätze, sonntags finden sieben Gottesdienste statt, die in 16 Sprachen übertragen werden. Heute gebe es 2000 Megakirchen weltweit, 1750 in den USA, davon 38 in Houston. 2010-2020 sei die Zahl der Evangelikalen weltweit um 30% gestiegen, während die Weltbevölkerung nur um 12% gewachsen sei. Vor allem in Afrika wachse heute die evangelikale Bewegung. In Nigeria gebe es 25 Megakirchen. Der Leiter der grössten, der Redeemed Christian Church, habe ein Privatvermögen von 150 Mio US-Dollar.  

Shane Claiborne erinnert in diesem Zusammenhang an einen der ersten Christen, der gesagt habe: «Das Evangelium, das wir umsonst empfangen haben, darf nie verkauft werden ... Wir haben das Evangelium verkauft, manchmal sogar eine gefälschte Botschaft, um noch mehr zu verdienen.»

Und Philippe Gonzalez bringt Mike Pence – bis vor Kurzem Kandidat der Republikaner für die Präsidentschaftswahlen von 2024 – anhand seines Besuches bei Viktor Orban in einen direkten Zusammenhang mit der europäischen Rechten. Orban vertrete die These einer Bedrohung der jüdisch-christlichen Zivilisation und die Theorie vom «grossen Austausch» und kopple so die christliche Religion mit einem identitären Kampf. Der Historiker und Christ Randall Balmer zeigt sich am Schluss des Dokumentarfilmes entsetzt über solche Positionen, bleibt aber zuversichtlich: «Wenn Jesus Lazarus vom Tod auferwecken kann, dann kann er auch den Evangelikalismus retten.»

 

Was ist von diesem Dokumentarfilm zu halten?

Der Film skizziert in einer erstaunlichen Breite den Aufstieg der evangelikalen Bewegung und verschweigt dabei nicht die Schattenseiten und Einseitigkeiten der Evangelikalen. Er lässt dabei auch kritische Stimmen zu, teilweise sogar aus evangelikalen Kreisen. So den Friedensaktivisten Shane Claiborne, der in der Tradition des linksevangelikalen Vordenkers Jim Wallis steht.

Im Unterton wird der Evangelikalismus aber als Bedrohung dargestellt. Es gibt aber nicht nur die Rechts-Evangelikalen, sondern auch einen starken linken Flügel, der sich genauso berechtigt auf die Bibel berufen kann. Verschwiegen wird auch die Weiterentwicklung der Lausanner Bewegung, die 1989 auch soziale Anliegen aufgenommen hat und sich nicht mit dem Evangelisieren begnügen will2.

Hanspeter Nüesch, ehemaliger Leiter von Campus für Christus, kennt Graham persönlich. Er hat eine Biografie über ihn und seine Frau geschrieben3. Aus seiner Sicht muss das im Film gezeichnete Bild in einigen Punkten korrigiert und ergänzt werden.

So bei der Beziehung zu Martin Luther King: «Billy Graham schätzte Martin Luther King, den er Mike nannte, sehr. Umgekehrt war King sehr dankbar, dass Graham sich immer massiv gegen die Rassentrennung engagierte und nur integrierte Evangelisationen durchführte. King meinte einmal: «Ohne den Dienst meines guten Freundes, Dr. Billy Graham, wäre meine Arbeit in der Civil Rights Movement nicht so erfolgreich gewesen.» Sie hatten miteinander vereinbart, dass King die Strassenmärsche und Bus-Boykotte anführte und Graham ein starkes Zeichen durch die integrierten Evangelisationen setzte. An der Evangelisation 1957 in New York hat Billy Graham einmal bewusst das Podium mit Martin Luther King geteilt.»

Auch in der Links-rechts Problematik korrigiert Nüesch: «Billy Graham hat in der Regel für die Demokraten gestimmt, ausser wenn es um Lebensrechtsfragen wie Abtreibung ging. Jegliche Bigotterie war ihm zutiefst zuwider. Er wie auch seine Frau Ruth setzten sich auch privat für Menschen in Not ein oder für Menschen, die in den Augen der Umwelt «gefallen waren» wie der Fernsehprediger Jim Bakker. Selber bezog Graham nur den üblichen Lohn eines Pastors einer grossen Gemeinde und wohnte in einem geräumigen, aber einfachen Blockhaus, wie ich es selber bei meinen drei Besuchen bei ihm zuhause feststellte.» 

Vertrat er eine manipulative Werbebotschaft, ausgerichtet auf eine rasche Entscheidung? Das sieht Hanspeter Nüesch anders. Generell findet er den Beitrag aber differenziert und recht wohlwollend. «Billy Graham selber war sich seiner Fehler sehr bewusst, etwa, dass er Amerika zuweilen mit dem Reich Gottes verwechselt hat. Und er wollte, dass ich diese Kritik bewusst in meinem Buch über die Grahams belasse, weil man aus Fehlern oft am meisten lerne.»  

 

Wann wird der Evangelikalismus gefährlich?

Dann, wenn er sich von dem entfernt, was ihm den Namen gibt ­– vom Evangelium. Er tut dies, wenn er sich unbesehen mit den Mächtigen verbindet – notfalls auch mit pseudochristlichen Kräften wie Donald Trump – und die prophetische Botschaft der Bibel – etwa in sozialen Fragen – aus den Augen verliert, um an der Macht zu bleiben. Dann, wenn er die im Sinne von Francis Schaeffer umfassende Botschaft der Bibel auf wenige Schlagworte verkürzt. Dann, wenn er sich nationalistisch versteht: Jesus ist derselbe weltweit. Er hält sich nicht an nationale Grenzen. Und schliesslich dann, wenn er anderen manipulativ aufgezwungen wird. Die Botschaft Christi ist nur dann eine Herzenssache, wenn sie auf einer persönlichen Willensentscheidung beruht. Hat das nicht schon Billy Graham so gesagt?

Wenn der Evangelikalismus aber tatsächlich, wie im Film erwähnt, den Staaten der Dritten Welt zu einer besseren Wirtschafts- und Sozialordnung verhelfen kann, die im Einklang mit der christlichen Demokratie4 steht und zu einem ethischen Kapitalismus führt, hätte ich gerne mehr davon. Nicht nur im Weltsüden – sondern weltweit, auch bei uns!

 

1 https://www.srf.ch/play/tv/sternstunde-religion/video/evangelikale---mit-gott-an-die-macht?urn=urn:srf:video:952896ba-aa7c-402f-95df-903c72e7b796&showUrn=urn%3Asrf%3Ashow%3Atv%3A952896ba-aa7c-402f-95df-903c72e7b796;(verfügbar bis 21.12.23)

2 https://lausannerbewegung.de/das-manifest-von-manila/

3 Hanspeter Nüesch: «Ruth und Billy Graham. Das Vermächtnis eines Ehepaars.» Holzgerlingen, SCM Hänssler, 2013, ISBN 978-3-7751-5503-8; zum Sonderpreis von CHF 20.– erhältlich beim Autor: hpnuesch7@gmail.com

4 Der Zusammenhang zwischen der christlichen Botschaft und der Demokratie ist u.a. Thema meine jüngsten Buches «Wenn die Bevölkerung das Dorf entdeckt» (ISBN 978-3-85570-158-2)

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