«Rechts oder links?» – Ist diese Frage heute überhaupt noch angebracht? 

Kaum vergeht ein Tag, an dem uns nicht die Begriffe «rechts» oder «links» begegnen! Ich meine nicht die im Alltagsverkehr gängigen, als Orientierungshilfen unverzichtbaren Richtungsbegriffe «rechts, links, geradeaus». Ich denke vielmehr an die parlamentarische Rechts-Links-Sitzordnung in unseren nationalen Parlamenten. Ich möchte diese Sitzordnung anlässlich der aktuellen Wahlen mal ganz grundsätzlich in Frage stellen.

(Lesezeit: 9 Minuten)

Während der französischen Revolution wurden die räumlichen Angaben «Rechts» und «Links» politisch aufgeladen zu einem Ordnungssystem, das in den revolutionären Umwälzungen ab 1791 Übersicht versprach. Die feudalistisch-monarchische Ständeordnung wurde aufgehoben und die neue Nationalversammlung platzierte die konservativen Aristokraten bzw. Monarchisten rechts, die fortschrittlich-revolutionären Patrioten links.

Seitdem gilt diese Sitzordnung als Einordnungsprinzip für alle Parteien im demokratischen Parlamentarismus. Sie wird in der politischen Debatte bis heute sichtbar, obwohl die Grenzlinien zwischen «links» und «rechts» programmatisch längst nicht mehr eindeutig sind. Es mehren sich die Stimmen, welche die Kategorien «rechts und/oder links» für anachronistisch halten. Sie hinterfragen diese Zuweisungen im Zusammenhang mit Parteien und Initiativen. Ich teile diesen Argwohn und reagiere besonders sensibel, wenn diese Etikettierung auch im christlichen Umfeld immer wieder unkritisch verwendet wird. Wenn also Einzelne oder Gruppen als «linksevangelikal» oder «rechts» tituliert werden, nur weil sie sozial und ökologisch agieren oder sich für traditionelle Werte einsetzen.

Bundesparlament in Bern (Bild: Marcel Kessler auf Pixabay)

Gäbe es nicht auch ein Politisieren jenseits von «links» und «rechts»?

Diese Frage stellte Jim Wallis 1995 in seinem Buch «Die Seele der Politik»1: Die alten Schubladen der herrschenden politischen Ideologien von progressiv und konservativ, links und rechts seien gleichermassen unfähig, die gegenwärtige Krise klar zu benennen, schrieb Jim Wallis. Die Politik sei fast völlig handlungsunfähig. Vertreten nicht Konservative und Progressive gemeinsam im Kern die grossen moralischen, sozialen und humanen Werte jüdisch-christlicher Tradition? War nicht das Auseinanderdividieren dieser Werte die Quelle für die daraus entstandenen, bis heute andauernden Polarisierungen und Grabenkämpfe?

Dass sich im 19. Jahrhundert die sozialpolitisch-progressiven Kräfte mit dem atheistischen Materialismus und Humanismus verbündeten, ist auch dem Umstand zuzuschreiben, dass die meisten Christen und Kirchen den absurden Scheingegensatz von «sozialer Politik» und «Evangelium» jahrzehntelang kultiviert hatten. Das zu verhindern, ist den wenigen Persönlichkeiten der diakonisch ausgerichteten «Inneren Mission» (Johann Hinrich Wichern, gest. 1881) und der religiös-sozialen Bewegung (Christoph Blumhardt, gest. 1919, Hermann Kutter, gest. 1931, Leonhard Ragaz, gest. 1945) damals leider nicht gelungen.  

So prägt das Rechts-Links-Schema unser politisches und gesellschaftliches Bewusstsein als unverrückbares Ordnungsraster bis heute. Trotzdem scheint es auszufransen.  

 

Verwirrende Parteienlandschaft

Das zeigt gerade das aktuelle Taktieren der Parteien mit Unterlisten und Listenverbindungen für die laufenden Nationalratswahlen. Wer da mit wem, wie und warum zusammenspannt – da kann man nur staunen! Mutmassungen, Kopfschütteln und kritische Häme melden sich, denn das entspricht gar nicht unserem Bedürfnis nach verlässlichen Koordinaten. Ja was denn nun? Mal rechts, mal links abbiegen? Mal geradeaus auf der Mittellinie, mal exklusiv auf der äusseren Kante jonglieren?

Diese Verwirrung in der Parteienlandschaft ist kein helvetischer Sonderfall, sondern ein europäisch-transatlantisches Phänomen. Es spiegelt einen Epochenwandel wider, der mit der Wende 1989 begonnen hat. Das 21. Jahrhundert generiert eine neue, noch ungewohnte Gemengelage. Aktuell wird von den BRICS-Staaten – Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika mit ihrer angestrebten Erweiterung eine plurale Weltordnung ins Auge gefasst. Sie entzieht sich dem Rechts-Links-Raster und will einen Gegenentwurf zum Feindbild eines «dekadenten Westens» aufbauen. Die bisherigen ideologischen Kategorien konservativ-traditionell-national und progressiv-multikulturell-global bröckeln.

Eine ideologisierte Politik wie bisher verhindert schon länger gemeinsame Strategien zur Bewältigung der Multikrisen und zur Deeskalation internationaler Konflikte – Ausnahmen bestätigen die Regel. Und wenn narzisstische Autokraten, selbstgefällige Oligarchen und egomanische Machtmenschen diese Ideologien nur noch propagandistisch nutzen, um ihre Nation – nein, sich selbst – gross zu machen, beginnt die Welt zu taumeln.

 

Umfassende Herausforderungen

In welche Richtung es bei uns in nächster Zeit gehen wird, hängt nicht nur vom kommenden Wahlergebnis ab. Die aktuellen Problemfelder «lassen sich nicht mehr so einfach auf der alten politischen Koordinatenachse zwischen rechts und links» verorten2. Denn wir sind nicht mehr nur ökonomisch, sondern auch kulturell, sozialethisch, normativ, existenziell und neuerdings digital und medial herausgefordert. Diese in sich dynamische interagierende Vielfalt sprengt jede monokausale Erklärung. Ideologisch einseitig konservatives oder progressives Politisieren muss jetzt dringend offenlegen, welche Interessen da noch wirkmächtig mitspielen.

Besonders bedenklich ist es zu sehen, wie sich aktuell eine Intoleranz ausgerechnet bei denen zuspitzt, die für sich selber Toleranz einfordern. Politikerinnen und Parlamentarier, Wissenschaftler und Journalistinnen beklagen, wie seit der Pandemie eine teilweise gehässige Polarisierung und aggressiver werdende Verdächtigungskultur zugenommen hat. Feindbilder, politisches Misstrauen, Verurteilen und Ausgrenzungen schmerzen und reissen Gräben auf3.

 

Der christliche Glaube verlangt nach einer Gesamtschau

Christlicher Glaube steht in unserer direkten Demokratie permanent in politischer Entscheidung. Umso mehr ist er jetzt gefordert, alte Polarisierungen und ideologische Gegensätze aufzubrechen und durch eine Gesamtschau zu überwinden, die wir beispielhaft bei den Propheten des Alten Testamentes finden: Es geht nicht um Macht, Profit und «gross sein wollen», sondern um den Dienst umfassender Mitmenschlichkeit.

Christlicher Glaube analysiert die nationale, internationale und globale Wirklichkeit kritisch und merkt dann schnell, dass das herkömmliche «Rechts-Links-Schema» perspektivlos wirkt. Dieses Schema entspricht nicht den biblischen Kriterien für eine Politik des Friedens, der Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung. Was könnte eine Politik bewegen, die sich in letzter Verbindlichkeit an Jesu Botschaft, Gesinnung und Verhalten orientiert?

Natürlich ist es enorm schwierig, Nächstenliebe von Klasse zu Klasse, Partei zu Partei, Rasse zu Rasse, Religion zu Religion und Nation zu Nation politisch umzusetzen. Aber jeder noch so gering erscheinende Versuch liesse uns eine politische Kultur «jenseits von rechts und links» entdecken, einen «dritten Weg», eine «neue Mitte», ein neues Verhalten, eine Freiheit von ideologischer Befangenheit.

 

Brücken bauen

Ja, es gab und gibt sie, die Politiker und Politikerinnen, die jenseits ihrer Parteizugehörigkeit als Brückenbauer agieren und ihre Sachkompetenz und politische Überzeugung mit offener Dialogbereitschaft verbinden. Ihr argumentatives Ringen im Gespräch mit anderen ermöglicht es, einander zu verstehen und zu respektieren. Jede anständige und seriöse politische Kommunikation ohne Gehässigkeit schafft eine Atmosphäre, in der mein politischer Gegner kein Feind ist, sondern mein Mitmensch bleibt! Gesprächsverweigerungen sind für eine Demokratie gefährlich, sie verhindern eine lösungsorientierte Sachpolitik und fördern eine subtile Machtpolitik!

Die Sprachformel «Rechts/Links» lässt sich noch nicht aus der Welt schaffen. Aber wer dieses Schubladen-Denken aus seinem politischen Alltagsgeschäft verbannt, hebt seine politische Arbeit auf ein anderes – höheres – Niveau. Und das hat heilsame Folgen!

 

1 Jim Wallis, Die Seele der Politik. Eine Vision zur spirituellen Erneuerung der Gesellschaft. München 1995. S. 50-69

2 Robert Habeck, Von hier an anders. Köln 2021. S. 68. Habeck ringt ab Seite 240 um eine Politik der Gemeinschaft in auszuhaltender Differenz jenseits herkömmlichen Lagerdenkens.

3 Edgar Schuler, Die Schweiz ist im internationalen Vergleich stark polarisiert. Tages Anzeiger, 9.8.2023

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