Literatur: Madeleine Delbrêl – Mystikerin, Macherin, Pionierin und Poetin 

Unsere Autorin vergleicht Madeleine Delbrêl mit dem Poeten Blaise Pascal. Wie für ihn war auch für sie der Glaube eine Erleuchtung, die das Leben auf den Kopf stellte. Sie verband mitten unter den Ärmsten der Gesellschaft radikal Kontemplation mit Aktion.

(Lesezeit: 12 Minuten)

Die Erzählung über die Begegnung von Madeleine Delbrêl mit Gott erinnert ein wenig an den Schwung und die Kraft des Bekehrungserlebnisses ihres Landsmannes, dem Philosophen und Mathematiker Blaise Pascal viele Jahrhunderte zuvor. Wie in seinem Hauptwerk «Mémorial»1 verläuft ihre Umkehr sehr persönlich, sehr direkt und sehr emotional. Wie über ihn bricht etwas über sie herein, das gross und einzigartig ist. Sie verbucht diese Erfahrung als ein «überwältigendes Glück, das nicht mehr zur Debatte steht». Ein Zettel in ihrem Gebetsbuch, der das Datum ihrer Bekehrung am 29. März 1924 markiert, belegt, dass sie, «vom Dunkel ins Licht gerissen wurde». 

Madeleine Delbrêl (Bild: siehe Anmerkung 2)

Alles auf eine Karte setzen

Dass das passieren konnte, ist keinesfalls selbstverständlich. Sie wächst in einem konsequent antiklerikalen Milieu auf, in dem sie zunächst die Aussage prägt: «Ich bin ganz sicher, es gibt keinen Gott.» Doch diese Sicherheit gerät ins Wanken. Sie will intellektuell aufrichtig sein und nicht so tun, als ob sie ganz genau wisse, dass es ihn nicht gibt. Sozusagen «auf Verdacht hin» wird sie bei Teresa von Avila ermutigt zu beten. Sie erfährt, dass da am anderen Ende jemand ist. Sie lässt sich auf ihr Gegenüber ein und vertraut fortan radikal auf das «unerhörte Glück des Evangeliums von Jesus Christus», so dass sie am Ende ihrer Suche sagen kann: «Ich will das, was du willst, ohne mich zu fragen, ob ich es kann. Ohne mich zu fragen, ob ich es will.»  Sie setzt alles auf eine Karte. Ihr Leben nimmt nun einen neuen Kurs.

 

Bei den Menschen sein

Madeleine Delbrêl kommt in im Südwesten Frankreichs 1904 zur Welt. Als sie 10 Jahre alt ist, bricht der erste Weltkrieg aus. Sie bekennt sich zum Atheismus und äussert mit 15 Jahren: «Die Welt scheint täglich absurder.» Mit 16 studiert sie Kunst, Geschichte und Philosophie an der Universität Sorbonne, schreibt Gedichte und erhält einen bedeutenden Literaturpreis. Eine weitere Aussage, die ihren Weg als 17-Jährige markiert, lautet: «Gott ist tot – es lebe der Tod. Gott war von Dauer. Jetzt ist der Tod der einzige, der dauert.»

Mit 19 verlobt sie sich mit ihrem Freund. Dieser löst die Verlobung kurz danach auf, weil er in den Dominikanerorden eintritt. Die Folge sind eine Krise und Erkrankung. Doch die Gespräche mit ihrem ehemaligen Verlobten und jungen Dominikanern wirken nach. Sie lässt sich in Frage stellen und begegnet Gott. Nach dieser Begegnung überlegt sie zunächst, in den Karmeliterorden einzutreten, wird aber von ihrem erblindeten Vater gebraucht. Sie widmet sich seiner Pflege, aber auch ihren künstlerischen Fähigkeiten und der Entwicklung ihrer Spiritualität. Sie, die sich im Paris der 20-iger Jahre im Grossstadtgetümmel wohlfühlt, schnelle Autos, Schmuck und laute Musik liebt, geht den Weg nach innen. Sie beginnt zu fragen und zu hören, was Gott mit ihrem Leben anfangen will.

Sie will «bei den Menschen sein». Und so beginnt sie 1931 eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin. Sie lebt 30 Jahre lang im Arbeiterviertel Ivry in der Pariser Banlieue. Von der Gleichgültigkeit und Härte der Arbeitgebenden ist sie genauso entsetzt wie von der Ablehnung des Christentums bei den Arbeitern. 1933 gründet sie eine kleine Gemeinschaft mit zwei anderen jungen Frauen, Suzanne Lacloche und Helene Manuel. Sie bauen eine Sozialstation auf, in der alleineinerziehende Mütter, Arbeitslose, streikende Arbeiter oder Widerstandskämpfer Gehör und Hilfe finden. 1938 schliessen sich Kommunisten und Christen gegen die Nationalsozialisten zusammen. Delbrêls Nähe zu Kommunisten handelt ihr Ärger mit der Kirche ein, wiewohl sie sich von einem Atheismus marxistischer Prägung klar distanziert. Sie sagt dazu lapidar: «Es hat sich ergeben, dass die Kommunisten meine Nächsten sind. Sie sind meine Nächsten geworden, ich hatte keine Wahl.»

Unter der Naziherrschaft wird ihr die Leitung der Sozialdienste der ganzen Region anvertraut. 1943 wird die Arbeiterpriesterbewegung «Mission de France» gegründet, der sie verbunden ist. Wegen ihrer Nähe zu den Menschen und ihren Nöten zieht die Bewegung Ordensleute und Laien gleichermassen an. Die skeptisch bleibende römisch-katholische Kirche verbietet diese 1953. Dieser Entscheid «zerreisst» sie.

Zunehmend wird sie zu Vorträgen eingeladen. Sie soll das zweite Vatikanische Konzil vorbereiten. Nach dem Krieg schliesst sich Delbrêl einer Gemeinschaft von 15 Frauen an. Diese leben in Ivry, Paris und Longwy in Zweier- und Dreiergruppen.

Delbrêl reist nach Polen, Afrika, Conakry und lässt sich vom Leid dort bewegen. Am 13. Oktober, im Alter von 59 Jahren, stirbt sie an einem Schlaganfall. Der Bürgermeister von Ivry, ein überzeugter Kommunist, sagt bei ihrer Beerdigung: «Ich glaube auch jetzt nicht an Gott, aber wenn es ihn gibt, trägt er die Züge von Madeleine.»

 

Das Leben im Arbeiterviertel – eine Schule des Glaubens

Christen müssen sich selbst erstmal bekehren – weg von Klischees und Vorstellungen, die mit Mission verbunden sind –, so ihre Rede. Mission sei nicht weggehen, sondern hingehen, denn Christen seien Fleischgewordene: für die Stadt, für das scheinbar Profane, Banale. Exemplarisch dafür ist ihre Beschreibung der Stimmung eines Pariser Cafés, in dem Gott wohnt: « … dieses Stückchen Erde, das dir den Rücken zu kehren schien.» – «Wir anderen, wir Leute von der Strasse, glauben aus aller Kraft, dass diese Strasse, diese Welt, auf die Gott uns gesetzt hat, für uns der Ort unserer Heiligkeit ist. Wir glauben, dass uns hier nichts Nötiges fehlt, wenn das Nötige fehlt, hätte es uns Gott schon gegeben.»

Mit diesem Verständnis kann sie sich um die ganz praktischen Nöte der Arbeiter kümmern. Das Leben im Arbeiterviertel wird für sie zur Schule des angewandten Glaubens. Denn Mission sei immer mit der Hingabe der eigenen Person verbunden. «Wir können ihn nur weitergeben, wenn wir uns selbst geben.» 

 

Fünf Inspirationen von Madeleine Delbrêl

  • Sich hingeben. Bei ganz viel Lebensfreude

In «Der Ball des Gehorsams», einem ihrer schönsten Gedichte, kommt zum Ausdruck, wie Fröhlichkeit Leitmotiv ihres Glaubens ist. Darin klingt auch an, dass die Abenteuerin an der Kleinkariertheit und Enge ihrer Glaubensgenossen litt.

«… Denn ich glaube, du hast von den Leuten genug. Die ständig davon reden, dir zu dienen – mit der Miene von Feldwebeln dich zu kennen – mit dem Gehabe von Professoren. Zu dir zu gelangen nach den Regeln des Sports. Und dich zu lieben, wie man sich in einem alten Haushalt liebt. Eines Tages, als du ein wenig Lust auf etwas anderes hattest. Hast du den Heiligen Franz erfunden. Und aus ihm deinen Gaukler gemacht. An uns ist es, uns von dir erfinden zu lassen. Um fröhliche Leute zu sein, die ihr Leben mit dir tanzen.»  

  • Agil und bereit zum Aufbruch sein

«Wir sind zu jedem Aufbruch bereit», bekennt sie und ermutigt andere: «Brecht auf ohne Landkarte – und wisst, dass Gott unterwegs zu finden ist und nicht erst am Ziel.»

Christus müsse im heutigen Tempo mitgehen, um mitten unter den Menschen zu bleiben. Annette Schleinzer, ausgewiesene Kennerin von Delbrêl, schreibt dazu: «Madeleines ganzes Wesen war Bewegung und es gab nicht die geringste Spur einer vorgefassten Meinung in ihr. Sie war überzeugt davon, dass der grösste Feind der Ewigkeit die Dauer ist, der Wunsch, etwas dauern zu lassen.»

Die Beweglichkeit wird auch in der Gemeinschaft der drei Frauen sichtbar. Sie wollen einen klösterlichen Tagesrhythmus entwickeln, merken aber, dass das nicht geht, denn jede hat ihre eigene Arbeit ausserhalb. Dennoch definieren sie Kontemplation ideenreich so, dass sie bewusst täglich Unterbrechungen einbauen, «Tiefenbohrungen» machen, in den Garten gehen, ständiges Sitzen durch Laufen unterbrechen oder umgekehrt. Diese Haltung kommt in folgendem Text gut zum Ausdruck:

«Lehre uns, jeden Tag die Umstände unseres Menschseins anzuziehen wie ein Ballkleid. Gib, dass wir unser Dasein leben. Nicht wie ein Schachspiel, bei dem alles berechnet ist. Nicht wie einen Lehrsatz, bei dem wir uns den Kopf zerbrechen. Sondern wie ein Fest ohne Ende.»

  • Verstanden werden

Das Abenteuer des Glaubens spielt laut Delbrêl in einer Zeit, in der es kaum Wegmarken gibt, aber Gottes Heiliger Geist voller Phantasie ist. Die Wortkünstlerin und Schriftstellerin setzt diese ein, um das Christentum immer wieder neu verständlich zu machen. In der Begegnung mit den Arbeitern erfährt sie: «Religiöse Vokabeln sind für sie deshalb Chinesisch. Sie sind ihnen unverständlich und werden nicht mehr eine Hilfe zur Lebensdeutung.»

  • Fremde aushalten und einsam  sein

Vor lauter Sorge, dem Zeitgeist zu verfallen, so Delbrêls Kritik, lasse man sich nicht auf die Wirklichkeit ein. Man lasse dann die Menschen allein. Sie sagt: «Es ist unsere Berufung, den Menschen dieser Welt als Blutsbrüder und Schicksalsgefährten verbunden zu sein.» Gleichwohl kennt sie die Spannung gut, mitten in der Fremdheit der Welt für das Reich Gottes zu arbeiten. Die Gleichgültigkeit ihrer Umgebung trifft sie hart.

Als Christin ist sie oft einsam in der Kirche. Aber sie kann zwischen den Stühlen sitzen und trotzdem dort bleiben. Sie entscheidet sich für die Ehelosigkeit und ist bereit, diese ohne Gelübde zu leben. Sie beschreibt sie nüchtern als «Amputation», ermutigt aber dazu, freiwillig Ja dazu zu sagen. Das ist Teil ihrer Hingabe und Konsequenz ihrer Liebe zu Gott.

  • Das Heilige im Profanen

Psychologen würden ihr vermutlich ein «paradoxical mindset» oder eine hohe Ambiguitätstoleranz zuweisen. Sie versöhnt, was andere trennen: Aktion und Kontemplation, Mystik und Machen, Poesie und Provokation. In der Banalität ist Gott. In der Langeweile offenbart sich das Geheimnis. Hier geschieht der Akt der Erlösung.

Sogar im lauten Stadtleben ist Kontemplation. Auch hier überrascht die Poetin mit folgender Erkenntnis:

«Warum sollte der Lerchengesang im Kornfeld, das nächtliche Knistern der Insekten, das Summen der Bienen im Thymian unser Schweigen nähren können und nicht auch die Schritte der Menschenmenge auf den Strassen, die Stimmen der Marktfrauen, die Rufe der Männer bei der Arbeit, das Lachen der Kinder im Park, die Lieder, die aus der Bar dröhnen?»

 

1 Er schreibt über seine Erkenntnis in Mémorial zum «Jahr der Gnade 1654»: «Montag, den 23. November, Tag des heiligen Klemens, Papst und Märtyrer, und anderer im Martyrologium. Vorabend des Tages des heiligen Chrysogonos, Märtyrer, und anderer. Seit ungefähr abends zehneinhalb bis ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht. Feuer. Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten. Gewissheit, Empfinden: Freude, Friede. Der Gott Jesu Christi. Dein Gott ist mein Gott. Vergessen der Welt und aller, nur Gottes nicht. Er ist allein auf den Wegen zu finden, die das Evangelium lehrt. Grösse der menschlichen Seele. Gerechter Vater, die Welt kennt dich nicht; ich aber kenne dich.» 

2 https://www.feinschwarz.net 

 

Quellen:

Annette Schleinzer, Madeleine Delbrêl, Prophetin einer Kirche im Aufbruch

Annette Schleinzer, Die Liebe ist unsere einzige Aufgabe – das Lebenszeugnis von Madeleine Delbrêl

Annette Schleinzer, Feinschwarz net: Gott einen sicheren Ort sichern

Ökumenisches Heiligenlexikon: Magdalena Delbrêl  

Ulrike Gebhardt, Riffreporter, Rhythmus und Lebenskunst mit Madeleine Delbrêl

Burkhard Reynards, Deutschlandfunk: «Das Leben wie einen Tanz leben»

Gotthard Fuchs, Herder Verlag, Geistesleben. Madeleine Delbrêl. In der Armut eines banalen Lebens

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