Kirche: Die Nähe zum Staat

Die reformierten Kirchen geniessen eine öffentlich rechtliche Anerkennung. Was heisst das fürs Ganze der Beziehung zwischen Kirche und Staat? Mit ihrer Staatsnähe könnten sie jedenfalls selbstkritischer und kreativer umgehen.

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«Der Staat formt die Kirche», sagte der Berner Synodalrat Iwan Schulthess, als er im vergangenen Oktober die Gesprächssynode seiner Kirche zur «Ehe für alle» eröffnete. Nüchtern konstatieren, was ist, das zeichnet den Realisten aus. Pfr. Iwan Schulthess bezog sich auf den politischen Prozess, der zur Neudefinition der Ehe im Zivilrecht geführt hat. Die Frage drängt sich indes auf, wie sich Staatsnähe zeigt und wozu sie insgesamt führt. Das Feld ist weit; hier seien einige Aspekte genannt. 

(Bild: Michael Siebert auf Pixabay)

Die Schweizer Reformation: von Räten beschlossen

Der enge Bezug der Schweizer Reformierten zum Staat geht auf das Zürich der 1520er Jahre zurück: Zwingli liess den Rat über die Reformation entscheiden; mit dessen Beschlüssen brach sich die evangelische Bewegung Bahn. Die Räte von Zürich, Bern und anderen Orten führten fortan das Kirchenregiment.

Seit dem 19. Jahrhundert sind die reformierten Kirchen keine eigentlichen Staatskirchen mehr. In der neuen Form wurden sie allerdings von Politikern nach ihrem Gusto eingerichtet: als «Staatskirchen der freisinnigen Demokratie»1. Die meisten geniessen weiterhin den öffentlich-rechtlichen Status mit Steuereinzug durch den Staat.

 

Bekenntnisfrei und beliebig

Anders als die römisch-katholischen haben die reformierten Kantonalkirchen keine duale2 Struktur. Und das Bekenntnis – seit der Reformation massgebend für die Kirchen – wurde nach 1860 als verbindliche Mitte ihres Selbstverständnisses abgeschafft.

Heute wird verstärkt spürbar: Etwas fehlt. Entkerntes wird hohl – und brüchig? Um dies zu überspielen, kultivieren Reformierte einen Pluralismus. Fast alles hat Platz. Halt in der Beliebigkeit geben noch die kantonalen Kirchenstrukturen. Und vor Ort ermöglicht die Gemeindeautonomie biblisch inspirierte geistliche Arbeit und Aufbrüche.

 

Was der Staat braucht

Der Rechtsstaat braucht zum Erhalt des Gemeinsinns eigenständige Gegenüber3. Der Kirche wurde die werte- und (gemein)sinnstiftende Funktion traditionell zugeschrieben. Doch wenn der Staat die Kirche formt, wie Iwan Schulthess geäussert hat, und sie sich weiter säkularisiert, sich ihrem säkularen Umfeld anpasst, wie kann sie diese Funktion noch erfüllen? Staatsnahe Kirche steht zunehmend in Spannung zur religiösen Gleichgültigkeit der Bevölkerungsmehrheit, zum Unglauben und der säkularen Prägung der Konfessionslosen.

Es ist fast müssig zu erwähnen: Staatsnahe Kirchen sind Teil des Establishments. Viele ihrer gutbezahlten Vertreter geben sich links-progressiv. Dies stösst Bürgerliche und Wertkonservative zunehmend ab. Vor allem wenn dezidierte Positionsbezüge in der Tagespolitik nicht über den säkularen Horizont hinausweisen.

 

Synodale Leitung: gut, aber …

Die reformierten Kirchen werden kantonal und national von Synoden und Kirchenräten geleitet. Das ist im Grunde gut, denn das Erkennen von Gottes Willen bedarf der Beratung4. Aber: auch wenn es um ethische Fragen und Glaubenswahrheiten geht, werden synodale Entscheide nach politischem Vorbild durch das Ausmehren von Anträgen gefällt. Das numerische Mehr mag noch so knapp ausfallen – es gilt!

 

Theologie ist an einem kleinen Ort, wenn Forderungen wie Klimaschutz an die Kirche herangetragen werden; das habe ich eben als Zürcher Synodaler erlebt5. Staatlich anerkannte Kirchen-Exekutiven stehen in der Versuchung zu handeln, ohne theologisch zu überzeugen, Einwände und Widerstand zu übergehen und Widerborstige einzuschüchtern. Auch so schreitet die Selbstsäkularisierung der Kirche voran.

 

Marginalisiert

Pietisten, die am überlieferten Glaubensgut festhalten – Wunder der Bibel, Jesus als Gottessohn, Versöhnung durch seinen Kreuzestod, Jesu Auferstehung und Wiederkunft – werden da und dort an den Rand gedrängt, zum Schaden der Kirche. Umso mehr freue ich mich über jede christliche Gemeinde, in welcher der Glaube strahlkräftig gelebt wird, über jeden gehaltvollen Gottesdienst – und ich empfehle allen, solche Gemeinden zu besuchen.

Unübersehbar ist heute, dass die Reformierten – bei allen Möglichkeiten, die sie durch ihre Staatsnähe haben – den Grossteil der Jugendlichen verlieren. Warum eigentlich?6 Der Anteil der Paare, die kirchlich heiraten und ihre Kinder taufen lassen, sank vor Corona und sackte in der Pandemie ab. Von Volkskirche bleibt da wenig. Sind wir nüchtern genug, um den Stand der Dinge zu sehen? Die Unkenntnis von Bibel und Tradition ist mitterweile erschreckend.

 

Was bleibt von der gesamtgesellschaftlichen Relevanz?

Gewiss lassen sich manche Vorzüge der Verwobenheit mit dem Gemeinwesen nennen, etwa die Spital- und Heimseelsorge. Die Zürcher Landeskirche hat den hohen Wert ihrer «Tätigkeiten mit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung» wissenschaftlich erheben lassen7. Viele tausend Freiwillige sind am Werk und erneut stark gefragt. Doch aus den Volksschulen haben sich die Kirchen hinausdrängen lassen; sie stimmten einer säkular definierten Religionskunde zu.

Arg viele Chancen bleiben ungenutzt. Neue Formen kirchlicher Gemeinschaft, «fresh expressions», gibt es kaum. Immer noch ist die Kirchenmitgliedschaft fast überall an den Wohnort gebunden. Wie viele Kirchgemeinden führen anhaltend Kurse durch, um dem Verlust der Bibel zu wehren? Wo sucht man die feine Stimme des Heiligen Geistes zu hören, was es auch kosten mag?

 

Nach 500 Jahren ein bisschen weiser?

Das Reformations-Jubiläum bot und bietet8 die Chance, die Folgen der vor 500 Jahren begründeten Staatsnähe der Reformierten – welche die Täuferverfolgung einschloss – selbstkritisch zu bedenken. Und dies bitte nicht oberflächlich. Gelingt es uns, von Illusionen, die sich mit dem alten Bild einer «Volkskirche» verbinden, Abschied zu nehmen?

Die Pandemie hat auch den leistungsfähigsten Staaten Grenzen aufgezeigt. Mit dem Ukrainekrieg sind gehätschelte Denkgewohnheiten und Illusionen innert Stunden zerbrochen. Hoffnung zu stiften, das würde Kirchen mit einer robusten Eschatologie9 gelingen, welche die Worte Jesu für heute ernstnehmen. Es gilt, den Schatz des Evangeliums ständig neu zu entdecken. Und vor Ort die Gemeinschaft mit Christus auf alle Weisen zu fördern. 

 

1 Richard Bäumlin

2 staatskirchenrechtlich und bischöflich

3 vgl. die Aussage von E.-W. Böckenförde: https://tinyurl.com/3db97ptv

4 Sprüche 11,14; Apostelgeschichte 15

5 https://evangelisch-zuerich.ch/fuer-eine-gruene-kirche/

6 Manche Freikirchen machen’s besser, vgl. Jörg Stolz et al., Phänomen Freikirchen: https://tinyurl.com/45zzymra

7 https://tinyurl.com/bdhsnj3u 

8 in Zürich bis 2025, in anderen Kantonalkirchen in folgenden Jahren

9 Lehre von den letzten Dingen

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