Psychologie: Welche Gottesbilder fördern die Versöhnung?

Als Psychotherapeut frage ich in Therapieverläufen oft, inwieweit sich das Gottesbild während des Therapieprozesses verändert habe. Es geht mir darum, die psychologische Bedeutung vom Wie und Was der Spiritualität von religiös sozialisierten Klientinnen und Klienten zu eröffnen, ohne missionarisch zu werden. Oft stellt sich heraus, dass sich im Gottesbild viel verändert hat, selbst wenn nicht explizit darüber gesprochen wurde. 

(Lesezeit: 13 Minuten)

Im Folgenden fasse ich aus psychotherapeutischer Sicht in zehn Thesen zusammen, welche Gottesbilder Kompetenzen fördern, die für Vergebungs- und Versöhnungsprozesse wichtig sind.

(Bild: Jeff Jacobs auf Pixabay)

1) Jedes Gottesbild, selbst ein «schräges», drückt Erlebtes und Erfahrungen aus und macht insofern Sinn.

Jedes Jahrhundert hat seine Gottesbilder entwickelt. Im Mittelalter etwa durfte Jesus nicht lachen und schön aussehen. Und in der Barockzeit wurde Jesus zum holden Knabe im lockigen Haar.

Josef1 erzählt mir von einem Gott, der ihm immer wieder mit einem Hammer auf den Kopf schlägt, sobald es ihm «zu gut» geht. Prägenden Einfluss auf ihn hat unter anderen Erlebnissen das Folgende ausgelöst: Als ältester von vier Söhnen gaben ihm die Eltern die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass seine Brüder keine Dummheiten anstellten. Falls doch, wurde er mit Schlägen bestraft. Josef war mit der Verantwortung für seine Brüder überfordert. Er konnte den Erwartungen seiner Eltern nicht gerecht werden.

Daraus können wir Folgendes ableiten: Implizite, nicht ausdrücklich gesagte Botschaften prägen das Gottesbild stärker als explizite. Nonverbale Botschaften sind deutlich nachhaltiger als verbale.

 

2) Eine dynamische Wechselbeziehung zwischen einem fluidem Gottesbild und einem fluiden Selbstbild fördert bei intrinsisch motivierter Religiosität Versöhnungskompetenzen.

Einfacher ausgedrückt meint die zweite These Folgendes: Eine Spiritualität, die mit dem eigenen Herzen verbunden ist, entwickelt das Gottesbild immer weiter entsprechend der Veränderungen des Selbstbildes. Manchmal vereint das Gottesbild genau das Gegenteil der schmerzhaften Erfahrungen in der Familie oder mit anderen wichtigen Bezugspersonen aus der Kindheit. Die Grundfrage lautet dabei: Inwieweit ist das eigene Gottesbild fluide und wachstumsförderlich oder festgefahren und einengend? Entwickelt sich das eigene Gottesbild immer weiter oder stagniert es?

Erzählt mir eine Klientin oder ein Klient von vielen Schwierigkeiten und sehr schmerzhaften Beziehungserfahrungen aus der eigenen Biografie, frage ich oft, was der Person geholfen habe, trotzdem den eigenen Weg zu finden. Nicht selten erhalte ich die Antwort, Gott und die Gemeinde seien ein wichtiger Halt gewesen, weil sie sich hier öffnen konnten, sich angenommen gefühlt hätten und sich selbst sein durften. Dabei wurde das genährt, was ihnen im familiären Kontext verwehrt war. Gott wurde zu einem wichtigen Bezugspunkt der Weiterentfaltung.

 

3) Gott ist an mehr interessiert als nur an meinem Handeln. Er ist offen für all mein Erleben.

Ein Willensentscheid zur Vergebung bzw. zur Versöhnung kann ein hilfreicher Ausgangspunkt sein, ist aber noch nicht ausreichend dafür. Die empirische Forschung bekräftigt zwar die Wichtigkeit eines bewussten Entscheides. Es ist aber weiter zu fragen, wann ein bewusster Entscheid trägt und wann nicht. Wann ist es reif, einander Vergebung zuzusprechen, wann nicht?

Wenn ich weiss, dass Gott offen ist für all mein Erleben, darf ich auch den Schmerz und die Verletzung ausdrücken. Gott gibt mir Zeit zu warten, bis der Willensentscheid zur Versöhnung reif ist. Der Ausdruck des Schmerzes und das Benennen der psychischen Folgen sind Voraussetzung, dass ich mir bewusst werde, was ich zu vergeben habe. Nur so ist eine tiefgreifende Vergebung und Versöhnung möglich. Jemand kann sich für einen Vergebungsprozess entscheiden, selbst wenn er oder sie noch nicht vergeben kann. Wenn das vor Gott so sein darf, dann kann sich diese Person in einen nachhaltigen Versöhnungsprozess hineingeben, sich ihren psychischen Wunden stellen und die Vergebung dann aussprechen, wenn sie reif dafür ist.

 

4) Bei Gott darf ich zu einer gereiften Person mit Entscheidungskompetenzen werden. Er geht in meinen Entscheidungen mit mir.

Die Entscheidung zur Vergebung wird sinnvoll, wenn sie dazu führt, dass ich meine Verantwortung für die Heilung der Verletzung übernehme und die Heilung nicht vom Täter oder von Gott allein erwarte. Um die Opferrolle verlassen zu können, verlässt ein Opfer die Abhängigkeit vom Täter und übernimmt die Eigenverantwortung für die Heilung der zugefügten Wunde. Das bisherige Opfer holt sich zum Beispiel die Hilfe, die es braucht, um sich weiterzuentwickeln, eine Kränkung zu verarbeiten und sein Leben unabhängig vom Täter wieder in die eigene Hand zu nehmen.

Ein Gott, der nur Gehorsam einfordert, erschwert die Entwicklung der eigenen Entscheidungsfähigkeit. Ein Gottesbild, bei dem Gott mit meinen Entscheidungen mitgeht, bei dem ich in der Verantwortung für mich wachsen darf, bei dem ein Experimentierfeld offen ist und ich auch in Fehlentscheidungen Neues lernen darf, fördert meine Entscheidungskompetenzen und eine positive Ich-Stärke.

 

5) Ein Gott, vor dem ich begrenzt sein darf, fördert die Annahme von Grenzen anderer.

Nicht selten können Schuldige sich selbst nicht vergeben und sich mit der eigenen Biografie nicht versöhnen. Oft ist ihnen kognitiv zwar klar, dass Gott ihnen vergeben hat. Sie können sich selbst aber nicht vergeben. Die Folge sind Trauer, Scham, Schuldgefühle, und Fluchtstrategien vor sich selbst.

Esther kann sich nicht vergeben, dass sie sich den engen Forderungen und Familienwerten angepasst und sich ihnen unterworfen hat. Ihre Schwester hat rebelliert und wurde von den Eltern trotzdem angenommen. So ist von ihrer Seite Eifersucht und Neid entstanden und die Andersartigkeit hat zu Konflikten zwischen den Geschwistern geführt.

Wir Menschen sind unterschiedlicher als wir meinen. Davon können Ehepaare Lieder singen. Nur in 31% der Beziehungskonflikte geht es um richtig oder falsch, um das bessere Argument. In 69% der Konflikte geht es darum, unterschiedliches Erleben zu verstehen, anzunehmen, eine andere Sichtweise zu respektieren und in gegenseitiger Wertschätzung einen Weg zu finden, in dem beide in ihren Grenzen respektiert werden. Wer seine Grenzen nicht erkennt und annimmt, wird Mühe haben, die des Gegenübers zu respektieren und mit daraus resultierenden Spannungen umzugehen. 

 

6) Wer sich von Gott in seinen tiefsten Wünschen und Gefühlen angenommen weiss, hat mehr Kompetenzen in konstruktiver Konfliktbewältigung.

Oft können Menschen nicht spüren, was sie wollen und Wünsche bzw. Gefühle nicht benennen. Sie haben oft erlebt, dass diesen Empfindungen und Äusserungen kein Gewicht gegeben wurde und haben gelernt, ihnen ebenso keine Beachtung zu schenken, weil sie zum Beispiel als egoistisch verurteilt wurden. Das hat aber nichts mit Egoismus zu tun, sondern mit Selbstbewusstsein. So haben sie ihr inneres Erleben abgewertet. In tief gehenden Konflikten ist es jedoch sehr wichtig, zu spüren und auszudrücken, was ich brauche, was ich geben kann und wo meine Grenzen sind, damit ich wieder ins Gleichgewicht komme. Meine innersten Bedürfnisse kann das Gegenüber nicht erraten. Wenn ich weiss, dass ich darin von Mitmenschen und von Gott wahrgenommen werde, kann ich es besser aushalten, wenn nicht alle meine Wünsche erfüllt werden.

 

7) Ein Gott, der vor allem Bösen und vor allem Leiden bewahrt, erschwert die Entwicklung von Selbstverantwortung und Selbstwirksamkeit und verhindert reife Mündigkeit.

Manchmal wünschten wir uns eine Deus machina, einen «göttlichen Arm», der direkt eingreift und uns aus einer Situation herausnimmt oder sofort Klarheit schafft. Unser Leben vollzieht sich in einer grossen Spannung zwischen externalen, d.h. äusserlichen und internalen Kontrollüberzeugungen, wie das die Psychologen bezeichnen. Die erste Haltung drückt die Redewendung «Was muss sein, schickt sich fein» aus. Unser Wohlbefinden hängt von äusseren Faktoren ab, etwa von Gott, seinem Schutz, dem Schicksal oder von wichtigen Menschen. Ein anderes Sprichwort betont die internalen Faktoren: «Wie man sich bettet, so liegt man.» Ich bin zumindest zum Teil selbst «der Schmied meines Glücks». Hier ist also meine eigene Selbstwirksamkeit gefragt. Wird die Wirksamkeit einseitig auf Gott abgewälzt, entwickle ich wenig Selbstwirksamkeit und Eigenverantwortung und werde fatalistisch. Erwarte ich von Gott allzu sehr Bewahrung vor Schwierigkeiten, Leid und Schicksalsschlägen, entwickle ich keine Selbstwirksamkeit. Erwarte ich alles von Gott, entwickle ich zu wenig Tatkraft. Hängt jedoch alles von mir ab, entwickle ich mich leicht zum Perfektionisten, der alles unter Kontrolle bringen will und bin gefährdet, in ein Burnout zu geraten.

 

8) Ein Gottesbild, das Wut, Ärger und andere negative Gefühle aushält und auch wütend auf Gott sein darf, eröffnet einen Weg zur Versöhnung.

Darf ich negative Gefühle vor Gott ausbreiten und ihre Bedeutung für mich verstehen, wird Entwicklung möglich.

Edith hat eine richtige Wut auf Gott. Er habe ihr die Kindheit geraubt und sei in ihrer verzweifelten Lebenssituation nicht eingeschritten, sagt sie. Sie habe nicht sein dürfen, wie sie war. Es war für sie wichtig, diese Wut mal auszudrücken und darin gehört zu werden. Warum nicht einmal einen «Wutbrief» schreiben? Oft fühlen sich Menschen sündig, wenn sie solche Gedanken empfinden.

Die Bibel kennt aber eine Klagekultur, in der etwa Hiob, Jeremia oder David2 Ärger, Unverständnis und ganze Rachefantasien vor Gott ausbreiten. Die Rache kann an Gott abgegeben werden. Das ist die ursprüngliche Bedeutung von Vergebung. Ich gebe meine Rache an Gott ab. Es gibt mehr Klagepsalmen als Lobespsalmen. Im Hebräischen haben die Worte für Rache und Trost die gleiche Wurzel. Bei Rachegefühlen stellt sich die Frage der Gerechtigkeit. Manchmal frage ich mich, wo es Raum für eine Klagekultur in unseren Gottesdiensten gibt.

Edith konnte erst nach dem Formulieren ihrer Klage erkennen, dass es in ihrem Leben Tanten gab: Bei ihnen hatte sie sich angenommen gefühlt, so wie sie war, hier hatte sie emotionale Wärme erhalten.

 

9) Ein Gottesbild, das Verschiedenartigkeit in Empfinden und Erleben willkommen heisst, befähigt zur Annahme und Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Realitäten und mit einer Andersartigkeit, die schwer nachvollziehbar ist.

Unsere Gesellschaft ist sehr herausgefordert im Umgang mit Andersartigkeit. Durch die Migration kommen wir vor Ort in Kontakt mit anderen Kulturen. Vieles können wir nicht nachvollziehen. Ehepaare lernen, dass ihr Gegenüber nochmal anders ist, als sie in der Verliebtheitsphase angenommen haben. Auch können wir anderes Erleben und andere Bedürfnisse nicht immer nachvollziehen. Manchmal sind wir uns auch selbst fremd, verstehen uns nicht ganz.

Die Welt ist unterschiedlich, so auch die Erfahrungen der Menschen, die darin leben. Überhöhte Erwartungen an Harmonie und Gleichheit verhindern gegenseitiges Verständnis und Konfliktkompetenzen. Darum ist es wichtig, Andersartigkeit zu respektieren und nicht vorschnell zu verurteilen. Dazu ist ein Selbstbewusstsein und Selbstannahme eine Voraussetzung, ansonsten wird Andersartigkeit bedrohlich für die eigene Identität.

Edith hat andere Werte entwickelt als ihre Familie. Einerseits will sie ganz in der Familie eingebunden sein und gleichzeitig ausserhalb dieses Wertesystems bleiben. Das setzt Grenzen. Sie sucht nach einem Ja für diese Situation, um einen entspannteren Umgang damit zu finden. Das erfordert Zulassen von Schmerz und einen Trauerprozess. Damit wird jedoch Weiterentwicklung möglich.

 

10) Ein Gottesbild, bei dem ich immer wieder neue Geheimnisse entdecken darf, ist offen für eigene persönliche Entwicklungen.

Wir sind uns manchmal selbst ein Geheimnis. Geheimnissen können wir nachspüren und dabei immer wieder Neues entdecken.

Es entsteht ein Raum, in dem wir uns immer weiterentwickeln und in dem wir neue Seiten an uns entdecken können. Das Weltbild wird dadurch offen für alle möglichen Erfahrungen auf unserm Lebensweg. Das Gottesbild darf sich verändern und bleibt doch nahe an unserm Erleben und unserer Realität mit den eigenen Bedürfnissen und Wünschen. Wir dürfen ganz werden.

Damit meine ich nicht, dass Gott für uns zu einer beliebigen Grösse wird. Gott führt uns in die Weite, er erweitert unsere Grenzen. Wir lernen in Konflikten dazu und brauchen sie nicht zu vermeiden.

Kurz und gut: Ich darf zu mir stehen, mich entwickeln und mich mit Personen auseinandersetzen, die mir Unrecht angetan haben. Auch sie sind Kinder Gottes. Dies erhöht die Versöhnungsbereitschaft aller Beteiligten.

 

1 alle Namen von Klienten und Klientinnen sind verändert

2 siehe zum Beispiel Psalm 109

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Kommentare

Samuel Leuenberger schreibt
am 2. Mai 2022
Der Artikel ist sehr wohltuend und wirkt entspannend. Die guten aufgezeigten therapeutischen Ratschläge fordern aber auch dazu heraus, Grenzen aufzuzeigen. Im Konflikt mit einer modernistisch-wahrheitsrelativistischen Theologie gibt es Gottesbilder, die nicht verhandelbar sind, die man nicht einfach stehen lassen kann. Wie kann ein der Selbstauslegung der Bibel verpflichteter Christ z.B. mit einem unpersönlichen Gottesbild seines Diskussionspartners umgehen ohne menschlich gutes Einvernehmen zu gefährden?