Philosophie: Wie die «Theologie des Unterbruchs» die Krise zur Chance macht

Das bisherige 21. Jahrhundert zeichnet sich derart durch eine Eskalation verschiedenster Krisen aus, dass sich die Frage aufdrängt: «Wenn alles Krise ist, was wäre dann normal?» Die «Theologie des Unterbruchs» des belgischen Theologen Lieven Boeve eröffnet einen aktiven Umgang mit unserer krisenhaften Gegenwart.

(Lesezeit: 7 Minuten)

Vermutlich nicht normal war jene kurze Phase vom «Ende der Geschichte» (Francis Fukuyama), in der sich das westlich-liberale Gesellschaftsmodell nach dem Kalten Krieg als das beste aller möglichen triumphieren sah. Bereits am 11. September 2001 war diese Fiktion vorbei. 

Lieven Boeve (Bild: Wikipedia)

Wenn das Bisherige ins Wanken gerät

Systemische Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft und Geopolitik, «gleichzeitige Ungleichzeitigkeiten» und wachstumsbedingte «dynamische Stabilisierungen» erzeugten Widersprüche, die sich u.a. in Form von Finanz-, Euro-, Flüchtlings- und Demokratiekrisen entluden. Begleitet wird all dies seither vom wachsenden Bewusstsein für die Klimakrise, zusätzlich potenziert durch die Pandemiewellen und den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.

Krisen werden oft auch als Chance begriffen. Der Status Quo gerät ins Wanken und die resultierende Unsicherheit verlangt uns Entscheidungen ab. War dieser Status Quo von vorher ursächlich für das Entstehen der Krise, dann gibt diese mitunter Gelegenheit, Dinge zukünftig besser, zumindest aber anders zu gestalten.

Aktuell ist dieser Lernprozess ein globales Unterfangen. Die Menschheit benötigt Einsicht in der Frage, was die Krisenhaftigkeit der Gegenwart bedingt und auch ein Gespür dafür, womit man nicht weiterkommt. Ein schlichter Lösungsansatz wäre zum Beispiel, der Komplexität der Probleme nicht mit dem Bedürfnis nach Komplexitätsreduktion zu begegnen und sich somit gegen Populismus und überholte Formen von Identitätspolitik zu wehren.

In der Folge möchte ich auf die vom belgischen Theologen Lieven Boeve vorgeschlagene «Theologie des Unterbruchs» zu sprechen kommen, die aus christlicher Perspektive eine Möglichkeit zum aktiven Umgang mit der krisenhaften Gegenwart entfaltet.

 

Prozesse von Ideologien unterscheiden

Boeve widmet sich nicht allen Krisen, aber zumindest einer inhaltlich immer wieder in einen kausalen Zusammenhang mit den anderen genannten: dem mutmasslichen Verfall unserer Wertebasis. Gerade Christen beklagen oft die Rückzugsgefechte der Kirchen und das Wegbrechen religiöser Traditionen, so als seien die Verhältnisse damals, als die meisten noch nominell in die Kirche gingen, per se menschlicher, gerechter und gottgefälliger gewesen.

Boeve will hier unterscheiden zwischen Prozessen einerseits und Strategien/Ideologien andererseits. Säkularisierung, Individualisierung und Pluralisierung sind Prozesse und somit beschreibende Kategorien einer sich strukturell wandelnden Welt. Säkularismus, Individualismus und Pluralismus hingegen sind normative Kategorien wie auch ideologische Kampfbegriffe – man kann mit ihnen die Prozesse fördern oder bekämpfen. Letzteres verschärft Krisen jedoch, anstatt sie zu bewältigen. Anstelle einer Reflexion des historisch-gesellschaftlichen Kontexts im Umgang mit den Herausforderungen, fällt man zurück auf Feindbilder und konstruiert starke religiöse, nationale, ethnische und politische Identitäten. 

Doch die postmoderne Ausdünnung klassischer Verbindlichkeiten wird nicht dadurch verhindert, dass sich auf dem Jahrmarkt der Identitäten einige aggressiver als die andern vermarkten. Gerade die verbittert ausgetragenen identitätspolitischen Kulturkämpfe haben in den vergangenen Jahrzehnten das Selbstverständnis vieler Demokratien polarisiert und Krisen so nur noch gefördert. 

 

Das Aufbrechen von Denkgewohnheiten zulassen

Boeve plädiert angesichts dessen für Folgendes:

1) Christliche Identität muss reflektiert konstruiert werden. Anstatt den Verlust eines in breiter Masse verankerten Glaubens zu beklagen und politisch den alten gesellschaftlichen Stellenwert wieder zurück erkämpfen zu wollen, sei es relevanter, sich bewusst die Begründung des Glaubens und den ethisch-spirituellen Mehrwert der eigenen Glaubenspraxis vor Augen zu halten. Im Umgang mit der Vielfalt alternativer Sinnmodelle und konkurrierender Glaubensangebote schärfe sich so der Blick für die freie Entscheidung.

2) «Theologie der Unterbrechung» als Orientierung: Im Zuge des historischen Wandels hat sich Glaube immer neu entfaltet – von der Urkirche zu den Scholastikern, den Reformatoren bis hin zur Befreiungstheologie – er blieb immer lebendig im Austausch mit der ihn prägenden kulturellen Konstellation. Boeve nennt dies im Anschluss an Johann Baptist Metz «Theologie des Unterbruchs», da statisch und institutionell verhärteter Glaube wiederholt durch gesellschaftliche Krisen «unterbrochen» wurde. Dies war stets eine Chance, «die kontextuelle und theologische Plausibilität und Relevanz des christlichen Glaubens neu [zu] begründen».

3) Das christliche Narrativ ist ein offenes. Das soll heissen, dass wir mit Blick auf die biblische Botschaft die Geschichte eines ständigen Aufbrechens von Denkgewohnheiten der jeweiligen Zeit sehen können – sei es durch Gottes Eingreifen in die Geschichte, sei es durch die prophetischen Mahnungen, sei es durch Jesus selbst. «Berufung, Exodus, Berg, Wüste, Kreuz, Auferstehung, Bekehrung, Pilgerreise etc. illustrieren dies alle.»

 

Was trägt heute?

Was Boeve hier für das christliche Ringen mit dem Zeitgeist veranschlagt, gestattet darüber hinaus einen Blick auf das krisenhafte Ganze. Wie die jüngsten Entwicklungen zeigen, war das mutmassliche «Ende der Geschichte» ein Moment spektakulärer liberaler Hybris. Wir dürfen auf die versöhnte Welt hoffen, doch es ist unmöglich, ihren Zeitpunkt zu kennen. Gegenwärtig ist völlig unklar, wie sich die multiplen Krisen des Jetzt entfalten werden. Einige Reaktionsmuster der Gegenwart – mehr Staat, mehr Nation, mehr Militär, mehr Identität – mögen vielen im Bedürfnis nach mehr Sicherheit entgegenkommen.

Ungewiss ist nur, ob die Krisen sich damit beruhigen oder gar aufheben lassen. Alte vermeintliche Normalitäten lassen sich so nicht wiederherstellen. Die Geschichte ist weiter gegangen, Lebens- und Arbeitsformen haben sich verändert, Wissen hat sich transformiert, Bevölkerungen sind (oft unfreiwillig) migriert. Die für uns alle notwendige Stabilität und Integrität von Identität verlangt in all dem weniger Rückbesinnung auf das, was einst funktioniert haben mag, sondern den Blick darauf, was hier und heute immer noch trägt. An diesem Reflexionsprozess kommen weder mündige Gläubige vorbei – noch die Menschheit als Ganzes.

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