«Spukhaft» dürfte für viele Menschen nicht nur diese Quantenverschränkung, sondern die gesamte Quantenphysik erscheinen. Die Theorien und Konzepte aus diesem Teilbereich der Physik strapazieren unser Vorstellungsvermögen und unsere Alltagslogik. Dabei lohnt es sich gerade auch aus theologischer Sicht, sich mit der Quantenphysik näher auseinanderzusetzen. Denn sie hat das naturwissenschaftliche Weltbild auf den Kopf gestellt.
Physik in ihrer klassischen Form
Bis etwa zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert formte die klassische Physik unser Weltbild. Wesentlicher Bestandteil davon war eine deterministische Vorstellung der Natur: Man ging davon aus, dass alle Naturvorgänge nach festgelegten Regeln ablaufen und damit berechenbar sind. Exemplarisch dafür steht der «Laplace’sche Dämon». Dieser Dämon entstammt einem Gedankenexperiment des Mathematikers Pierre Simon Laplace und beschreibt eine Intelligenz, die alle physikalischen Gesetzmässigkeiten und jeden Zustand des Universums kennt. Durch Anwendung dieser Kenntnisse auf die Gegenwart ist diese Intelligenz in der Lage, sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft eindeutig zu beschreiben1. Dadurch ist alles vorausbestimmt – oder eben: determiniert. Diese Sicht ist eine grosse Herausforderung für die Theologie. Denn in einem solchen Welt- und Naturbild ist kein Platz mehr für einen Gott, der in das Weltgeschehen eingreifen und dieses verändern kann.
Die Quantenphysik stellt das bisherige Weltbild in Frage
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts veränderte sich die Situation. Erste Theorien aus dem Bereich der Quantenphysik wurden aufgestellt und standen teilweise im Widerspruch zur klassischen Physik. Bis heute ist es noch nicht gelungen, alle Bereiche der Physik zu einer einzigen vollständigen Theorie zu vereinen. Einige Aspekte der Quantenphysik stellen damit die deterministische Sicht der klassischen Physik in Frage. Gewisse Aspekte der Natur scheinen doch nicht so festgelegt zu sein, sind also noch offen (indeterminiert). Das gilt auch für die Quantenverschränkung, für deren Erforschung der diesjährige Nobelpreis verliehen wurde. Aber auch das Welle-Teilchen-Paradoxon2 oder die Heisenbergsche Unschärferelation3 gehören in diese Kategorie.
Albert Einstein tat sich mit einer solchen Indeterminiertheit Zeit seines Lebens schwer. «Der Alte bzw. Gott würfelt nicht», lautete sein pointierter Einwurf gegen diese Vorstellung und die Rolle des Zufalls in der Quantenphysik4. Er stammt aus Einsteins Debatte mit Nils Bohr um dessen «Kopenhagener Deutung» der Quantentheorie, die einen prinzipiellen Indeterminismus quantenphysikalischer Naturprozesse beinhaltet.
Braucht Gott ein Schlupfloch?
Sind Naturprozesse in einem gewissen Mass doch offen (indeterminiert) und damit nicht festgelegt (determiniert)? Da wird die Theologie hellhörig. Hat sich da etwa wieder ein «Schlupfloch» aufgetan für Gott, durch das er wieder in unsere Welterklärung zurückkehren darf?
Es scheint beinahe so. Denn die Erkenntnisse der Quantenphysik haben zu einem bunten Strauss von Ideen und Theorien geführt, wie das Wirken Gottes in natürlichen Prozessen verstanden werden könnte. Beispielhaft erwähnt sei ein gemeinsames Projekt des Vatikanischen Observatoriums und des Center for Theology and the Natural Sciences in Berkeley. Zwischen 1990 und 2005 finanzierten die beiden Forschungszentren gemeinsam eine Reihe von Konferenzen, die sich mit der Frage nach dem Wirken Gottes in der Natur auseinandersetzten5.
So faszinierend und ernsthaft solche Ansätze auch sind, muss doch ein Wort der Vorsicht ausgesprochen werden. In solchen Erklärungsversuchen besteht die Gefahr, dass Gott plötzlich als Teil der Gleichung bzw. Formel verstanden wird. Gott wird damit auf die Ebene der Schöpfung gezogen und in ein physikalisches Weltbild verpackt6. Dort kann er auch wieder wegrationalisiert werden. Letztlich geht es nicht darum, Gott in den Gleichungen zu finden, sondern Gott hinter den Gleichungen zu entdecken. Gott ist der Schöpfer dieser Gleichungen. Dieser Perspektivenwechsel weg von der Schöpfung hin zum Schöpfer ist entscheidend. Es ist christliche Überzeugung, dass Gott das Universum mit einer Ordnung und Intelligibilität geschaffen hat, die Grundlage und Inhalt der naturwissenschaftlichen Forschung sind7. Doch diese Ordnung ist nicht zu verwechseln mit Gott selbst.
Würfelt «der Alte» jetzt oder doch nicht? Wie auch immer. Entscheidend ist: Er hat die Würfel und gleich auch noch die passenden Spielregeln geschaffen!
1 Vgl. Laplace, P. S. (1886). Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeiten. Duncker & Humblot, S. 4
2 siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Welle-Teilchen-Dualismus
3 siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Heisenbergsche_Unschärferelation
4 So in einem Brief an Max Born; vgl. Einstein, A., Born, H. & Born, M. (1972). Briefwechsel 1916-1955. Rowohlt, S. 97.
5 Das Unterfangen erhielt den Namen «Divine Action Project». Diese interdisziplinären Konferenzen beschäftigten sich mit unterschiedlichen Fachbereichen der Naturwissenschaften und ihren Schnittpunkten zur Theologie. Die Beiträge der Konferenzen wurden über die Buchreihe einem breiteren Publikum zugänglich gemacht.
6 Lydia Jaeger nennt das «Physikalismus plus Gott», vgl. Jaeger, L. (2012). Against Physicalism-plus-God. Faith and Philosophy, 29(3), S. 295–312
7 Es gibt stichhaltige Gründe, dass die Vorstellung von einem Schöpfergott für die Entstehung der modernen Naturwissenschaften von zentraler Bedeutung war.
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