Hat die Kirche – der «Leib Christi» – zu viele Glieder?

Die multiplen Verwerfungen haben in unserer Welt ein bis vor kurzem unvorstellbares Ausmass erreicht. Auch die weltweite Christenheit ist davon betroffen. Sie ist herausgefordert, mit vereinter Kraft und geistlicher Einheit der Welt mit dem Evangelium Perspektiven und Hoffnungen zu vermitteln. Aber kann sie das, wenn sie dermassen zersplittert ist?

(Lesezeit: 10 Minuten)

«Die Liebe Christi bewegt die Welt zu Versöhnung und Einheit». So lautete das Leitthema der 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Karlsruhe anfangs September. Angesichts der gewaltigen und leider auch gewaltsamen tektonischen Bewegungen, die unsere Welt seit geraumer Zeit umpflügen, ein äusserst anspruchsvolles Wort!

«175 Jahre gemeinsam besser.» Mit diesem Leitwort begeht die Schweizerische Evangelische Allianz (SEA) im laufenden Jahr ihr Jubiläum. Sie greift bewusst ein Herzensanliegen Jesu auf: «Ich bitte, dass alle meine Jünger und Nachfolgerinnen eins seien, so wie Du, Vater in mir und ich in dir eins sind, damit die Welt glaubt1».

Der Leib als Puzzle (Bild: Paul Schärz)

Der biblische Kernauftrag für die Christen

Diese beiden Leitlinien entsprechen dem Neuen Testament, das durchgehend eine Botschaft proklamiert: Jesus Christus ist die Liebe Gottes in Person und Aktion. Damit ist der Kernauftrag für die Weltchristenheit definiert: «Lasset uns lieben, denn Er hat uns zuerst geliebt2

Diese Liebe Gottes, die uns Christus erwiesen hat, ist laut Paulus der Schlüssel für den «Dienst, der die Versöhnung predigt, bezeugt und vorlebt3». Wenn die Lutherbibel den griechischen Begriff «diakonia» mit «Amt» übersetzt, betont sie die Berufung aller Christen, Diakone, Diener und Botschafter an der Stelle von Christus zu sein und der Welt zuzurufen: «Lasset euch versöhnen mit Gott, weil Gott uns mit sich versöhnt hat!»

Für alle Apostel stand deshalb fest: Nur versöhnte Christen, versöhnte Kirchen und versöhnte Gemeinden, die zwar nicht gleich, aber im Frieden eins sind, wirken in ihrer Umwelt überzeugend als Friedensmodell: Weil sie sich nicht konkurrieren oder gar bekämpfen, sondern sich ergänzen und in der Liebe achten und respektieren.

 

Ein Leib mit falschen Gliedern

Dies wollen die Allianzbewegung und die Ökumene fördern. In Karlsruhe wurde für eine «Ökumene des Herzens» plädiert, also für eine «Einheit in der Liebe Christi», solange wir noch mit unseren Unterschiedlichkeiten auf dem Weg sind.

Dafür steht auch Paulus ein, wenn er um die Einheit der Gemeinde Jesu ringt. Dabei geht es ihm nicht um Gleichförmigkeit und Gleichheit in allen Dingen, sondern um den einen Leib mit denjenigen Gliedern, die der Leib wirklich braucht. Es darf also nicht sein, dass einzelne Christen und/oder Grüppchen im und am Leib zusätzlich neue Glieder produzieren, etwa einen paulinischen Arm, ein apollonisches Bein, ein petrinisches Organ oder ein zweites Christushaupt4. Zu viele menschengemachte Glieder stören den Leib und bringen ihn durcheinander. Aber leider konnte keiner der Apostel den Skandal der Zertrennung innerhalb der Christenheit aufhalten. Es gibt ihn bis heute.

 

Eine unerträgliche Vielfalt

Auffällig ist, wie besonders der Protestantismus von Beginn an zerfasert wurde. Besonders in der Neuzeit scheint seine «Einheit» in der Freiheit zur Individualität zu bestehen. Jeder kann glauben, was er für wahr hält und jeder kann nach seinem Gusto etwas Frommes gründen, wie er will.

Es gibt gegenwärtig eine unnötige und unerträgliche Vielfalt des Leibes Christi, die sich nur schwer zur «Einheit in der Vielfalt» versöhnen lässt, weil die Motive vieler Eigenwege menschlicher und nicht geistlicher Natur sind. Theologische Argumente entpuppen sich oft als Feigenblätter für fromme Selbstinszenierung.

Diese Binnenkultur des Protestantismus verstört viele. Sie wird sowohl von innen als auch von aussen kritisch wahrgenommen. Aber es gibt sie inzwischen mehr und mehr: Die Christen ohne kirchlich-gemeindliche Bindung. Und die säkularisierte Gesellschaft versteht sowieso nicht mehr, was Konfessionen, Denominationen und sonstige innerchristliche Gruppen und Gemeinschaften sind und sollen.

Auch Christen leben also ständig in diesem taktischen Entweder – Oder:  Entweder komplementär agieren – oder konträr dividieren und verlieren! Entweder konkurrierend zusammenlaufen – oder einander kriegerisch bekämpfen!

 

Gesucht: Ein überzeugendes Auftreten

Einheitliches und profiliertes Auftreten als «ökumenische Gemeinschaft des Herzens» ist aber das Gebot der Stunde, «damit die Welt glaubt». Das wird einhellig weit herum anerkannt.  

Deshalb hat – Gott sei Dank! – seit geraumer Zeit ein Nachdenken darüber begonnen, wie wir als Christen «mit einem Mund» in einer von Krisen heimgesuchten Welt Jesus Christus als Weg, Wahrheit und Leben in Wort und Tat glaubwürdig bezeugen können. Immerhin belegt ja die Kirchengeschichte, was schon die Apostel wussten: Ehrgeizige Vollmacht ohne Liebe führt zu Macht und Machtmissbrauch! Vollmacht in der Liebe Christi führt zu Gemeinschaft und Dienst!

 

Versöhnung als Schlüssel

Seit einigen Jahren sind in einer Region im Aargau hundertjährige Animositäten, Gehässigkeiten, Vorurteile und Vorbehalte zwischen der Landeskirche und einer Freikirche nach einem Versöhnungstag bedeutungslos geworden. Das gemeinsame Miteinander wächst und gedeiht. Und die Lokalmedien haben staunend und wohlwollend davon berichtet.

Ebenso öffentlichkeitswirksam waren die zahlreichen Versöhnungsfeiern zwischen Landeskirchen und Täufergemeinden in letzter Zeit.  

Gemeinschaft und Dienst in versöhnter Vielfalt – darum wird an manchen Orten intensiv gerungen und andernorts wird es bereits gelebt und auch von einer säkularisierten Gesellschaft wahrgenommen. Es sind hoffnungsvolle Zeichen dafür, dass mehr möglich ist!  

Zum Abschluss eine kleine Geschichte, die mir von Christoph Teichler5 zugespielt worden ist.

 

Wir möchten Paulus etwas fragen                                                      

Es war einmal eine Pilgergruppe. Das Ziel ihrer Reise war es, ihren am meisten verehrten Leiter zu treffen: Apostel Paulus. Sie waren jahrelang unterwegs, bis sie an die Himmelstore kamen. 

Sie klopften und ein Diener öffnete. «Ja bitte?», fragte er und lächelte. «Wie kann ich euch helfen?» Sie antworteten einstimmig: «Bitte lass uns eintreten. Wir möchten zu Apostel Paulus.»

«Ihr könnt gerne zu ihm», sagte der Diener. «Aber zuerst braucht ihr saubere Füsse und Kleidung. Ich habe ein Gefäss mit Wasser und Gewänder bereit. Wenn ihr alle sauber seid, dürft ihr eintreten.» Widerwillig liessen sich die Pilger waschen und machten dem Diener dabei ungeduldig klar, dass er sich beeilen solle.

Als sie alle gewaschen waren und saubere Gewänder trugen, sahen sie, wie Paulus sich aus der Ferne näherte. Sie drängten sich am Diener vorbei, und liefen zu ihrem Idol.

Verblüfft schaute Paulus die Gruppe an und fragte: «Wer seid ihr? Und was kann ich für euch tun?» – «Meister», antworteten sie wieder einstimmig, «danke, dass du dir die Zeit nimmst, um mit uns zu reden. Wir haben so viele Fragen über die Art und Weise, wie wir auf der Erde leben sollen. Wir wissen kaum, wo wir anfangen sollen …»

«Das sind grosse, edle Dinge, die ihr mich da fragt. Aber seid ihr sicher, dass ich derjenige bin, dem ihr diese Fragen stellen solltet? Letztendlich war ich auf der Erde nur ein einfacher Sterblicher. Wie könnt ihr nur annehmen, dass ich euch für das Leben 2000 Jahre später noch Ratschläge geben kann?»

Die Gruppe reagierte entsetzt: «Wir haben unser ganzes Leben anhand deiner Lehren gestaltet. Mit ihnen als Grundlage haben wir Gemeinden gebaut und Regeln aufgestellt. Wie kannst du sagen, dass du nur ein einfacher Sterblicher warst?»

Paulus entgegnete: «Mein Meister gab mir die Aufgabe, unter seiner Anweisung die ersten Gemeinden zu bauen. Es war eine besondere Zeit, unsere Gemeinden waren jung und standen vor immer neuen Herausforderungen. Wir lebten unter dem römischen Gesetz und versuchten Heidenchristen und Judenchristen zu vereinen. Meine Anweisungen habe ich für genau diese Aufgabe bekommen und das habe ich in meinen Briefen auch immer ausdrücklich so formuliert.»

Er fügte hinzu: «Natürlich findet ihr in meinen Briefen allgemeine Ratschläge für ein christliches Leben, aber hauptsächlich waren bestimmte Angelegenheiten gemeint, mit denen die jungen Gemeinden zu kämpfen hatten.»

Die Pilger liessen die Schultern hängen und schauten sich traurig an. Dann sagte der Anführer unter ihnen zu Paulus: «Wen sollen wir dann fragen?»

«Ist das nicht offensichtlich?», antwortete Paulus. «Ihr müsst mit dem sprechen, der schon mir Anleitungen gegeben hat. Ihr müsst mit meinem Meister sprechen. Das solltet ihr eigentlich wissen, schliesslich ist eure Bibel voll von seinen Lehren. Er ist kein einfacher Sterblicher und seine Lehren sind zeitlos.»

«Wo finden wir denn deinen Meister?», fragten sie. Und langsam fingen sie an, sich an das zu erinnern, was sie schon lange gewusst hatten.

«Er steht direkt hinter euch», sagte Paulus. «Er hat eure Füsse gewaschen6

 

1 Johannes 17,20-21

2 1. Johannes 4,19

3 siehe 2. Korinther 5,18-21

4 siehe 1. Korinther 1,12-13

5 für das Copyright: christoph@teichler.org

6 siehe dazu 1. Korinther 3, 21-23 ...: 

«Und Ihr wisst, was ich meine. Einer von euch sagt: ‘Ich bin Anhänger von Paulus!’, ein anderer: ‘Ich von Apollos!’, wieder ein anderer: ‘Ich von Petrus!’ und noch ein anderer: ‘Ich von Christus!’ – Ist Christus denn zerspalten? Bin etwa ich, Paulus, für euch am Kreuz gestorben? Oder seid ihr auf meinen Namen getauft worden? Ich danke Gott, dass ich ausser Krispus und Gaius keinen von euch getauft habe! So kann doch wenigstens niemand behaupten, eure Taufe sei eine Taufe auf meinen Namen gewesen.»

... und 1. Korinther 1, 12-15:

«Betrügt euch nicht mit kleinkariertem Denken! – Darum rühme sich niemand eines Menschen, denn alles ist euer, es sei Paulus oder Apollos oder Kephas … Alles ist euer, ihr aber seid Christi. Christus aber ist Gottes!»

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