Vorgestellt: Die Spiritualität des Weges

Den christlichen Glauben integriert leben heisst, ihn mit allen Lebensbereichen verbinden. Das ist faszinierend, aber auch anspruchsvoll. Es verlangt deshalb nach einer ganzheitlichen Spiritualität. Im Folgenden stellen wir erstmals (in einem längeren Beitrag) die Grundzüge einer «Spiritualität des Weges» vor.

(Lesezeit: 14 Minuten)

Eine Leitperson für die «Spiritualität des Weges» ist Abraham. In mehreren eindrücklichen Begegnungen erfährt er jeweils, wie sein Weg mit Gott weitergeht. Abraham wird in der Reife seines Lebens zu einem integrierten Glauben aufgefordert, einem Weg in eine immer umfassendere Ganzheit: «Als nun Abram neunundneunzig Jahre alt war, erschien ihm der HERR und sprach zu ihm: Ich bin der allmächtige Gott; wandle vor mir und sei ein Ganzer1.» Der Patriarch macht sich dann tatsächlich auch äusserlich auf den Weg. Er wird zum Vater eines neuen Volkes: dem Volk Israel.

Auch Jesus nimmt nach 30 Jahren der Vorbereitung seinen Wanderstab zur Hand. Er zieht mit seinen Jüngern durch sein Heimatland. Die Frucht dieser göttlich inspirierten Wanderung ist ein weiteres neues Volk: das globale Volk Gottes.

Später in der Kirchengeschichte verlassen die irischen Mönche die grüne Insel. Sie machen sich auf den Weg des «grünen Martyriums», im Wissen, dass sie auf ihrem Weg der (Neu-)Missionierung Europas ihre Heimat nie mehr sehen werden.

Heute sind wir aufgefordert, unsern Weg mit Jesus zusammen unter die Füsse zu nehmen: einen Weg zu mehr Wahrheit über uns, unsere Nächsten und Gott und einen Weg zu mehr (letztlich ewigem) Leben2. Bevor wir diesen Weg genauer untersuchen, gilt es, einige Missverständnisse zu klären.

 

(Falsche) Anklänge beim Begriff «Spiritualität des Weges»

Zu den populären Sätzen, die ich am wenigsten liebe, gehört die scheinbare Lebensweisheit «Der Weg ist das Ziel». Das ist eine irrige Vorstellung. Es kommt ganz auf das Ziel an, würde ich hier dazwischenrufen. Ein sinnvoller Weg braucht ein sinnvolles Ziel. Wer als Ziel ein (ewiges) Leben mit Jesus vor Augen hat, ist auf einem Weg, der tatsächlich Sinn «macht». Andere Wege sind weniger verheissungsvoll.

Gerade in Corona-Zeiten ist das Wandern in der Natur beliebt. Man will, vielleicht beim Sonnenaufgang oder mit dem Umarmen eines Baumes, spirituelle Kraft tanken. Die esoterische (letztlich heidnische) Vorstellung dahinter ist eine göttlich beseelte Natur. Aus christlich-jüdischer Sicht ist die Natur aber nicht Gott, sondern Gestalt gewordenes Wort von Gott. Deshalb gilt: Gott kann (auch) durch die Natur zu uns sprechen, wir müssen und sollen sie aber deswegen nicht anbeten. Die Schöpfungs-Aussage «Gott setzte sie (Sonne, Mond) dann an das Himmelsgewölbe»3 war und ist eine Provokation für alle, die damals Sonne und Mond als Götter angebetet haben bzw. heute als göttlich beseelt verehren und deuten.

Ein drittes Missverständnis ist die Romantisierung der Natur. Das Wandern wird hier als Erleben des guten, unverdorbenen Lebens empfunden. Ähnliches zeigt sich beim Verehren der unschuldigen Urvölker. Diese Idealisierung ist im Falle der Naturvölker Ethnokitsch und in Bezug auf die Natur eine selektive Wahrnehmung: Die Natur ist schön und gefährlich zugleich. Richtig daran ist die Erinnerung an das vollkommene Paradies. In unserer Zeit der Schöpfungsunordnung aber ist das Gute leider immer vermischt mit den Wirkungen des Bösen.

Die Spiritualität des Weges meint, richtig verstanden, das Unterwegssein mit Jesus, zusammen mit seinen Nachfolgern und begleitet von Menschen, die Jesus noch nicht nachfolgen. Dies ist ein lebenslanger Weg über Berge und durch Täler, über Stock und Stein.

 

Gnade, verbunden mit Glaube, Liebe und Hoffnung

Dieser Weg steht im Zeichen der Gnade. Er widerspricht damit meinem gut eingeübten Leistungsdenken. Es ist ein doppelter Gnadenprozess – mit einem geschenkten Anfang (Glaube) und einer geschenkten Vollendung (Hoffnung). Dazwischen liegt der Weg (Liebe). Er steht unter dem Motto: «Wie werde ich, was ich bin?» 

Man könnte dieses Geschehen mit einem geschenkten Generalabonnement vergleichen. Damit habe ich die Schweiz im Sack. Das macht aber nur Sinn, wenn ich mich auf den Weg mache, um sie wirklich zu entdecken. Auf diesem Weg werde ich vom Heiligen Geist gestossen und gezogen, bleibe aber frei, wie ich darauf reagieren will. Das ist meine Freiheit, aber auch meine Verantwortung.

 

Der Schub von hinten

Der Schub von hinten ist der Glaube als geschenkter Anfang. Ich bin ein Leben lang damit beschäftigt, dieses Geschenk auszupacken. Ich muss also nicht blind religiöse Übungen absolvieren, Gesetze einhalten oder Gott zufrieden stellen. Nein, ich darf und soll auf diesem Weg vor allem Beziehungen gestalten.

Christsein ist ein Beziehungsgeschehen im Zeichen der Liebe, und das ist nur selten romantisch gemeint. Diese Liebe ist verbunden mit Wahrheit und braucht deshalb immer wieder Vergebung. Dies in vier Richtungen: gegenüber mir selber, gegenüber Gott, in Bezug zu meinen Mitmenschen sowie zu Natur und Kultur4. Diese vierfache Vergebung quillt aus dem Geschehen an Karfreitag und Ostern.

Teil dieses Schubes ist auch das Prinzip: Wie Gott mir, so ich dir. Der göttliche Schub gibt mir die Möglichkeit, selber etwas in seinem Sinne zu bewegen. Es gilt, Liebe, Wahrheit und Vergebung in der Beziehung zu Gott zu lernen und dann in allen vier Richtungen wirksam werden zu lassen.

 

Der Zug von vorne

Der Zug von vorne ist die geschenkte Vollendung. Zentrierend ist dabei die Hoffnung auf vollendete Beziehungen – Hoffnung als Zusage, nicht als Unsicherheit. Auch hier werden alle vier Ausrichtungen erfasst: Ich kann mich freuen auf eine vollendete Beziehung zu mir selber, zu Gott, zu meinen Mitmenschen sowie zu Natur und Kultur.

In dieser Blickrichtung wechselt auch das Bild: Das Kreuz wird abgelöst durch das Lamm auf dem Thron. Der Kampf zwischen Gut und Böse wurde an Karfreitag und Ostern entschieden. Dieser Sieg wird sich im Laufe der Weltgeschichte in allen vier Beziehungsrichtungen durchsetzen. In der neuen Dimension «Ewigkeit» ist das Böse vernichtet, das Gute und Heilsame herrscht ohne Einschränkung. Das wird v.a. im Buch der Offenbarung in faszinierenden Bildern ausgemalt. Beispielsweise so: Das Lamm auf dem Thron ist die neue Sonne, es gibt eine neue Erde (Natur), eine neue Stadt (Kultur) und eine neue Psychologie (kein Leid, keine Tränen).

Wenn wir diesen Blick auf die Vollendung einüben, wirkt sich dies als Zug nach vorne aus. Wir sollen, dürfen und können besser werden, uns verbessern auf unserm Weg in die Ewigkeit. Ganz nach dem Motto: «Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist»5

 

Der Weg

Dazwischen liegt der Weg als unsere tägliche Realität und Herausforderung. Das weisse Kleid erhalten wir geschenkt. Die Gemeinde als Jungfrau ohne Fehl und Tadel ist uns verheissen.

Zur Zeit sind wir aber noch in Wanderkleidern unterwegs: Sie sind oft staubig und zeigen Risse. Wir leben in einem beschränkten Körper: Unterwegs gibt es Blasen, Schmerzen und ein vorübergehendes Ende: den Tod. Auch in unserer Seele erfahren wir Beschränkungen: unkontrollierte Gefühle, Verletzungen, Ängste und Zweifel. Dazu kommt der oft geschwächte Geist – die manchmal gestörte Beziehung, die von uns still gelegte Antenne zu Gott.

Deshalb sind wir tagtäglich angewiesen auf Reinigung, Erneuerung, Heilung und Geduld. Das ist Gnade, Liebe und Hoffnung in kleiner, alltäglicher Münze.

Umso wichtiger ist die Weggemeinschaft mit Jesus-Nachfolgern, oft als Hilfe, manchmal auch als Herausforderung. Trotz dem heutigen Trend zum Individualismus: Christsein gibt es nur in Gemeinschaft und im gemeinsamen Gottesdienst. In einem gut gestalteten Gottesdienst widerspiegelt sich unser Wandern. Klaus Douglass6 schlägt die folgende Liturgie für den Gottesdienst vor: Sie beginnt mit der Anbetung: einem Rüstgebet (im Stehen), einer Begrüssung, einem Eingangslied, einem Votum – etwa einem Eingangspsalm, um den «Ton» des Gottesdienstes zu setzen –, gefolgt von einer Bitte um Vergebung und einer Gnadenzusage. 

Der breite und der schmale Weg (Gemälde von Charlotte Reihlen, Städtisches Museum Welzheim, Klick zum Vergrössern)

 

Nun folgt die Verkündigung mit Schriftlesung, Glaubensbekenntnis und Predigt. Und dann die Gemeinschaft im Zeichen des Abendmahls sowie dem gemeinsamen Singen und Beten. Den Abschluss setzt die Sendung mit Mitteilungen, Fürbitte, Kollekte und Segen.

Trotz aller Gemeinschaft gilt: Ich bin als Christ letztlich allein unterwegs und für mich verantwortlich. Deshalb soll und darf ich persönlich auf Gottes Wegweisungen – seine Eingebungen durch den Heiligen Geist – horchen und dann gehorchen. Dazu helfen die persönliche Stille, Stilletage und Stillewochen, aber auch die Zweierschaft – regelmässige Treffen mit nahestehenden Weggefährten – sowie die Seelsorge und allenfalls auch ein persönliches Coaching. In diesen Gefässen kann mein Weg mit meinem Meister in den vier Beziehungsrichtungen geklärt werden, meine nächsten Schritte können vorbesprochen und Eingebungen gemeinsam geprüft werden.

 

Der Weg mit den andern

Die Spiritualität des Weges ist aber nicht auf das Leben in der christlichen Blase beschränkt. Da gibt es ja auch noch die Noch-Nicht-Christen. Sie sind für uns gleichzeitig Herausforderung und Chance.

Meine Beziehungen mit meinen Nächsten ergeben ein Beziehungsrad, das, gehalten von meiner Beziehung zu Christus, von mir ausgeht und wieder zu mir zurückführt. Es umfasst meine familiären und weiteren privaten Beziehungen, meine Beziehungen aus Vereinen, Clubs und ähnlichen Organisationen, meine nachbarschaftlichen, beruflichen bzw. schulischen Kontakte und auch mein kirchliches Beziehungsnetz. Hier finde ich meine Weggefährten im Alltag. Viele von ihnen sind (vermutlich) noch nicht im christlichen Glauben unterwegs. In diesem Beziehungsgeflecht wächst und bewährt sich mein Christsein. Diese «Noch-nicht-Christen» sind auf mich angewiesen – als Hilfe, Vorbild, Wegweiser und – im Blick auf die Entdeckung des Glaubens – auch als Geburtshelfer. Gerade weil ich mich nicht gleichzeitig um alle kümmern kann, ist es wichtig, dass ich meine zehn wichtigsten Bezugspersonen kenne und mich in sie investiere, gleichzeitig aber auch offen bleibe für spontane weitere Beziehungen.

 

Die Orientierung

Auch wenn ich auf diesem Wege menschlich gesehen allein unterwegs bin, gibt es Orientierungshilfen, auf die ich nicht verzichten sollte: Karte, Wegweiser, das GPS und eine christliche Ethik.

Die Bibel ist meine Wanderkarte. Sie reicht von einer weit zurückliegenden Vergangenheit bis an die Pforte zur Ewigkeit. Sie zeigt mir, wo der breite und wo der schmale Weg hindurchführt. Glücklicherweise darf ich mich auch hier immer wieder auf die Gnade verlassen: Sie macht es möglich, dass ich auf dem schmalen Weg bleiben kann, obwohl ich immer wieder auf den breiten schiele. Diese Karte ist alt und deshalb nicht immer leicht zu lesen. Es braucht deshalb immer wieder den Austausch mit andern Weggenossen.

Zu den Wegweisern gehören Menschen, die diesen Weg schon vor mir gegangen sind: «Wir sind nur Zwerge auf den Schultern von Riesen»7.

Und schliesslich gibt es auch noch das GPS, Gottes Peil-System: den Heiligen Geist. Falls ich darauf achte, zeigt er mir auf meiner Wander-App, ob ich richtig unterwegs bin.

Christsein ist mehr als Glaube und Gefühl, es hat auch gute Folgen im Alltag, die in Regeln für ein gelingendes Leben – als christliche Ethik – zusammengefasst werden können. Jesus wurde Mensch. Er hat mit seiner Inkarnation gezeigt, wie Christsein geht und ist darum im Zentrum jeder christlichen Ethik. Sie gibt Antwort auf Fragen wie: Was ist gut? Was ist ein gutes Leben für mich und andere? Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Gesinnungsethik – dem idealen Handeln –, der Verantwortungsethik mit der Differenzierung im Lichte des wirklichen Lebens (etwa in der Politik) und der Situationsethik, die in der Anwendung auf eine einzelne Person oder Situation – etwa bei einem ethischen Dilemma8 – mehr oder weniger von der Norm abweichen kann.

 

Achtung – fertig – los

Zum Schluss hilft uns eine Standortbestimmung, um zu erkennen, was die nächsten Schritte sein könnten. Hilfreich dafür sind Fragen nach der Begabung, der Biographie, dem Beruf, der Berufung und der Bekehrung. Dabei gilt auch hier das Grundprinzip: Es gibt den geschenkten Beginn aus Gnade, das Potenzial der Entwicklung im Zeichen der Liebe (Weg) und den Ansporn mit dem Blick auf die Vollendung.

Zu unsern Begabungen gehören – in dieser Reihenfolge – unser Leben, das Mann- oder Frausein, der Körper, die Seele (das Unbewusste, Fühlen und Denken) und der Geist (Draht zu Gott), unser Charakter (Geistesfrüchte) sowie die mehr oder weniger natürlichen Begabungen für den Gottesdienst und die Diakonie (Geistesgaben).

Eine wichtige Grundlage ist auch die eigene Biographie. Ich bin nicht zufällig in meine Familie in dieser Konstellation geboren worden. Mein Lebenslauf mit allem Schwierigen und Schönen hat eine wichtige Bedeutung. Ich darf ihn mit Dank, Vergebung, Erwartung von Heilung und der Bereitschaft zum Aushalten – etwa von unerfüllten Wünschen – vor Gott bringen, die damit verbundenen Herausforderungen annehmen und daraus Segensreiches schaffen.

Zu meinem Standort gehört weiter mein Beruf als täglicher Gestaltungsort meiner Biographie, zusammen mit dem Wirken zuhause sowie der Freiwilligenarbeit in Kirche und Dorf bzw. Quartier. Mache ich in diesen Bereichen das, was Gott von mir möchte? Gibt es Verbesserungspotenzial?

Dazu kommt schliesslich meine Berufung – (auch) als Ziel. Ich werde durch Gott von vorne her immer wieder in meine Berufung gerufen und darf im Lauf des Lebens immer mehr in diese Berufung hineinwachsen. Dabei gilt es, Lebensphasen zu beachten: Berufungen können sich verändern oder zugespitzt werden.

Die Spiritualität des Weges ist somit lebenslang verbunden mit Bekehrungen. Ich soll immer mehr Bereiche meines Lebens vom Lebenszentrum Christus her prägen lassen. Das Reich Gottes – sein Zuständigkeitsbereich – beginnt nicht weniger als in mir selber. Es wird dank ihm durch mein integriertes Christsein – und das von andern Christenmenschen – verbreitet. Machen wir uns deshalb gemeinsam auf den Weg!

 

1  1. Mose 17,1 (in der Übersetzung von Hans Bürki)

2 in Anspielung auf Johannes 14,6

3 Das Kreuz ist eine eindrückliche Illustration dieser vier Beziehungsrichtungen.

4 1. Mose 1,17a (Menge), ähnlich provokativ in Psalm 8,4

5 Matthäus 5,48 (Luther 2017)

6 in: Klaus Douglass. «Gottes Liebe feiern». 1998, C & P Verlagsgesellschaft GmbH,  ISBN 978-3-86770-006-1

7 Bernhard v. Chartres, um 1120

8 Eine Situation, in der nur die Wahl zwischen zwei ethischen «Fehlern» bleibt – als Extremfall: der Tyrannenmord.

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