So geschehen zum Beispiel bei der «alt bekannten» Geschichte vom barmherzigen Samariter, als ich sie während eines stillen Wochenendes an einem VBG-Kurs1 meditierte.
Lukas 10,25-372
25 Ein Gesetzeslehrer wollte Jesus auf die Probe stellen. «Meister», fragte er, «was muss ich tun, um das ewige Leben zu bekommen?»
26 Jesus entgegnete: «Was steht im Gesetz? Was liest du dort?»
27 Er antwortete: «'Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Hingabe, mit aller deiner Kraft und mit deinem ganzen Verstand!' Und: 'Du sollst deine Mitmenschen lieben wie dich selbst!'»
28 «Du hast richtig geantwortet», sagte Jesus. «Tu das, und du wirst leben.»
29 Der Gesetzeslehrer wollte sich verteidigen; deshalb fragte er: «Und wer ist mein Mitmensch?»
30 Daraufhin erzählte Jesus folgende Geschichte: «Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinunter. Unterwegs wurde er von Wegelagerern überfallen. Sie plünderten ihn bis aufs Hemd aus, schlugen ihn zusammen und liessen ihn halbtot liegen; dann machten sie sich davon.
31 Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab. Er sah den Mann liegen, machte einen Bogen um ihn und ging weiter.
32 Genauso verhielt sich ein Levit, der dort vorbeikam und den Mann liegen sah; auch er machte einen Bogen um ihn und ging weiter.
33 Schliesslich kam ein Reisender aus Samarien dort vorbei. Als er den Mann sah, hatte er Mitleid mit ihm.
34 Er ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann setzte er ihn auf sein eigenes Reittier, brachte ihn in ein Gasthaus und versorgte ihn mit allem Nötigen.
35 Am nächsten Morgen nahm er zwei Denare aus seinem Beutel und gab sie dem Wirt. 'Sorge für ihn!', sagte er. 'Und sollte das Geld nicht ausreichen, werde ich dir den Rest bezahlen, wenn ich auf der Rückreise hier vorbeikomme.'»
36 «Was meinst du?», fragte Jesus den Gesetzeslehrer. «Wer von den dreien hat an dem, der den Wegelagerern in die Hände fiel, als Mitmensch gehandelt?»
37 Er antwortete: «Der, der Erbarmen mit ihm hatte und ihm geholfen hat.» Da sagte Jesus zu ihm: «Dann geh und mach es ebenso!»
Unterschiedliche Arten der Nächstenliebe
Beim Meditieren dieser Bibelstelle ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass der barmherzige Samariter nicht alles alleine macht. Er beauftragt den Wirt, den Mann weiter zu pflegen. Der Wirt ist zu Hause geblieben und hat nun in der Sicherheit seiner Herberge eine wichtige Aufgabe. Gott braucht beide Menschentypen. Beide sind gleichwertig, derjenige, der rausgeht und sich unterwegs abmüht, aber auch derjenige, der zu Hause bleibt und dort Nächstenliebe ausübt. Beide haben offenbar das Bedürfnis, sich zu engagieren. Sie stillen es aber auf unterschiedliche Weise.
Vier Schritte ...
Im Zusammenhang mit der gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg, bei der es um eine einfühlsame Haltung gegenüber allen Menschen geht, lohnt sich aber auch ein zweiter Blick auf die beiden Männer, die den halbtoten Mann am Boden links liegen gelassen haben. Und vor allem auch, was dieses Vorbeigehen bei uns auslöst.
Beobachten, ohne zu werten oder zu verurteilen. Das ist nach Rosenberg der erste Schritt. Angewandt auf unser Beispiel: Hier liegt ein halbtoter Mann am Boden. Ein Priester und ein Levit gehen an ihm vorüber. Und nicht: Der Priester und der Levit gehen achtlos vorüber. Wie schlimm! Wie können die nur so handeln!
Beim zweiten Schritt probiere ich zu spüren, welches Gefühl diese Situation bei mir auslöst. – Ich bin traurig.
Beim dritten Schritt kommt das eigene Bedürfnis dazu, das diesem Gefühl zu Grunde liegt: Ich bin traurig, weil mir die Empathie, die handelnde Liebe wichtig ist.
In einer realen Situation, zum Beispiel im Alltag, käme als vierter Schritt noch eine Bitte hinzu.
... übertragen in den Alltag
Diese vier Schritte könnten in einer realen Situation zum Beispiel so aussehen:
Erster Schritt – Beobachtung: Ich sehe, dass deine Kleider am Boden liegen.
Zweiter Schritt – mein Gefühl dazu: Ich bin verärgert.
Dritter Schritt – welches Bedürfnis steckt dahinter? Ordnung ist mir wichtig.
Vierter Schritt – eine Bitte, in diesem Fall eine sogenannte Handlungsbitte: Kannst du deine Kleider bitte wegräumen?
Barmherziger werden
Wenn ich mich frage, welche Bedürfnisse hinter den Handlungen oder Äusserungen meiner Mitmenschen stehen könnten, hilft mir dies, barmherziger und liebevoller mit ihnen umzugehen. Bei der Geschichte des barmherzigen Samariters sagt mir der zweite Blick auf den Priester und den Leviten, dass wohl auch hinter diesem Vorübergehen ein Bedürfnis steht. Vielleicht ist es beim einen das Bedürfnis nach Sicherheit, verbunden mit Gedanken wie «Räuber könnten auch mich ausplündern, wenn ich mich dem halbtoten Mann zuwende» oder Zuverlässigkeit – «Ich möchte zur vereinbarten Zeit am abgemachten Ort ankommen». Oder vielleicht will er sich schlicht an die Reinheitsregeln halten.
Diese zwei B’s – erstens nur beobachten und zweitens überlegen, welche Bedürfnisse hinter einer Handlung oder einer Äusserung stehen könnten – finde ich hilfreich, um dem anderen und mir selbst mit Empathie zu begegnen. Anders gesagt: Ich versuche, mit Nächstenliebe und Selbstliebe zu leben. Die Haltung dahinter ist: «Ich bin o.k., und du bist o.k.»
Sowohl als auch
Damit wir miteinander barmherzig und empathisch unterwegs sein können, braucht es also unter anderem folgende Doppelpakete: beobachten, Bedürfnisse erkennen sowie Nächsten-und Selbstliebe. Dieses Sowohl-als-auch fasziniert mich und tut mir gut – und hilft mir, mich immer wieder im zweiten Blick zu üben.
1 Die VBG (Vereinigte Bibelgruppen) sind Partner von insist consulting.
2 Version der Neuen Genfer Übersetzung
Schreiben Sie einen Kommentar